Das tiefste Merkmal für das, was in den vierziger Jahren den Namen Bewegungslitteratur erhielt, ist der Mangel jedes Verhältnisses zum offiziellen Deutschland. Das ist es, was ihre Stärke ausmacht, und was ihr die Frische mitgeteilt hat. Unter dem offiziellen Land oder Volk darf hier nicht eine kleine abgegrenzte Welt, ein Ding für sich, verstanden werden, als ob nur auund Hof- und Regierungskreise angespielt würde, nein, der ganze Teil des Volkes, welcher unter normalen Verhältnissen das ganze Volk zu sein scheint, und alles das, was dem Volke entspringt, mit der nationalen Marke stempelt und alle Großthaten in der Vorzeit mit demselben Gepräge gestempelt hat. Mit all diesem, das ein spätere Zeit Bildungsphilisterei genannt hat, stehen die repräsentativen Männer dieses Zeitraumes in gar keiner Berührung. Ein entsprechende Gruppe von Persönlichkeiten und Dichtungen find sich innerhalb der Litteratur der drei skandinavischen Reiche nicht. Im Norden wurde selbst die oppositionelle Studentenlyrik nach Verlauf ganz weniger Jahre offiziell. Die hervorragendsten deutschen Dichter dieses Zeitraumes sind unabhängig oder machen sich unabhängig vom offiziellen Deutschland und tragen männlich dies Folgen davon.
Unter denen, welche sich unabhängig machen, ist Freiligrath der interessanteste. Er wurde in Detmold im Hajre 1810 geboren; er ist der blonde, blauäugige Sohn Wesfalens, schwier und robust mit seiner dichten Mähne. Er ist der Sohn eines Schullehrers |405| und wird gegen seine Neigung zum Kaufmann erzogen; er verdankt jedoch diesem Umstand die Freiheit von klassischen Reminiszenzen, die Bildung durch moderne Litteraturen allein, den Sinn für ferne Gegenden und Klimate, welche der Welthandel in gegenseitige Berührung bringt, und das entschieden moderne Gepräge seines Geistes.
Freiligrath ist nicht, wie sein Vorgänger in der politischen Poesie, Hoffmann von Fallersleben, nur ein fruchtbarer Liederdichter, er ist ein wahrer, inspirierter Poet. Hoffmann, der, selbst eine naive volkstümliche Seele, die alten deutschen Volkslieder studiert hatte, war unerschöpflich in seiner melodieenreichen Polemik gegen Junkerwesen und Büreaukratie, aber er wiederholte sich mit der Einförmigkeit des Volksdichters. Freiligrath hat verhältnismäßig wenig geschrieben, aber jedes seiner Gedichte hat eigene Individualität. Er ist von der neueren französischen und englischen Poesie, aus welcher er so zahlreiche und vorzügliche Übersetzungen geliefert hat, beeinflußt, und er debütiert als erzählender Poet von der Schule Victor Hugos, entwickelt jedoch schnell sein eigenes Gepräge. Er hat in sehr hohem Grade zwei Eigenschaften, die sich selten vereinigt finden: die Fähigkeit, zu malen, und die Innigkeit des Gefühls. Kraft der einen Gabe vermag er Gegenstände aus fremden Weltteilen mit glühendem Kolorit zu schildern, kraft der anderen wurde er der Sänger des Heimatlandes und des häuslichen Lebens. In seiner politisch revolutionären Periode wurde die Innigkeit zum mächtigen Pathos und die Gabe der anschaulichen Ausmalnng ging ganz im Dienste des Zorns, der Kampflust und der Entrüstung auf.
In seiner Jugend (1831) empfing er in Amsterdam tiefe Eindrücke vom Meere und von der Schiffahrt. Er folgte in seinen Träumen den vielen Schiffen, welche aus dem Hafen hinausglitten, um nach Afrika, nach Indien, nach der Türkei, nach Amerika zu fegeln. Dadurch entstand die Reigung, die Natur dieser Länder, wie sie sich in in seiner Phantasie aufbaute, zu schildern; und Hugos »Les Orientales« lehrten ihn nicht nur die Farben kennen, |406| womit solche Stoffe dargestellt werden mußten, sondern gabet ihm auch die metrische Form. Er allein von den modernen deutschen Dichtern versucht es, den Alexandriner der Franzosen, dies in Deutschland so verachtete Versmaß, sich anzueignen und dessen Schönheit zu behaupten. Sonderbarerweise fehlte ihm mit seinem sonsts entwickelten metrischen Sinn in dem Grade das Ohr für die Eigentümlichkeit des Alexandriners, daß er ihn immer durch reine Jamben wiedergiebt, ein Verfahren, das in Deutschland noch heutzutage geübt wird, obgleich es im Norden längst aufgegeben ist.
