In dieses Stillestehen, dieses Unterdrücktsein und diese Gärung von Elementen der Selbstaufgebung und Hoffnung, des Selbstbespottens und der Freiheitssehnfucht fiel im Jahre 1880 die Nachricht von der Julirevolution in Paris; sie wirkte auf das öffentliche Bewußtsein in Deutschland wie ein elektrischer Stoß. Aller Augen richteten sich auf Paris, und es war Begeisterung, was man in den geistig lebendigen Kreisen fühlte.
Man beobachtet vielleicht am schärfsten die Wirkung auf die Jüngsten.
Zwei Monate vor der Revolution hatte Karl Gutzkow, neunzehn Jahre alt, wie er war, seiner eigenen Erzählung zufolge noch keinen Begriff von europäischer Politik. Er wußte weder, wer Polignac war, oder was es hieß, la Charte (die französische Konstitution) zu kränken. Er wußte nur, daß die deutschen Burschenschaften trotz aller Verfolgungen noch am Leben seien, und daß es darauf ankäme, Deutschlands Einheit ins Werk zu setzen. Wenn er sich Umwälzungen dachte, die den Gang der Begebenheiten beschleunigen könnten, so erwartete er dieselben eher von Erlangen oder Jena als von Paris; höchstens dachte er sich die Möglichkeit, daß eine Schar heimkehrender Philhellenen in Stralsund landeteten, mit bewaffneter Hand sich der Stadt bemächtigen, die pommersche Landwehr zu den Waffen riesen, und daß die Bauern dann, vielleicht von Hungersnot getrieben, sich dem Aufstand anschließen würden.
|26| Um diese Zeit war der französische Publizist Saint-Marc Girardin nach Berlin gekommen, um die deutsche Sprache, das das deutsche Schulwesen, außerdem evangelische Theologie zu studieren, wie sie von Schleiermacher und Neander repräsentiert wurde, und Pietismus, wie er in Halle gedieh, kennen zu lernen. Als Mitarbeiter des Journal des débats bekam er regelmäßig das Blat aus Paris geschickt, und als Aspirant auf einen Ministerplatz verfolgte er eifrig den Fortschritt der Opposition in Frankreich. Gutzkow gab ihm täglich eine Stunde Deutsch; — sie lasen eine Komödie von Kotzebue, den der Franzose als Übungsstoff Goethe und Schiller vorzog, aber sie verfielen immer in Gespräche über P. Gutzkow machte Saint-Marc Girardin gegenüber kein Hehl daraus, welch geringe Gedanken er über die allgemeine politische Bedeutung der Verfassungsverhältnisse in dem französischen Staate hege, und er sprach offen der Burschenschaft in Jena größeren Einflus auf den Gang der Geschichte zu, als der Deputiertenkammer in Paris. Girardin gab lächelnd eine höfliche Antwort. Bisweilen wurden diese Gespräche durch Eduard Gans, den berühmten preußischen Professor, den bekanntesten Schüler Hegels in der juristischen Fakultät, den Freund Varnhagens und Heines, unterbrochen, der mit großer Sprachfertigkeit im Französischen sich an der politische Erörterung beteiligte und mit seinem schwarzen Wollhaar und seinem Backenbart für Girardin eine auffallende Erscheinung war.
