Unter Verhältnissen und Einflüssen, wie die hier geschilderten, entstand die oppositionelle Litteratur zwischen 1820 und 1848. Wenn man eine so große Gruppe von Geisteserzeugnissen überschaut, so hat man natürlicherweise darin in aller Allgemeinheit eine Menge Aktenstücke darüber, wie die Menschen zu jener Zeit fühlten und dachten, in welche Formen ihre Kultur gekleidet war, welche Formen ihre Hoffnungen und Wünsche, ihre Menschenliebe und Freiheitsliebe, ihr Rechtsgefühl und ihr Staatssinn annahmen, und dann darüber, wie ihr Geschmack beschaffen war, das heißt, wie der schreiben mußte, der die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und lebendiges Interesse erwecken wollte. So wird unser historischer Wissensdrang in diesem Punkte befriedigt.
Demnächst entsteht unwillkürlich die Frage über den Wert dieser Litteratur. Was die philosophischen Schriften betrifft, wird dies zunächst eine Frage danach, ein wie großes Maß von neuen Wahrheiten sie umfassen. Oder betrachtet man sie, wie man nur allzuhäufig muß, als eine Art Von Schöpfungen der Phantasie, so entsteht die Frage über die Tragweite und Fruchtbarkeit ihrer Hypothesen. Für die dichterischen und teilweis für die verwandten, historisch schildernden Werke ist die Frage über ihren Wert dieselbe wie die Frage über ihre Schönheit, da wir unter Schönheit nichts anderes als den künstlerischen Wert verstehen.
Von der großen Anzahl der Schriftsteller einer Periode bleiben nun bekanntlich nach Verlauf von ein paar Menschenaltern immer |42| nur wenige übrig, die noch gelesen werden. Von einer ungeheuren Anzahl von Werken bleiben nur einzelne bestehen, welche man sich noch aneignet. Von den Geistern jener Periode sind nur sehr wenige in unseren Tagen außerhalb Deutschlands gekannt und gelesen. In Deutschland liest man natürlicherweise weit mehr, doch sind es immerhin verhältnismäßig nicht viele Werke der damaligen Zeit, die noch heute die Allgemeinheit beschäftigen.
Die erste, gröbste Kritik wird also von der Zeit also von'der Zeit ausgeübt: nach Verlauf von so und so vielen Jahren wird von dem oder jenem Schriftsteller nichts mehr verkauft, während von den Werken anderer beständig neue Auslagen erscheinen. Aber dies, daß ein Schriftsteller lange Zeit und in weiten Kreisen gelesen wird, ist noch kein unbedingter Beweis für seinen Wert. Das beweist nicht, daß er zu den besten, nur daß er zu den unterhaltendsten und verbreitetsten gehört. Die Verbreitung kann aber durch hohe Kultur und Seelenadel gehindert werden, obgleich diese Eigenschaften in der Regel die Dauer sichern.
Von all den Männern jener Zeit werden außerhalb Deutschlands heutzutage von den Denkern nur Feuerbach — doch wenig — und Schopenhauer stark studiert; aber dieser letztere hat erst einer weit späteren Periode die Geister beeinflußt, und alle beide Denker werden weniger des Inhalts, als der Originalität und Kühnheit des Stils wegen gelesen. Von den Dichtern jener Periode liest man außerhalb Deutschlands nur Heine stark und fortwährend. In Deutschland wird er wie die Brennnessel im Gemüsegarten der Litteratur beurteilt und betrachtet; die Historiker verbrennen sich ihre Finger an ihm und verwünschen ihn. In Litteraturgeschichten und Zeitungsartikeln wird seine Prosa als veraltet und seine Poesie als verkünstelt bezeichnet, während gleichzeitig seine Werke, jetzt wo sie Gemeingut geworden sind, in unzählichen Auflagen neu herausgegeben werden. Aber außerhalb Deutchlands lebt sein Ruhm nicht nur unangefochten, sonder er ist in steten Wachsen und |43| Steigen begriffen. Er beschäftigt die Gemüter in Frankreich wie ein Zeitgenosse. Er ist der einzige hervorragende fremde Dichter, den die Franzosen wie einen von den Ihrigen und zwar wie einen von ihren Größten betrachten. Kein fremder Schriftstellername kommt in französischen Büchern heutzutage fo häufig vor, wie der seine, und keiner wird mit größerer Bewunderung genannt, nicht einmal die Namen von Shelley oder Poe.