Sein Gemüt beherrschte die Sehnsucht nach dem Weltmeet und über das Weltmeer hinaus. Im Gegensatze zur damaligen deutschen. Dachkammerpoesie gab er — von seiner Kammer aus — Bilder aus den Wüsten Afrikas und aus den amerikanischen Urwäldern. Er strebte nach tropischer Lokalfarbe, bisweilen mit Erfolg, mitunter auch geschmacklos, wirkte sprachlich besonders durch neue, eigetümliche Reime, Reime aus prangenden und schallenden Fremdwörtern, wie »Sykomore«, »Trikolore« u. s. w. Seine Verse glichen digen Kolibris, wenn sie gelangen — ausgestopften Kolibris, wenn ihre Pracht leblos erschien.
Aber dieser afrikanische Freiligrath ist nicht der beste, der nationale und freisinnige Freiligrath ist mehr wert. Als Herweghs politische Herausforderung ihn aufgeweckt hatte, ging er in sich, legte sich naiv und ehrlich Rechenschaft ab von seinen ihm selbst bis dahin nicht ganz bewußten Sympathieen und Tendenzen und fand dann im Innersten seines Wesens einen unbezähmbaren Freiheitsdrang und ein Mitleid mit den Unterdrückten, das in Haß und erschütternde Erbitterung ausschlagen konnte. Sein Genius beschritt die revolutionäre Bahn und ging auf ihr im Sturmschritte vorwärts, bis er seine Flügel entfaltete und flog. Und von den Lippen des Dichter erklangen Marseillaisen. O, diese Hymnen von Freiligrath aus dem Jahre 1848, sie sind die Begeisterung selbst, die begeisternde Begeisterung! Es findet sich eine Wildheit, ein Glaube, eine revo-|407|lutionäre Religiosität, eine flammende Ironie, ein jubelnder Siegesrausch in den ersten von ihnen, die edelste Verzweiflung, sublim in ihrem Ausdruck, in den letzten.
Aber auch die leidenschaftlichen Gedichte, die der Revolution vorangehen, sind wert gelesen zu werden. So z. B. die Sammlung »Ça ira« aus dem Jahre 1846. In jedem der verschiedenen Gedichte, aus welchen sie besteht, ist ein einzelnes anschauliches Bild durchgeführt. In dem ersten stößt ein Fahrzeug vom Lande ab, dessen Name Revolution ist; es ist der große Brander, der Raketen in die scheinheilige Jacht der Kirche wirft und dann mit seiner Kanone gegen die silberne Flotte der Reichen zielt. In einem anderen wird mit einem Thomas Moore entliehenen Motiv die Despotie als der Eispalast dargestellt, welcher um die Frühjahrszeit berstet und schmilzt. Im Gedichte »Wie man’s macht« wird mit ansteckender Leidenschaft die Erstürmung des Zeughauses in einer Hauptstadt so dramatisch lebendig geschildert, daß man alles vor sich sieht, als wäre man mit dabei. Wie die Revolution, die er vorausahnt, näher und näher herannaht, wird seine Dichtung immer gegenwärtiger. Er schildert einen Rheindampfer, der den König und die Königin von Preußen an Bord führt« Der Dampfer erinnert an die deutsche Gesellschaft. Oben auf dem Verdeck genießt die seine Welt die frische Luft, den klaren Sonnenschein, die schönen Rheinlandschaften; aber drunten an der Maschine steht der Proletarier als Maschinist und als Heizer, Herr des Vulkans, der das Schiff treibt und im Gange hält. Ein Ruck, ein Schlag von ihm und das ganze Gebäude, an dessen Spitze der König steht, stürzt zusammen, das Verdeck berstet, die Flammen schlagen aus — doch du böses Element, noch nicht heute! — Aber in einem Gedichte wie »Freie Presse« greift der Dichter dem Gang der Begenheiten vor: der Aufruhr soll losgehen, noch ein Tag, und es wird in dem Straßen gekämpft. Der Besitzer der Buchdruckeri sagt zu seinen Leuten: Zum Schießen braucht man Blei, aber dem Volke fehlt |408| Munition, nun gilt es denn, aus den metallenen Alphabeten Kugeln zu gießen, und bald fließt und zischt die glühende Masse in die Kugelformen. Die Zeiten sind so, daß die Typen jetzt nur als Kugeln die Menschheit befreien können.
