Das junge Deutschland (1891)

|[80]| VIII

Ohne diesen Mangel an poetisch-künstlerischer Empfänglichkeit würde Börnes Teilnahme an der, von mehreren unter den Wortführern der damaligen Zeit in Szene gesetzten Reaktion gegen Goethe nicht ganz erklärlich sein. Denn war auch sein Unwille gegen Goethe ursprünglich genug, so war er doch keineswegs Urheber Reaktion gegen Goethe; er fand sie vielmehr in vollem Gange vor. Fast gleichzeitig damit, daß man in pietistischen Kreisen sich über die falschen »Wanderjahre« des Pfarrers Pustkuchen mit ihre Angriffen auf die Gottlosigkeit des Heiden Goethe erfreute, begann man in der vorwärtsstrebenden politischen Jugend Untersuchungen über die politische Überzeugung Goethes zu billigen, welche an dieselbe den Maßstab der letzten Tage legten, und Schilderungen von Goethe als einem »Aristokraten«, der ohne Herz fürs Volk und in Wirklichkeit ohne Genie war, treffend zu finden.

Der erste, der in größerem Stil und mit durchgeführter Hartnäckigkeit eine lange Reihe von Jahren hindurch die Verkleinerung Goethes systematisch betrieb, war Wolfgang Menzel (geb. 1792), der noch nicht dreißig Jahre alt durch eine gewisse grobe, litterarisch Begabung, ungeheure Selbstsicherheit im Auftreten und strammen Doktrinarismus als Liberaler, Nationalgesinnter und Moralist sich zu einem großen und gefürchteten Einfluß aufgeschwungen hatte. Wie Börne ging er ursprünglich von Jean Paul aus. Aber seine zu jener Zeit angesehnen »Streckwerfe« (1823), die unzweideutige Nachahmungen dieses Vorbildes sind, übertreiben die Jean Paulsche Art

trinarismus als Liberaler, Nationalgesinnter und Moralist »Hm-m msnkzpn nnd sit-fürchteten Exianan auflleschWUUclcU hatte |81| des Geistreichseins bis zur Karikatur. Dinge, die nicht in der entferntesten natürlichen Verbindung miteinander stehen, werden zu einem Aphorismus zusammengezwungen, ungefähr wie in einem Kalauer einander gar nichts angehende Vorstellungen zu einem Wortspiel zusammengekoppelt werden. Er schreibt: »Allerheiligen geht vor Allerseelen, die Propheten haben den Himmel eher als das Volk.« — »Die Religion des Altertums war die Kristallmutter vieler glänzender Götter, die christliche ist die Perlmutter eines einzigen aber un- schätzbaren Gottes.« »Das Erdenleben ist eine Bastonade.« »Jede Kirchenglocke ist eine Taucherglocke, unter welcher man die Perle der Religion findet.«

In seinem Litteraturblatt »Deutsche Litteratur« begann er vom Jahre 1819 an eine mit wahnsinniger Einbildung und felsenfestem Glauben an die Berechtigung des Angriffs geführte Polemik gegen Goethe. Zunächst versuchte er bei der Lesewelt die Bewunderung für Goethes Originalität zu untergraben; er bestrebte sich in Goethes Werken die Nachahmung eines Vorbildes oder doch geliehene Gedanken aufzuspüren und überall fremden Einfluß nachzuweisen.

In seinem ersten zusammenhängenden, litterarhistorischen Werke »Die deutsche Litteratur«, das 1828 in zwei Teilen herauskam, wirft Menzel in einem überlegenen Tone Goethe u. a. vor, daß er allen Vorurteilen und Eitelkeiten des Zeitalters geschmeichelt habe. Er beschränkt Goethes Fähigkeiten aus die einfache Darstellungsgabe, »auf das Talent«, welches seinem Wesen nach ohne inneren Halt, »eine Hetäre, die sich jedermann preisgiebt«, sei. Goethe habe immer mit dem Strom und wie Kork auf dem Strom geschwommen, er habe jeder Schwäche und Thorheit gedient, wenn sie in der Zeit nur ihr Glück gemacht. Unter der glatten gefälligen Larve seiner Werke verberge sich eine raffinierte Genußsucht und Sinnlichkeit. Seine Dichtungen seien die Blüte des in der modernen Welt herrschenden Materialismus. Goethe besitze kein Genie, aber in höchsten Grade »das Talent, den Leser zu |82| seinem Mitschuldigen zu machen« u. s. w.*