In großen Gemeinwesen wird nicht selten die Frage aufgeworfen, wie man zu verfahren habe, um sich eine ganz auserlesene Sammlung der hundert besten Bücher, die es in der Weltlitteratur gebe, anzulegen. Die Antworten lauten natürlich sehr verschiedenartig. Aber in allen romanischen und slawischen Ländern wird Heines Name einer der ersten auf den Listen sein. In England finden sich auf solchen Listen gewöhnlich neunzig englische Bücher und zehn fremde, aber Heinrich Heine ist unter diesen. Der Glaube, daß es hundert Bücher giebt, die zu lesen für alle Menschen die gleiche und zwar größte Bedeutung habe, ein Glaube, der von der protestantischen Vorstellung herstammt, es gäbe ein Grundbuch dieser Art, ein solcher Glaube ist ein kindlicher, und jene Frage ist nur insofern interessant, als sie beweist, was für ein ganz unpersönliches Bildungsideal dem Frager und denen, die so naiv sind, sich auf die Beantwortung einzulassen, vorschwebt. Lehrreich ist es indessen zu sehen, wie die Antworten in gewissen bestimmten Fällen in betreff Heines gelautet haben. Man erinnert sich vielleicht, wie erstaunt die deutsche Presse vor einigen Jahren war, als eine Menge englischer Listen veröffentlicht wurden und Heine unter allen deutschen Schriftstellern am häufigsten auf ihnen zu finden war; denn es gab Listen darunter, auf denen nicht ein einziges Buch von Goethe sich befand.
Dieser Weltruhm beruht jedoch nicht allein auf den Vorzügen Heines, sondern auch darauf, daß es große Partieen in seinen Werken giebt, zu deren Verständnis nur eine recht niedrige Kulturstufe |44| erforderlich, und zu deren Genuß auch seelischer Adel nicht notwendig ist, im Gegenteil, wo der seelische Adel den Genuß eher beeinträchtigen könnte. Aber sein Ruhm beruht nichtsdestoweniger reichlich ebensoviel darauf, daß sein poetisches Talent trotz alledem in seiner Richtung das größte unter den zeitgenössischen war.
Wenn sich nun der litterarische Wert des Kunstwerkes in s Widerstandskraft gegen die Zeit nnd in der Fähigkeit, sich Leser außerhalb seines Vaterlandes zu gewinnen, verrät, dieser Widerstand stand und diese Verbreitungskraft jedoch keinen Maßstab für Wert abgeben, worauf beruht dann dieser? Aus der Ursprünglichkeit wie der Stärke des Seelenlebens und der Gemütsbewegung, deren Ausdruck das Kunstwerk ist, im Verein mit der Fähigkeit des Werkes, gleichsam ansteckend uns diese Gemütsbewegung mitzuteilen. Alle Kunst ist ein Ausdruck einer Gemütsbewegung und hat zum Zweck, Gemütsbewegungen hervorzurufen. Je tiefer ein kostbarer Stein ausgeschnitten ist, desto schärfer, desto deutlicher erscheint das Bild im Wachs, wenn es abgedrückt wird. Je tiefer der Eindruck in der Seele des Künstlers war, desto deutlicher, desto bedeutender wird der künstlerische Ausdruck. Die Gemütsbewegungen eines Künstlers unterscheiden sich von denen anderer Menschen dadurch, daß sie in seiner Seele die Erinnerungen auf eine Weise formen, welche bewirkt, daß sie, einmal ausgeformt, den an Zuhörer, Zuschauer oder Leser anstecken.