Die Tage des jungen Deutschland waren vorbei, aber man empfand es, als wäre Deutschland selbst nun jung geworden.
Einen Gegensatz zu Freiligrath bildet durch die Solidität seiner Bildung Robert Prutz (geboren zu Stettin 1816). Er ist ein kritisch, historisch, philosophisch gebildeter Geist, der sich nach vielen Richtungen hin versucht hat, aber doch nur als politischer Dichter von bleibender Bedeutung ist. Von Anfang an war er ein feuriger Mitarbeiter an Ruges Halleschen Jahrbüchern, und zeitig wurde er mit Landesverweisung bestraft. Er ist der Feuerbachianer unter den Dichtern. Er kann zwar in seiner politischen Lyrik ein wenig trocken und phantasielos werden, weil er sichs so nah wie möglich an die Wirklichkeit hält, aber seine zugleich nüchterne und begeisterte Freiheitsliebe spricht an. Wer ihn einmal lieb gewonnen hat, wird ihn immer lieb behalten, wird sogars seine spätere, als sensualistisch dumm verketzerte Gedichtsammlung »Aus der Heimat« in hohem Grade schätzen; nur sollte er nicht die unglaubliche Geschmacklosigkeit begangen haben, in diese Sammlung ein Widmungsgedicht an seine Frau aufzunehmen.
Das Wertvollste, was er hervorgebracht hat, ist »Die politische Wochenstube« (Zürich 1845), ein kleines aristophanisches Meisterwerk, in welchem es Prutz, dem wärmsten Bewunderer, welchen der Däne Holberg in Deutschland gefunden, geglückt ist, den Witz und den Spott der jüngeren Generation, ihr ganzes Streben und all ihre Hoffnungen, zusammenzudrängen.
Diesem klassisch gebildeten Dichter stand es natürlich an, die aristophanische Form aufzunehmen; leider hat er sich zu streng an sie gehalten. Das Stück ist dadurch ein Kleinod für einen ausgesuchten Leserkreis geworden, anstatt Nahrung fürs Volk abzugeben. |409| Es ist das Werk eines hoffnungsvollen Träumers: sein Glaube an eine strahlende Zukunft Deutschlands war gerade so lebhaft und mächtig, wie seine Freude am ironischen Niederreißen des Hinfälligen und Morschen; wenn die burlesken Figuren und Einfälle hier wie auf einem idealistischen Goldgrunde hervortreten, so geschieht es, weil der Dichter die Sonne der Zukunft hinter ihnen ausgehen und scheinen sah.
Das Drama beginnt vor dem Hause eines Arztes, der einer Art privater Entbindungsanstalt vorsteht, zu welcher junge Damen aus den höheren Stauden bisweilen ihre Zuflucht nehmen. Aber in der letzten Zeit geht es schlecht mit dem Geschäfte Er hatte gute Tage, als das Muckertum noch in Königsberg florierte; denn Gottes Segen erwies sich mächtig an den Frommen und »die Busenkreuzbetastelei«, die vielen schwärmerischen Umarmungen, trugen Frucht; seit aber die Staatskirche feindlich gegen den Pietismus aufgetreten ist, stehen seine Kammern leer. Es bleibt ihm bald nichts anderes übrig, als Mitarbeiter an der preußischen Staatszeitung zu werden, denn wer nirgends sonst zu gebrauchen ist, findet bei diesem Institut noch sein Brot. Sein Diener Kilian ist hungrig, ihn verlangt nach Essen. Der Doktor rät ihm, seinen Magen exstirpieren zu lassen und zieht schon das Messer hervor: dann wird er niemals mehr hungern, und welche Verdienste würde er er sich nicht um die Menschheit erwerben, wenn er den lebendigen Beweis dafür lieferte, daß sich eine solche Operation ausführen läßt! Denn an welcher Klippe scheitert heutzutage die Tugend? Warum nahm Freiligrath die königliche Pension an? Weshalb läßt sich Dingelstedt brandmarken? Der Magen ist es, alles geschah um des Magens willen.