*) Menzel, Die deutsche Litteratur. Zweiter Band S. 205-222.
Heine, der unkritisch genug war, in einer Rezension dem Werk und seinem Verfasser Lob zu erteilen, das er bald bereuen sollte, schrak doch zurück vor der Menzelschen Lehre, »Goethe sei kein Genie, sondern nur ein Talent«. Er spricht die Ansicht aus, daß diese Lehre nur bei wenigen Eingang finden werde, und selbst diese wenigen würden doch zugeben, daß Goethe dann und wann das Talent habe, ein Genie zu sein.*
*) Heine, Sämtliche Werke. Dreichzehnter Band S. 285.

Sowohl in zahlreichen Artikeln in Zeitschriften, wie in seinem, bis zum doppelten Umfang in neuer Auflage vermehrten Werke über die deutsche Litteratur setzte Menzel die Kanonade fort. Er wies bei Goethe dreierlei Eitelkeiten und sechserlei Wollüssteleien nach. Er ging seine größeren und kleineren Werke eins nach dem andern durch, um sie mit seinem moralisch-patriotischen Maßtabe zu messen und sie erbärmlich zu finden. Clavigo verdammt er, weil bei Goethe Elavigo Marie verläßt. Es nützt nichts, daß der Dichter ihn durch die Hand ihres Bruders sterben läßt, im Gegenteil teil, dies empört Menzel noch mehr, weil er weiß, daß Clavigo in Wirklichkeit lustig weiter lebte, was seinen Tod aus der Bühne zu einem bloßen Theatertod macht.*

*) »Der Dichter . . . fühlt zwar, daß das Schicksal ins Mittel tretten müsse, und läßt den Verräter durch eine rächende Bruderhand fallen; wieviel mehr muß uns aber dieser Theaterstreich indignieren, wenn wir wissen, daß der berühmte Liebhaber in der Wirklichkeit lustig fortgelebt, um das Unglück zu beschreiben, welches er angerichtet.«
Der Kritiker muß, wie man sieht, sein das Drama als solches nichts angehendes Wissen zu nehmen, um dasselbe genügend unmoralisch zu finden. »Tasso« ist ihm Goethes Höflingsbekenntnis, worin er die Eitelkeit des Emporkömmlings verrät, welcher in den Frauen zugleich das Vornehme, das Königliche begehrt. Was Menzel Moralisches vorbringer kann über »die Mitschuldigen«, »die Geschwister«, in welchem Schauspiel |83| »die Wollust nach der schönen Schwester schielt«, über «Stella«, wo «der Raffiniertheit nach dem Reiz der Bigamie gelüstet«, und über den «Mann von fünfzig Jahren«, der der besondere Gegenstand seines Hasses ist, kann sich der Leser mit Leichtigkeit vorstellen. Aber sogar «Wilhelm Meister« ist ihm nur eine Umschreibnng von Goethes unwürdiger Geringschätzung der inneren Würde der Tugend und von Goethes Streben nach den äußeren Verhältnissen des Adelstandes.*
*) »Geadelt zu werden, im Reichtum zugleich den haut goût der Vornehmlichkeit in behaglicher Sicherheit zu genießen, war ihm für dieses Leben das Höchste«
Endlich sind Menzel »die Wahlverwandtschaften« der Typus eines »Ehebruchsromanes«; dieser Roman behandelt »die Wollüstelei, die das Fremde begehrt«. Ja, »die Braut von Korinth« ist nur der Ausdruck jener Wollust, die sogar noch in den Schauern des Grabes, in der Buhlerei mit schönen Gespenstern einen haut goût des Genusses sucht.