Da Gutzkow den elegant gekleideten, geschmeidigen und spöttischen Professor vom Katheder herab über die Burschenbewegung scherzen und das spaßhafte Bekenntnis ablegen gehört hatte. daß auch er einstmals an den Ufern der Saale in Erwägung gezogen, wie man am besten Deutschland zu einer Kaiserkrone verhelfen könne, beschwor Gutzkow den französischen Politiker, nicht zu glauben, daß die deutsche Jugend wie Gans denke: »Sie wollen die Welt mit Sanskrit befreien.«
Am 3. August 1830 wurde in dem Festsaale der Universität |27| zu Berlin der Geburtstag des Königs mit Gesängen und Reden gefeiert. Die Studenten standen dicht gedrängt vor der Schranke, hinter welcher Professoren, Beamte und hohe Offiziere saßen. Der berühmte Philologe Böckh war der Redner, und über seinem Haupte fang der akademische Chor unter Leitung des Musikdirektors Zelter, des Korrespondenten Goethes. Der Rektor der Universität, der Jurist Professor Schmalz, ging mit Haarbeutel und Degen von Stuhl zu Stuhl, um mit den Honoratioren einige Worte zu wechseln. Gans hingegen war aufgeregt und ungeduldig; er ließ einige Briefe von Friedrich von Raumer, die gerade von Paris eingetroffen waren, im Saale von Hand zu Hand gehen. Der Kronprinz, der spätere Friedrich Wilhelm IV., faß lächelnd da, aber alle wußten, daß in Frankreich vor wenigen Tagen ein König vom Throne gestoßen worden war. Es war, als ob der Kanonendonner der Barrikaden in den Festsaal hineindröhne. Böckhs Rede Über die schönen Künste vermochte nicht die Aufmerksamkeit zu erregen, und als Hegel vom Rednerstuhl herab die Namen derjenigen nannte, die mit Erfolg die Preisaufgaben des Jahres gelöst, hörte niemand darauf als die, welche die Medaillen gewonnen hatten. Gutzkow selbst hörte zwar mit dem einen Ohr, daß er den Preis der philosophischen Fakultät gewonnen habe, aber mit dem anderen Ohr hörte er von einem Volk, das einen König abgesetzt, von Kanonenschüssen, von Hunderten, die im Kampfe gefallen waren. Selbst die Glückwünsche, die man ihm darbrachte, überhörte er, er öffnete nicht einmal das Futteral, das die goldne Medaille mit dem Bilde des Königs enthielt; er hatte die Hoffnung auf ein Professorat vergessen, die er an den Wunsch, sie zu gewinnen, geknüpft hatte; betäubt stand er da und dachte an Saint-Marc Girardin, an dessen Prophezeiungen und an seine eigenen über die deutsche Burgenschaft. Dann lief er nach einer Konditorei Unter den Lunden und las zum erstenmal in sinem Leben eine Zeitung mit Leidenschaft. Er konnte kaum das Erscheinen der Staatszeitung am selben Abend erwarten; nicht |28| weil er seinen Namen unter denen der Sieger im akademischen Wettkampf gedruckt sehen wollte, er wollte nur wissen, wie es in Paris aussah, ob die Barrikaden noch ständen, ob Frankreich Lafayettes Händen als eine Republik oder als ein Königtum hervorgehen würde. »Die Wissenschaft lag hinter mir, die Geschichte vor mir,« schreibt er.*
Und seine Gestalt ist typisch für die jüngste Generation im damaligen Deutschland - die Zwanzigjährigen.
Fast gleichzeitig mit dieser politischen Erwecknng Karl Gutzkows fand im Arbeitszimmer des einundachtzigjährigen Goethe das berühmte Mißverständnis statt, indem der Besuchende, der von dem Greis mit dem frohen Ausruf über die große Entscheidung in empfangen wurde, zu Anfang glaubte, daß Goethe die Julitage meine, und erst etwas später verstand, daß er über die Entscheidung des naturwissenschaftlichen Streites zwischen Cuvier und Saint-Hilaire zu gunsten des letzteren sprach. Lange genug hat man in diesem denkwürdigen Mißverständnis nur ein Symptom der Goeteschen Beschränkung dem Politischen gegenüber gesehen; es ist nur bilig auch die andere Seite jener bezeichnenden Anekdote hervorzusehen die berechtigte Überlegenheit des weisen Alten einer überschätzen politischen Begebenheit gegenüber. In Wirklichkeit war dieser naturwissenschaftliche Streit durch seinen Ideeninhalt wichtiger und seiner umformenden Wirkung auf das Aussehen der geistigen Weltkarte bedeutungsvoller als die französische Staatsumwälzung. Die Theorieen Saint-Hilaires über die Einheit der Typen sind ja Vorläufer von Darwins Werk »Über den Ursprung der Arten«. Aber das Bild von der Überwältigung des jüngsten Geschlechtes durch die politische Katastrophe in Frankreich tritt noch schärfer auf dem Hintergrund von Goethes Unangesochenheit hervor.*
|29| Tief war indessen der Eindruck auf die hervorragenden Individualitäten, die weder der jüngsten noch der ältesten Generation angehörten.
