Die klassische Litteratur Deutschlands um die Wende des Jahrhunderts war antikisierend in Stoff und Form gewesen; die romantische Litteratur, die ihr folgte, hatte in den Stoffen wie in den Formen das Mittelalter angebaut, beide hatten von der umgeben: den Wirklichkeit Abstand genommen, sich von dem Gegenwärtigen, von den politischen und sozialen Verhältnissen der Zeitgenossen fern gehalten; weder die eine noch die andere dieser Litteraturgruppen hatte direkt eine Umformung derselben erzielt. Das Ideal schwebte entweder im tiefblauen Äther Griechenlands oder in dem katholischen Himmel des Mittelalters.
Jetzt wurde es resolut zur Erde herunter gezogen. Vor den Augen der Träumenden und Strebenden erschien das moderne Ideal, ein Ideal, das kein mystisches Element mehr hatte. Und mit einer Hast, einer Gewaltsamkeit, die allzuost die Prosaform journalistisch und die Poesie nur lyrisch oder rein fragmentarisch machte, gingen jetzt die oppositionell angelegten Dichter und Schriftsteller daran aus, das moderne Leben und dessen Inhalt in die Litteratur hineinzuziehen. Aber dadurch, daß dieses Zueignen und Einziehen unter Einnehmung einer Kampfstellung geschah, wurden Witz und Satire in Deutschland hervorragendere Mächte als je zuvor, während man, was Trotz und Sturm gegen das Bestehende betrifft, die Stimmungen und Inspirationen der Sturm- und Drangperiode wieder afugenommen zu haben schien. Es war ein mächtiger Freiheitsdrang, der zuerst Heine und Börne dahin brachte, der deutschen Litteratur |38| eine neue Bahn zu brechen, und der später die Schriftsteller entflammte, welche ihnen folgten und mit dem unbestimmten Namen »Das junge Deutschland« bezeichnet wurden.
Eine einzelne Erscheinung gab es inzwischen, die, obgleich ausländisch, oft genannt, häufiger ungenannt, mehr vorbildlid als irgend welche Gestalt der Vergangenheit im eigenen deutschen den Geistesleben wirkte: die Persönlichkeit und das Lebenswerk Lord Byrons. Für seine künstlerischen Schwächen und Mängel gingen erst spät den Deutschen die Augen auf. Nur Gutzkow kritisiert ihn verständig ungefähr vom Jahre 1835 an. Byron, den schon Goethe bewundert und geliebt hatte, zwar vorzugsweise wegen der Partieen seiner poetischen Werke, in welchen der alte Meister ihn von seinem Eigenen beeinflußt zu finden glaubte, er, mit seinem ungezügelten Trotz und seinem Thatendrang, mit seiner Verachtung der Unfreiheit, die sich in den sogenannten »Freiheitskriegen« gegen Napoleon verbarg, mit seinem Auftreten für alle unterdrückten Völker, seinem Aufruhr gegen das soziale Herkommen, seiner Sinnlichkeit und seinem Spleen, seiner leidenschaftlichen Freiheitsliebe auf allen gebieten, wurde nun, durch seinen Tod als Befreier verklärt, eine Personifikation von allem, was man vunter modernem Geist und moderner Poesie verstand.
Der Stolz Byrons und seine Verachtung politischer Unfreiheit begegnen uns bei Platen; sein aristokratischer Ton, sein Unwille gegen Vorurteile, seine Reiselust, seine Vorliebe für die Tierwelt und die Natur, seine Anmut und seine Kronie kehren bei dem Fürsten Pückler wieder. Wie unermeßlich sein Einfluß auf die Formung des dichterischen Ideals von Heinrich Heine gewesen, bedarf keines Nachweises, so schlagend wird es von jedermann empfunden, der mit dem Gang der neueren europäischen Litteratur vertraut ist. Aber merkwürdig und lehrreich ist es, zu beobachten, in welchem Lichte Byron vor dem ersten bahnbrechenden Geist der neuen deutschen Litteraturrichtung steht. Börne war ja eine von dem englischen Dichter vom Grund aus verschiedene Persönlichkeit. Man könnte also glauben, daß er an den frivolen und koketten Seiten von Byrons Individualität wie an den Schwächen Heines Anstoß genommen hätte. Er war weit davon entfernt. Man lese, in welchen Ausdrücken er nach dem Studium von »Byrons Leben« durch Moore sich über ihn ausspricht. Er nennt*
das Buch »Glühwein für einen armen deutschen Reisenden, der auf der Reise durchs Leben friert«. Er ist nah daran, vor Neid über diese Lebensführung krank zu werden.»Wie ein Komet, der sich keiner bürgerlichen Ordnung der Sterne unterwirft, zog Byron wild und frei durch die Welt, kam ohne Willkommen, ging ohne Abschied, und wollte lieber einsam sein, als ein Knecht der Freundschaft. Nie berührte er die trockne Erde; zwischen Sturm und Schiffbruch steuerte er mutig hin, und der Tod war der erste Hafen, den er sah. Wie wurde er herumgeschleudert; aber welche selige Insel hat er auch entdeckt! […] Das |40| ist die königliche Natur. .. König ist, wer seinen Launen lebt. Ich muß lachen, wenn die Leute sagen, Byron wäre nur einige und dreißig Jahre alt geworden; er hat tausend Jahre gelebt. Und wenn sie ihn bedauern, daß er so melancholisch gewesen! Ist es Gott nicht auch? Melancholie ist die Freudigkeit Gottes. Kann man froh sein, wenn man liebt? Byron haßte die Menschen, weil er die Menschheit, das Leben, weil er die Ewigkeit liebte […] Ich gäbe alle Freuden meines Lebens für ein Jahr von Byrons Schmerzen hin.«
Wie man sieht, nimmt Börne nicht nur alles in Byron ernst, er sieht nicht einmal in ihm den Genußmenschen, der ihn Goethe gegenüber in so hohem Grade zurückstieß. Ja, was noch ausfallender ist, Börne findet seine eigene Natur mit der Byrons verwandt. Er schreibt: »Vielleicht fragen Sie noch verwundert, wie ich Lump dazu komme, mich mit Byron zusammenzustellen? Daran muß ich Ihnen erzählen, was Sie noch nicht wissen. Als Byrons Genius seiner Reise durch das Firmament auf die Erde kam, eine Macht dort zn verweilen, stieg er zuerst bei mir ab. Aber das Haus gefiel ihm gar nicht, er eilte schnell wieder fort, und kehrte in das Hotel Byron ein. Viele Jahre hat mich das geschmerzt, lange hat es mich betrübt, daß ich so wenig geworden, gar nichts erreicht. Aber jetzt ist es vorüber, ich habe es vergessens und lebe zufrieden in meiner Armut. Mein Unglück ist, daß ich im Mittelstande geboren bin, für den ich nicht passe.«
Worte wie diese geben ein starkes Zeugnis von dem Zauber, den Byrons Schatten noch auf die Gemüter der leitenden Persönlichkeiten ausübte.
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