Wo es unmöglich ist, die Beschuldigung der Unsittlichkeit anzubringen, kehrt Menzel zu der Beschuldigung des Mangels an Originalität zurück. »Hermann und Dorothea« ist nicht nur eine untergeordnete Arbeit, eine der Spießbürgerlichkeit dargebrachte Huldigung, sondern eine direkte Nachahmung der Vossischen »Luise.« In Wahrheit original, meint Menzel, sei Goethe nur im »Faust« und im »Wilhelm Meister« gewesen, weil er in diesen Werken sich selbst kopiert habe. Übrigens habe er in seiner Jugend von Molière und Beaumarchais, von Shakespeare und von Lessing geborgt, während seine späteren Jambentragödieen die Frucht seiner Rivalität mit Schiller seien. Außerdem war er, wie Gott und alle Welt weiß, kein Patriot.

Vergleicht man Börnes Angriffe auf Goethe mit denjenigen von Menzel, so entdeckt man, trotz der auch bei ihm vorhandenen Unbändigkeit des Ausdruckes, den großen Unterschied, daß Börne sich nicht darauf einläßt, Goethes Dichwerke zu beurteilen oder gar |84| zu verdammen, ebensowenig wie er sich zu den Beschuldigungen geschlechtlicher Unsittlichkeit herabläßt, sondern daß er sich immer auf den Sturmlauf gegen Goethe als politische Persönlichkeit schränkt. Saint René Taillandier hat richtig bemerkt, daß Börne allem, was er gegen Goethe auf dem Herzen hatte, Ausdruck gegeben hat, als er über seine Besprechung von Bettinas »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« als Motto jene Worte aus Goethes »Prometheus« setzte:

Ich Dich ehren? Wofür?
Hast Du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast Du die Thränen gestillet
Je des Geängsteten?

Von Goethes Werken verstand er zwar nur die zu schätzen, worin er das Feuer der Jugend fand, aber seine Angriffe beruhen nicht auf Geringschätzung der übrigen Werke, sondern aus dem Umstand, daß Goethe, der durch seine Gaben und sein Ansehen so gestellt war, niemals seine Persönlichkeit und seine Stellung für eine Verbesserung der wirklichen Lebensverhältnisse in Deutschland einsetzte. Es ist leicht genug aus Börnes Schriften thörichte Effektstellen herauszupflücken, wo er in die Menzelsche Tonart einstimmt z. B. wenn er in seinem Tagebuch von 1830 von Goethes beispiellosem Glück redet, daß er mit seltenem Talent sechzig Jahre lang die Handschrift des Genies nachahmen und unentdeckt bleiben konnte, oder wenn er Goethe den gereimten Knecht nennt, wie Hegel den ungereimten. Aber um diese wilden und bedauerlichen Ausbrüche zu verstehen, muß man sich die Anschauungen Börnes vergegenwärtigen, aus denen seine Anklagen gegen Goethe wie gegen Schiller entsprangen