Die bedeutendste denkende Frau des Zeitalters, Rahel, die vorzüglichste Bewunderin Goethes, die zu dieser Zeit schon sechzig Jahre alt war, wurde, sensitiv wie sie war, sympathisch von der Revolution berührt. Sie als Frau interessiert die soziale Seite der Umwälzung mehr als die politische. Sie wird vom Saint-Simonismus ergriffen, empfindet mit jugendlicher Gesinnung, welche Keime er mit sich führt, und sie sieht in der Julibewegung die Einleitung zum Triumph der sozialen Ideen Saint-Simons.
Mit diesem belebenden und begeisternden Eindruck von der Julirevolution vereinigte sich ein anderer, der den Stachel der politischen Leidenschaft bei dem jüngeren Geschlechte schärfte, der Eindruck vom Ausbruch des polnischen Aufstandes. Man sieht es am deutlichsten bei Platen, der in stürmischer Erregtheit die poetische Aufforderung an den Kronprinzen von Preußen richtet, er möge sich der Sache des unglücklichen Polens annehmen — es hieß nämlich, daß der Kronprinz ihr günstig gesinnt sei. Platen dichtet seine Polenlieder, die einzigen von seinen Poesieen, in denen er sich zur Leidenschaft erhebt, stolze Freiheitsgesänge mit dem derbsten Hohn gegen den Selbstherrscher, dem wie einer Allmacht an den deutschen Höfen gehuldigt würde, und gegen diejenigen, welche sich von seinen Rubeln bestechen und kaufen ließen.
In Börnes Gemüt schlug die Nachricht von der Julirevolution wie ein Blitzstrahl ein.
Im Sommer 1830 hielt er sich im Bade Soden in der Nähe von Frankfurt auf, um sich von einem langwierigen Gichtfieber und mehreren Anfällen vom Blutsturz zu erholen. Sein »Tagebuch« zeigt, wie völlig alle seine politischen Hoffnungen erloschen und alle seine Wünsche verstummt waren. Eine Seele wie die seine, deren Sehnfucht nach Freiheit Leidenschaft war, und deren Hungern und |30| Dürsten nach Gerechtfertigkeit an seiner Lebenskraft zehrte, k zuletzt nicht mehr den Druck der politischen Reaktion ertrager
Er war nun 44 Jahre alt und hatte seit der Epoche der Freiheitskriege, d. h. als Jüngling und Mann, nur die Triumphe Schlechtigkeit und die Verfolgung von allem, was Rechtssinn und Freisinn war, erlebt. Er hatte nie sein Auge von dem Blatte Papier das er beschrieb, aufschlagen können, ohne die bleiche Furcht jeder großen Leidenschaft, vor Idealen, ja vor Jugend auf den Herrscherstühlen thronen zu sehen, Seite an Seite mit tierischem Selbsterhaltungstrieb und tierischem Schwelgen in Genüssen — das Prinzip Metternich und Gentz. Er hatte nicht das geringste von den überzeugungen seiner Jugend noch seiner Mannesjahre aufgegeben, aber Über der Welt hing ein Trauerflor. Es war ihm zu Mute als lebe er in Deutschland auf dem Grunde des Meeres, wo eine Taucherglocke ihm eben Luft genug gebe, um kärglichen Atem zu holen. In Paris hatte er frische Luft eingeatmet. Da hatte ihn das Licht der Sonne, die Menschenstimme, das Geräusch des Lebens entzückt. Jetzt fröstelte er wieder in der Tiefe unter Fischen. Er litt die entsetzlichste Langeweile. Die Stille machte ihn krank, die Auge machte ihn wund.
Er bezeichnet sich als eine von den Naturen, die »kein Sologeräusch« der Existenz ertragen. Er bedurfte »Symphonieen von Beethoven oder ein Donnerwetter«. Er war einer von den Menschen die in dem Zuschauerraum des Lebens »keine Loge für sich oder über sich« haben wollen. Er wollte »unten sitzen« mit der ganzen Schar um sich herum.