Das Gespräch wird unterbrochen, denn als Bettler verkleidet nähert sich Schlaukopf. Er deklamiert im Stil des Ribelungenliedes etwas Patriotisches über den Cherusker Hermann, sammelt zu einem Denkmal für den Nationalhelden. und als der Doktor |410| unvorsichtig genug ist, diese Statue eine Vogelscheuche, ein Ungetüm, ein Männeken-Pis der Freienrheinbegeisterung mit einem Lerchenspieße zu nennen, erklärt ihm Schlaukopf, das solle er wenigstens mit zwölf Jahren Zuchthaus entgelten. Als sie ins Handgemenge kommen, behält der Doktor die falsche Nase Schlaukopfs in der Hand, und erkennt in ihm seinen Jugendfreund, vormaligen Sozialisten und Freiheitssänger, Republikaner und Königsmörder, nun zum Wirklich-geheimen-königlichen Leibspion avanciert. Sie fallen einander in die Arme Und Schlaukopf teilt sein Anliegen mit, doch erst nachdem er sich überzeugt hat, daß der Doktor keinen genierenden oder rebellischen politischen Glauben hege. Als dieser, verstehend, welch einen mächtigen Mann er vor sich hat, knieend ihn versichert, daß er überhaupt an nichts anderes glaube, als daß die Thaler rund seien, rückt Schlaukopf mit dem Geheimnis heraus: Deutschland, das Vaterland, Luthers und Friedrichs Deutschland, die blondgelockte Königin Germania sei schwanger.
Der Doktor ist ein wenig ungläubig. Könnte das nicht Wassersucht sein, entstanden durch die neugestifteten Mäßigkeitsvereine? — Nein, sie ist schwanger, und das einzige Sonderbare daran ist nur, daß die Zeitungen, die doch sonst immer getreulich melden, wenn ähnliches den Königinnen oder Prinzessinnen passiert, nichts darüber mitgeteilt haben. — Und nun teilt Schlaukopf die beseligende Neuigkeit mit, daß der Doktor als erfahrener Accoucheur zum Arzt der Germania ausersehen worden sei. Er und kein anderer soll sie entbinden. Der Doktor tanzt vor Freude, verlangt eine Apanage und einen Orden zur Belohnung und bittet Schlaukopf die Dame zu holen; aber sieh — da ist sie schon.
Sklaven, die das rechtlose Volk vorstellen sollen, tragen die Germania herein auf einem vergoldeten Stuhl. Sie ist eine Blondine mitt stettem, freundlichem Gesicht, breitem Mund, blaßblauen Augen. Als Germania wird sie begrüßt, gefeiert, besungen. Aber aus einem vertraulichen Zwiegespräch mit Schlaukopf erfahren wir,
|411| daß sie garnicht diejenige ist, wofür sie sich ausgiebt. Er fragt sie aus, ob sie sich wirklich in gesegneten Umständen befinde; sie antwortet, das müsse er selbst am besten wissen, er und die anderen, welche er zu ihr geführt. Von der Straße hat er sie aufgelesen und zu ihrer Rolle dressiert. Sie ist die offizielle Germania — und sie hat alles gethan, was die schlauen Köpfe ihr zu thun befahlen: gelächelt, genickt, auf den Knieen gerutscht und Gebete geplappert. So ist sie auch auf Befehl schwanger geworden. Er schimpft sie und droht ihr mit Prügeln; sie höhnt ihn und droht ihrerseits fortzulaufen; dann mag er sehen, woher er wieder eine Germania bekommt.
Aber im Dunkel der Nacht ist indessen ein fremdes, unbekanntes Weib auf der Straße vor dem Hause erschienen. Abgehetzt und heruntergekommen sieht sie aus. Sie hat kein Fleckchen, auf dem ihr geächtetes Haupt sich ausruhen darf. In einem Lustrausch, sagt sie, schlummert nun auf Seide die, welche man statt meiner erhöht hat und freventlich mit meinem Namen ruft, während ich, die Echtgeborene, einer Bettlerin gleich, meine königliche Stirn im Dunkel verbergen muß. Sei denn, o Stein, mein Kopfkissen! Auf nacktem Stein ist ja gleich seiner Königin mein Volk gebettet.