Er ging von der (wahrscheinlich völlig falschen) Grundvorstellung aus, daß Goethe durch rechzeitigen und beherzten Protest die Karlsbader Beschlüsse verhindern, die Preßfreiheit und die andern |85| geistigen Güter, welche die Reaktion jetzt geraubt, dem deutschen Volk hätte sichern können. Aber ganz besonders ging er von der Überzeugung aus, daß es, gleichgültig, wie das Resultat geworden, die Pflicht Goethes gewesen sei zu protestieren. Was sah er statt dessen? Er sah »den Geheimrat von Goethe, den Karlsbader-Dichter,« wie er, mit einem beißenden Wortspiel auf Goethes jährliche Karlsbader Kuren, ihn nennt, sich selbst als Diener unter den andern Dienern seines Fürsten (» wir sämtlichen Diener«) bezeichnen, sah ihn in seinen »Tag- und Jahresheften« eingestehen, daß er durch das kleine schlechte Stück »der Bürgergeneral« den Weimaranern seinen Abscheu vor der französischen Revolution beibringen wollte, indem er die ganze Freiheitskomödie darauf hinaus gehen läßt, den Bauer Martin um einen Topf Milch zu prellen. Er hörte ihn bekennen, daß er, weit davon entfernt sich der Sache Fichtes anzunehmen, da dieser als Jenenser Professor beschuldigt wurde, Atheismus zu lehren, im Gegenteil einen gewissen Ärger über die Unannehmlichkeiten, welche diese Sache dem Hof bereite, gehegt habe, da »Fichtes Äußerungen über Gott und göttliche Dinge, über die man freilich besser ein tiefes Stillschweigen beobachtet«, Vorstellungen von außen veranlaßten. Er sah schließlich Goethe ausdrücklich die Störung der friedlichen Verhältnisse beklagen, welche die Ankündigung der Preßfreiheit in Weimar verursachte, als Okens »Isis« erschien — »und jeder wohldenkende Weltkenner die leicht zu berechnenden weiteren Folgen mit Schrecken und Bedauern voraussah«*

*) Börne, Gesammelte Schriften. Dritter Band S. 216, 217, 222.
In gleicher Weise fühlte er sich enttäuscht und gekränkt, wenn er las, wie Schiller, den er doch sonst so hoch schätzte, während der heißesten Tage der französischen Revolution in seiner Einladung zum Abonnement auf »Die Horen« die Wendung gebrauchte, daß die Zeitschrift vorzüglich und unbedingt alles ausschließen werde, was sich auf Staat, Religion und politische Ver|86|fassung beziehe. Erwußte und fügte hinzu, daß Goethe auch genau so sprach und dachte.

Das ist’s, was man vor Augen haben muß, wenn man seine glühenden Worte — glühend von einer Freiheitsbegeisterung, die ungerecht macht — über Schiller und Goethe liest, Klagen darüber, daß Deutschlands zwei größte Geister in ihrem Briefwechsel »so — nichts sind — nein weniger als nichts, so wenig«, daß sie überhaupt das find, was für ihn, den überzeugten Demokraten das Schlimmste ist, zwei große Aristokraten, und zwar Schiller ein noch schlimmerer Aristokrat als Goethe, denn Goethe liebt die vornehmte Kaste, Schiller aber zecht nur mit dem Adel der Menschlichkeit. Nach seiner Auffassung hätte Goethe ein Herkules sein können, um das Vaterland von großem Unrat zu befreien; aber er holte sich bloß die goldenen Äpfel der Hesperiden, die er für sich behielt.*

*) Börne. Erster Band S. 563. 568. 572
Er vergleicht ihn in Gedanken mit den großen politischen Geistern anderer Länder, mit Dante, der für das Recht sang und kämpfte mit Alfieri, der die Freiheit predigte, mit Montesquieu, der die persischen Briefe schrieb, mit Voltaire, der allem trotzte und all seine Beschäftigungen aufgab, sobald es galt, einem Verfolgten zu Hilfe zu kommen oder die Ehre eines unschuldig zum Tode Verurteilten zu retten, mit dem Republikaner Milton, mit Byron, dessen Leben ein Kampf war gegen kluge und dumme Tyrannei, und er ruft Goethe vor den Gerichtshof der Nachwelt. »Sie, die furchtlose, unbestechliche Richterin, wird Goethe fragen: Dir ward ein hoher Geist, hast Du je die Niedrigkeit beschämt? Der Himmel gab Dir eine Feuerzunge, hast Du je das Recht Verteidigt? Du hattest ein gutes Schwert, aber Du warst nur immer Dein Wächter.«*
*) Börne. Erster Band S. 573.
Niemand wird leugnen wollen, daß Börne hier auf schwache Punkte in der Größe Goethes und auf die Grenzen seines Wesens |87| hingewiesen hat, wenn auch behauptet werden muß, daß gewisse Vorzüge Goethes nur durch diese Mängel erkauft werden konnten, und daß er allein schon deshalb, um nicht durch die Vielseitigkeit seines Genies zersplittert zu werden, sich eine strenge Begrenzung auferlegen mußte. Es lag nicht in Goethes Natur, das zu thun, was Börne von ihm forderte. Man muß aber das relative Recht Börnes verstehen, um ihm die heftigen und dummen Ausdrücke zu verzeihen, in welche er seinen Unwillen gegen Goethe in den Jahren kleidete, wo erst die Unterwerfung der französischen Regierung unter die Börsenmatadore, sodann die Unterdrückung des polnischen Aufstandes die Hoffnungen der Freisinnigen auf die Beeinflussung der Verhältnisse in Europa durch die Julirevolution niederschlugen, und wo Börnes Gemüt bitterer und leidenschaftlicher als je zuvor geworden war. Er bezeichnet nun Goethe als eine ungeheuere, hindernde Kraft, als einen grauen Star im deutschen Auge: »Seit ich fühle,« schreibt er, »habe ich Goethe gehaßt; seit ich denke, weiß ich warum. Es ist mir, als würde mit Goethe die alte deutsche Zeit begraben; ich meine, an dem Tage müsse die Freiheit geboren werden« (20. November 1830.)