Die Fragen, auf welche ein einzelnes Werk uns Antwort giebt, sind also etwa die folgenden: Wie weit reichte der Blick des Verfassers? Wie tief hat er es vermocht, in seine Epoche hine sehen? Wie eigentümlich hat er Freude, oder Trauer, oder Wehmut, oder Liebe, oder Begeisterung, oder Menschenverachtung gefühlt? Wir sagen: Ein so starkes Entsetzen und solchen Abscheu hat Dummheit oder Unrecht ihm eingeflöht. So beihend, so witzig hat er sich und uns an dem durch Dummheit oder Schlechtigkeit Verächtlichen gerächt. Wir empfangen von den Besten einen Eindruck von Hoheit |45| oder Größe, von Wahrheitsliebe oder Liebe zum Schönen; wir leiden unter der Unzulänglichkeit an Verstand, Gefühlstiefe, Schönheitssinn oder Charakterfestigkeit bei den Geringeren.
Diese Gruppe von Schriftstellern besitzt nun keine dichterische Größe allerersten Ranges, und nur eine von sehr hohem Range: Heine. Viel positiv Großes hat sie nicht hinterlassen. Sie wirkt meist negierend, befreiend, aufräumend, auslüstend Die Gruppe ist stark durch ihre Zweifel und ihren Haß gegen Knechtschaft, Überhaupt durch ihren Individualismus.
Niemals hat ihr Ansehen in Deutschland, besonders in Norddeutschland, so niedrig wie in unsern Tagen gestanden. Die Schriftsteller, die ums Jahr 1830 alle die Formen der Gewaltherrschaft bekämpften, die damals, so weit die deutsche Zunge klang, drückend empfunden wurde, sind in unsern Tagen von einer Unpopularität getroffen, die, wie es scheint, nicht so bald weichen wird. Es ist erklärlich. Denn das jetztlebende jüngere Geschlecht in Deutschland, das die Einheit des Reiches hinter sich sieht — eine Einheit, die damals als eine phantastische Hoffnung vorschwebte — und die Deutschland seine gesammelte Macht in schnell entschlossener, nach allen Seiten hin siegreicher Handlung sich entfalten gesehen hat, interessiert sich wenig für die alten Träumereien darüber, wie die Einheit zuwege gebracht werden sollte, und ist des ewigen Spottens jener Schriftsteller über deutsche Schläfrigkeit und Thatenlosigkeit, deutsche Pedanterie und deutsches Theoretisieren überdrüssig, da der Ausgang gezeigt hat, wie praktisch und beherzt das verspottete Deutschland auftreten konnte, sobald die Gelegenheit dazu ihm gegeben ward.
Besonders sind seit dem deutsch-französischen Kriege die Schriftsteller, welche vor einem halben Jahrhundert Frankreich immer auf Kosten Deutchlands erhoben oder stets betonnen, daß die Freiheit Deutchland die Güter bringen werde, welche Bismarck ihm gebracht hat, von einer Art Bann getroffen worden. Man betrachtet sie als schlechte Patrioten und schlechte Weisfager. Nur eine geringe |46| Minderzahl vermag es einzusehen, wie kräftig eben jene Verbitterung und jener Hohn über die damaligen erbärmlichen Zustände zu dem Umschwung und Aufschwung mitgewirkt haben, die gefolgt sind. Noch geringer ist die Zahl derjenigen, welche aus der Litteratur dreißiger und vierziger Jahre einen lebhaften Vorwurf herauslesen über verlassene oder vergessene Ideale, und die, wenn sie in alten jenen alten Schriften blättern, mit Wehmut sich fragen, was in dem neuen Zustand der Dinge aus dem Besten, wofür dieselben gekämpften worden ist.
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