Es war ihm, als ob der Wert des Lebens in Deutschland unter der Erde in der Stille Mitternacht von Falschmünzern ausgeprägt würde. Die, welche in Deutschland arbeiteten, genossen nicht, und die, welche genossen, welche droben im Tageslichte die Lebenswerte, »das Werk dunkler Angst« im Umlauf setzten, die arbeiteten nicht. In Frankreich lebte ein Lebensfroher das Leben eines Kuriers,|31| der mit Depeschen an fremde Städte gesendet wird, immer an andere, und der auf seinen langen Reisen das Verschiedenartigste sieht und genießt, in Deutschland lebte er wie ein Postillon, der immer dieselbe kurze Reise zwischen zwei Haltestellen macht, und dem das Glück dafür ein armseliges Trinkgeld reicht. Freilich könnte der Postillon den Weg im Schlafe machen, er kannte ja jeden Stein auf diesen zwei Meilen, und das nannte man in Deutschland gründlich sein; aber Börne, der in Soden in dem kleinen Gasthof saß und den Kampf der Gänse, die Eifersucht der Truthähne und das Kokettieren der Truthennen im Hofe studierte, war wenig erfreut über die Gelegenheit zu seltener Gründlichkeit, die sich ihm darbot.*
Da bekam er die Nachricht, daß das Ministerium Polignac die Ordonnanzen erlassen, einen Verfassungsbruch begangen habe, und alles ahnend, was dieser Schritt zur Folge haben werde, brach er in die Worte aus: »Und Gott sagte, es werde Licht!«
Die Nachricht vom Ausbruch der Revolution erfolgte. Mit Ungeduld erwartete er jeden Tag die Stunde, wo die Zeitungen kamen. Er ging täglich auf die Landstraße hinaus und spähte nach der Ankunft des Postboten. Dauerte es ihm zu lange, so ging er sogar bis Höchst, von wo aus die Zeitungen gebracht wurden. Bald hielt er es nicht mehr in Soden aus. Er kehrte nach Frankfurt zurück und erstaunte, elektrisierte dort die Umgebung durch sein Feuer. Man erkannte den früher so wortkargen Börne mit dem leidenden Äußeren nicht wieder; es schien ein Wunder mit ihm geschehen zu sein; er war von neuem jung und gesund. Alle seine alten Träume schienen Verwirklicht, und alles, was er in der langen Zeit in seinem Innern hatte unterdrücken müssen, erhob sich wie die elastische Feder, wenn ein Druck entfernt wird.
Bald ertrug er auch nicht mehr den Ausenhalt ink Frankfurt; nicht lange nachher war er in Paris.
|32| Am 7. September schreibt er aus Straßburg: »Die erste zösische Kokarde sah ich an dem Hute eines Bauers, der von Straßburg kommend, in Kehl an mir Vorüber ging. Es erschien wie ein Regenbogen nach der Sündflut unserer Tage, als Friedenszeichen des versöhnten Gottes. Ach! und als mir die dreifarbige Fahne entgegenfunkelte — ganz unbeschreiblich hat mich das aufgeregt. Das Herz pochte mir bis zum Übelbefinden und nur Thränen konnten meine gepreßte Brust erleichtern . . . Die Fathne stand mitten auf der Brücke, mit der Stange in Frankreichs Erde wurzelnd, aber ein Teil des Tuches flatterte in deutscher Luft. Fragen Sie doch den ersten besten Legations-Sekretär, ob das nicht gegen das Völkerrecht sei. Es war nur der rote Farbenstreif der Fahne, der in unser Mutterland hineinflatterte. Das wird die einzige Farbe sein, die uns zu teil werden wird von Frankreichs Freiheit. Rot, Blut, Blut — ach! und nicht Blut auf dem Schlachtfelde.«
Börne ist hier nur Organ eines Gefühles, das den größten Teil der Vielen in Deutschland ergriffen hatte, die für Enth mus empfänglich waren. Der Heldenmut der französischen Polytechniker, Studenten und Arbeiter während les trois jours glorieux wurde wie in Frankreich selbst bewundert, und doppelt bewundert als Ausschlag einer Thatkraft, die, wie es schien, der deutschen Nation abhanden gekommen war. Überall war man dazu geneigt, sich übertriebenem Hohn zu verlieren über den eignen Mangel an politischem Sinn und Blick, über den eignen Mangel an Fähigkeit im entscheidenden Augenblick loszuschlagen.