Den Siedepunkt erreichten jedoch seine Zornergüsse, als er im Oktober 1831, nach mehreren in Verzweiflung über den Gang der Begebenheiten verbrachten Tagen, unter dem bei diesem ewig Hoffnungsvollen doppelt schmerzlichen Eindruck, daß Frankreich verloren und die Reaktion siegreich war, Goethes Tages- und Jahreshefte las und über die »Gefühllosigkeit« des Verfassers entsetzt wurde. Bekanntlich erzählt Goethe hier, wie er 1790 während seines Aufenthaltes beim Heere in Schlesien einige Epigramme schrieb, daß er demnächst am »soldatischen« Hof in Breslau vergleichende Anatomie studierte und wie ein Einfiedler in diesem Studium verloren lebte, und schließlich, daß die Begebenheit, die ihn zu dem Studium veranlaßte, der Fund eines halbgeborstenen Schafsschädels war, den er eines Abends aus den Dünen des Lido gemacht hatte.

|88| Börne schreibt hierüber: »Was Goethe, ein reichbegabter Mensch, ein Dichter, damals in den schönsten Jahren des Leben er war im Kriegsrate, er war im Lager der Titanen, da wo vor vierzig Jahren der zwar freche, doch erhabene Kampf der Könige gegen die Völker begann — und zu nichts begeistert ihn dieses Schauspiel, zu keiner Liebe, zu keinem Hasse, zu keinem Gebete, zu keiner Verwünschung, zu gar nichts trieb es ihn an an als zu einigen Stachelgedichten, so wertlos, nach seiner eignen Schätzung, daß er sie nicht einmal aufbewahrte, sie dem Leser mitzuteilen. Und als die prächtigsten Regimenter, die schönsten Offiziere an ihm vorüberzogen, da . . . bot sich seinem Beobachtungskreise kein anderer, kein besserer Stoff der Betrachtung dar, als die vergleichende Anatomie. Und als er in Venedig am Ufer des Meeres luftwandelte — Venedig, ein gebautes Märchen aus Tausend und Eine Nacht; wo alles tönt und funkelt: Natur und Kunst, Mensch und Staat, Vergangenheit und Gegenwart, Freiheit und Herrschaft; wo selbst Tyrannei und Mord nur wie Ketten in einer schauerlichen Ballade klirren; die Seufzerbrücke, die Zehenmänner; es sind Szenen aus dem fabelhaften Tartarus — Venedig, wohin ich sehnsuchtsvolle Blicke wende, doch nicht wage ihm nahe zu kommen. denn die Schlange österreichischer Polizei liegt davor gelagert und schreckt mich mit giftigen Augen zurück — dort die Sonne war untergegangen, das Abendrot überflutete Meer und Land, und sie Purpurwellen des Lichtes schlugen über den selsigen Mann und verklärten den ewig Grauen — und vielleicht kam Werthers Geist über ihn, und dann fühlte er, daß er noch ein Herz habe, daß es eine Menschheit gebe, um ihn, einen Gott über ihm, und dann erschrak er wohl über den Schlag seines Herzens, entsetzte über den Geist seiner gestorbenen Jugend, die Haare standen ihm zu Berge und da, in seiner Todesangst, »nach gewohnter Weise, um alle Betrachtungen los zu werden« — — vertroch er sich in einen geborstenen Schafsschädel und hielt sich da versteckt, bis |89| wieder Nacht und Kühle über sein Herz gekommen! Und den Mann soll ich verehren? Den soll ich lieben? Eher werfe ich mich vor Fitzli-Putzli in den Staub; eher will ich Dalai-Lamas Speichel kosten!«