Wirkten die Begebenheiten nun so stark auf Charakter wie Börne und auf Enthusiasten, wie sie sich besonders innerhalb des gelehrten Standes fanden, so wird das Bild vervollständigt, wenn wir den Eindruck beobachten, den es auf die Männer der Reaktion machte. Gentz, der von vornherein über die Energie Karls X. gejubelt hatte, wurde immer besorgter, je näher der Staatstreich heranrückte:
|33| »Die Ordonnanz gegen die Zeitungen und Bücher betrachte ich als ein kolossales Wagstück, dessen Ausführbarkeit mir noch nicht recht einleuchtet . . . Mit solchen Waffen darf man nur spielen, wenn man seiner Kraft und seiner Mittel gewiß ist. Leute wie Polignac und Peyronnet, wenn sie sich in diese Regionen versteigen, gehen zu Grunde.« Sobald sich indessen der erste Schrecken etwas gelegt hatte, begannen er und seine Geistesverwandten ihre weitverzweigte Wirksamkeit, um Vorteil aus jeder Blöße zu ziehen, die sich die politisch Freisinnigen gaben. Klug benutzt, könnten die Nachwirkungen der Julirevolution in Deutschland durch rücksichtslose Unterdrückung und Verfolgung, Zensur und Verhaftung die deutsche Freiheitsbewegung auf lange Zeiten brechen, und solchergestalt könnte die Revolution (wie Metternich ein paar Jahre später über das revolutionäre Hambacher Fest sagte) aus einem Feste der Schlechten ein Fest der Guten werden. Und wirklich, nur ein Jahr danach konnte Gentz, der bisweilen die Zukunft schwarz genug gesehen hatte, schreiben: »Nun fort mit allen schwarzen Gedanken! Wir sterben nicht, Europa stirbt nicht, was wir lieben, stirbt nicht. Wie viel bilde ich mir darauf ein, nie verzweifelt zu haben.«
Wie Metternich stilistischen Sinn genug hatte, um Börne zu bewundern, so war Gentz ein hartnäckiger Schwärmer für Heinrich Heine. Vor der Julirevolution war es eben noch möglich, Heine vorzugsweise als Dichter der unglücklichen Liebe und als poetischen Humoristen mit einem leichten Anstrich von Blasphemie und Leichtsinn aufzufassen.
Heinrich Heine verweilte im Sommer 1830 auf Helgoland, träumte an dem Strande, starrte hinaus übers Meer, lauschte auf das Plätschern der Wogen. Er hatte das Hoffen auf bessere Zeiten aufgegeben. Er las in den wenigen Büchern, die er mitgenommen hatte, im Homer, in der Bibel, in der Geschichte der Longobarden und er einigen alten Schriften über Hexenwesen. Er begriff kaum selbst, daß er noch vor kurzem in Munschen Redakteur der, »Poli|34|tischen gewesen war. Zwei Tage nach Beendigung der Julirevolution (die Nachricht davon war noch nicht nach Helgoland gekommen) schreibt er in einem seiner Briefe von dort, daß er jetzt beschlossen habe, alle Politik und Philosophie an den Nagel zu hängen, um sich ganz der Naturbetrachtung und der Kunst hinzugeben: all dieses Quälen und Abmühen sei doch nutzlos; wenn er sich auch noch so viel für das allgemeine Heil martere, so würde dies doch nur wenig dadurch gefördert. Die Welt bleibe zwar nicht im starren Stillstand, aber sie bewege sich im erfolglosesten Kreislauf. Als er noch jung und unerfahren war, hätte er geglaubt, daß, wenn auch im Befreiungskampf der Menschheit der einzelne Kämpfer zu Grunde gehe, doch die große Sache am Ende siegen müsse, nun sähe er ein, daß sich die Menschheit das Meer nach den Gesetzen von Ebbe und Flut bewege.
Wenn nun auch die Ausdrücke erst nachträglich arrangiert worden, wenn auch diese Briefe nicht echt sind, sondern ein Memoiren-Bruchstück, das nur um einer Kontrastwirkung willen später als Übergangspartie in das Buch über Börne *
eingeschoben wurde, so hat man hier doch zweifellos ein richtiges Bild von Heines Stimmung in jenen Tagen.Am 6. August schreibt er dann: »Ich saß gerade und las in Paul Warnefried, als das dicke Zeitungspaket mit den warmen, glühend heißen Neuigkeiten vom sesten Lande ankam. Es waren Sonnenstrahlen, eingewickelt in Druckpapier, und sie entflammten meine Seele bis zum wildesten Brand. Mir war, als könnte ich den ganzen Ozean bis zum Nordpol anzünden mit den Gluten der Begeisterung und der tollen Freude, die in mir loderte.« Es war ihm alles wie ein Traum, besonders klang ihm der Name Lafayette wie eine Sage aus der seiner frühesten Kindheit; er konnte es kaum fassen, daß der Mann, welcher die Großväter der jetzt lebenden|35| Generation in dem amerikanischen Freiheitskriege geführt hatte, nun von neuem als Nationalheld zu Pferde sitze. Ihm war, als müsse er selbst nach Paris, um das zu sehen.
Er schreibt in heftigem Pathos, den er jedoch gleich selbst mit seiner leichten Selbstironie dämpfen muß: »Lafayette, die dreifarbige Fahne, die Marseillaise . . . Ich bin wie berauscht. Kühne Hoffnungen steigen leidenschaftlich empor, wie Bäume mit goldenen Früchten und wilden, wachsenden Zweigen, die ihr Laubwerk weit ausstrecken bis in die Wolken . .. Fort ist meine Sehnsucht nach Ruhe. Ich weiß jetzt wieder, was ich will, was ich soll, was ich muß . .. Ich bin der Sohn der Revolution und greife wieder zu den gefeiten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zaubersegen ausgesprochen . .. Blumen, Blumen! Ich will mein Haupt bekränzen zum Todeskampf. Und auch die Leier, reicht mir die Leier, damit ich ein Schlachtlied singe . . . Worte gleich flammenden Sternen, die aus der Höhe herabschießen und die Paläste verbrennen und die Hütten erleuchten . . . Worte gleich blanken Wurfspeeren, die bis in den siebenten Himmel hinaufschwirren und die frommen Heuchler treffen, die sich dort eingeschlichen ins Allerheiligste . . . Ich bin ganz Freude und Gesang, ganz Schwert und Flamme, vielleicht auch ganz toll.«
Er erzählt unter anderm, daß der Fischer, der ihn einige Tage später hinüber zur Düne, wo man badet, ruderte, freudig lächelnd ihm die Neuigkeit mit den Worten berichtet habe: »Die armen Leute haben gesiegt!« Heine erstaunt über den richtigen Instinkt des Volks. Und doch war es gerade umgekehrt: die reichen Leute waren es, die gesiegt hatten, und die am Ende die Sieger blieben.
Aber schon eines Äußerung wie die zuletzt angeführte zeigt, wie die deutschen Schriftsteller die Julirevolution auffaßten. Sie flößte ihnen die religiösen Gefühle ein, mit welchem vierzig Jahre vorher die leitenden Geister des damaligen Deutschland die große Revolution umfaßt hatten. Sie war ihnen nicht ein Ausdruck der |36| Stärke der liberalen Bourgeoifie und ihrer Fähigkeit, die niederen Klassen für sich arbeiten und bluten zu lassen, sondern im meinen das Signal zur politischen, ökonomischen und religiösen Befreiung des Menschengeschlechtes. Sie war ihnen die Großthat, die mit einem Schlage das Joch von dem Volke und den von Druck den Gemütern abschüttelte.
Einer von den vorzüglichsten unter den radikalen Schriftstellern der vierziger Jahre, Robert Prutz (damals erst vierzehn Jahr hat 1847 vortrefflich diesen Eindruck wiedergegeben. Seit fünfzehn Jahren, sagt er, hatte es ausgesehen, als wäre die ewige Zeugungskraft der Weltgeschichte erlahmt. Fünfzehn Jahre hindurch hatte man gebaut und gekittet, Kongresse gehalten, Bündnisse gestiftet, das Netz der Polizeiherrschaft über Europa verbreitet, Kett geschmiedet, Gefängnisse bevölkert, Galgen errichtet — und drei Tage hatten hingereicht, um einen Thron zu stürzen und alle Throne zittern zu machen. Es war also nicht wahr, das Ungeheure mit die Fürsten geprahlt, und das die Hofromantiker besungen hatten.*
Das tausendjährige Reich der heiligen Allianz hatt fünfzehn Jahre gewährt. Es schien daher, als müsse jetzt ein neuer Frühling auch in dem politischen und geistigen Leben des deutschn Volkes erstehen.Du kan slå ord fra Brandes' tekst op i ordbogen. Aktivér "ordbog" i toppen af siden for at komme i gang.