Sicherlich sollte Börne den Mann ehren, und gerade aus dem Grunde, weshalb er seine Verachtung für ihn ausspricht. Denn auf keinem Gebiete strahlt wohl sein Ruhm klarer als hier. Während Börne hier verrät, daß er, wie alle anderen Reisenden, in Venedig sich in nichtssagende Mondschein- und Sonnenuntergangs-Schwärmerei verloren, über die Seufzerbrücke und die Verwüstungen der Tyrannei und den Segen der Freiheit und alles, was tönt und funkelt, gefabelt haben würde — starrte Goethe dagegen auf einen Schafsschädel. Was war an dem? Er war geborsten, und mit dem unbewaffneten Seherauge, das in die Tiefen der Natur hinab drang, hinab in die innerste Werkstätte des Lebens, von wo die Formen der Dinge ausgehen, erblickte Goethe die große Wahrheit, die er schon im voraus geahnt hatte, daß sämtliche Schädelknochen aus verwandelten Wirbelknochen entstanden seien, machte also für die Osteologie eine Entdeckung, die mit derjenigen verwandt war, die er schon in seiner Schrift über die Metamorphose der Pflanze niedergelegt hatte; er legte mit anderen Worten den Grundstein zur philosophischen Anatomie, wie er die philosophische Botanik begründet hatte. Börne begriff nicht, daß dieser Geist, dessen Lebenswerk einer der Grundpfeiler zum Bau der modernen Welt wurde, hier durch seinen Sinn für die Einheit in der Verschiedenheit der Formen, durch seine heilige Einfalt an die ältesten Urheber der Wissenschaft des Altertums, an einen Thales, einen Heraklit, erinnert.

Börnes Angriffe aus Goethes Menschenwert können, wie man gesehen hat, nicht als gleichartig mit denjenigen Menzels betrachtet werden. Sie find nie boshaft, geschweige niedrig. Sie charakterisieren zwar Börne selbst viel schärfer als sie Goethe bezeichnen, aber sie berühren doch bisweilen wunde Punkte in dem Wesen des |90| großen Mannes, während sie, selbst wo sie am lautesten gegen den Umfang von Börnes Intelligenz reden, Zeugnis ablegen von der Reinheit seines Charakters. Sie haben nicht vermocht, die Bewunderung für Goethes Genie zu mindern. Es wäre ebenso ungreimt, Goethe mit Börnes falschem politischen Maßstab Von 1830, wie Börne selbst mit dem falschen deutschen Maßstab von 1870 zu messen. Das aber geschieht, wenn man ihn heutzutage zu dem schlechten Patrioten stempelt, wofür er Goethe hielt. Es war natürlich, es war notwendig, daß Börne Goethe gering schätzen mußte. Man versteht sein Nichtverstehen, ohne seinen Unwillen zu teilen. Und man kann in vollem Maß das brausende Pathos, die Sprünge und Blitze des Witzes in seinen Schriften schätzen, ohne jemals über die fiedenden und schimmernden Kaskaden seiner Prosa die Ausdehnung und die Tiefe jenes stillen Ozeans zu vergessen, der Goethe heißt.

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