Als zur nächtlichen Stunde plötzlich jemand Germania! ruft, antworten zugleich die Wöchnerin im Hause und die Fremde auf der Straße. Und als dadurch Verwirrung und so großer Lärm entstehen, daß Gendarmen herbei eilen, wird eine Untersuchung darüber angestellt, wer von den zweien sich einen falschen Namen angeeignet habe. Wahrlich nicht ich, antwortet die Unbekannte Herrn Schlaukopf. Sie hehauptet, daß er es ist, der ihren Namen geraubt, um die freche Stirn seiner Buhlerin damit zu schmücken, und sie schließt: Schmach über Euch beid! Ich allein bin die wirkliche, die rechte Germania. — Kilian kann sich nicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß sie, die so mager und schlank, die richtige sein könne. Die Sklaven aber fühlen den füßen Klang |412| ihrer Stimme in ihr Herz dringen. Der Diplomat Schlaul allein verliert die Fassung nicht:
Aus diesen Vergleich zwischen der Herrlichkeit der Rivalin ihrer eignen Armut antwortet die Fremde mit Würde:
Und die Sklaven verneigen sich gegen die Fremde, die nicht im Königsgewande, sondern in zerrissenem Linnen gekommen ust und bettlerhast einhergeht wie sie selber, und sie fragen einander, ob sie nicht die erwartete Retterin sei, welche ihr Joch zerschlagen und den Blitz der Freiheit in die schlaftrunkene Welt werfen wird.
Doch nun werden beide Frauen aufgefordert sich zu legitimieren, und mit den Worten »Dies ist ein Kampf Legimitätsprinzips«, fängt Schlaukopf an seiner Dame zu soufflieren.
Die offizielle germana, die fette Blondine, welche anscheinend die Zukunft des Landes unter ihrem Herzen trägt, damit prahlt |413| und infolgedessen Ehrfurcht und Schonung verlangt, beginnt nun die Litanei ihres Lebenslaufes: wie sie in urältester Zeit im Walde auf zottigem Bärenfell lag und zum schäumenden Met Bucheckern und Eicheln aß. Der Doktor, Kilian und Schlaukopf rufen: Bucheckern und Eicheln. — Das ist sie! Sie erzählt weiter, wie sie in die Schule zu den Pfaffen gebracht wurde, auf das Kruzifix dicht mit der Nase gedrückt christlich germanisch wurde, Klöster dotierte, Kirchen baute und dem Papst den Pantoffel küßte u. s. w. — und der Chor antwortet: Das ist sie! Sie teilt ferner mit, wie sie sodann sich friedlich entwickelt, sich von jedem, der wollte, nasstübern ließ, bis sie es soweit in der Loyalität gebracht, daß, wenn der Herr nur pfeift, sie flugs zur Hand ist, Schildwache stehen und den Stock apportieren kann, kurz gesagt »ein vollkommener Pudel« ist, und der Chor jubelt wie vorher: Das ist sie! Dann schließt sie: Wenn es Gott und dem König gefällt, soll’s in der Zukunft auch so bleiben. Jetzt bin ich, wie Ihr seht, auf Ministerbefehl gesegneten Leibes. So verteidigt mich nun! Ihr Gendarmen, erkennt mich an als die einzige Germania, als Deutschtumsvollblut und verlaßt Euch darauf, zum Gendarmen werde ich mein Söhnlein erziehen!
Die Gendarmen finden Vernunft in der Rede, und Schlaukopf triumphiert schon über das Verstummen der Landstreicherin. Aber sie entgegnet: Ruhmredig sei nicht ihre Art, auch habe sie wenig, dessen sie sich rühmen könne, weil ihre Saaten in der Zukunft ruhen:
Und sie ruft die gesellten Sklaven an, ihr zu Hilfe zu kommen und sie als die anzuerkennen, die sie ist. Doch im selben Augenblick wird die andere Germania von heftigen Wehen erfaßt. Mit |414| einer Explosion platzt sie wie ein Bovist, fährt in die Luft und ist verschwunden, und aus all dem Rauch, welcher die Bühne füllt, entfalten sich nach und nach Nebelgestalten — nach Jerusalem pilgernde Mönche, Romantiker, die das heilige Mittelalter lobpreisen, Gänse, die darüber trauern, daß der Schwanenorden noch nicht fertig geworden, und moderate Freisinnigen, welche den Refrain anstimmen:
Dann zerbrechen die Sklaven ihre Ketten, stürzen vor Fremden nieder und huldigen in ihr der echten Germania, welche, jungfräulich noch, dereinst die Mutter des zukünftigen Herrschers werden wird.
Das Sinnbild ist kräftig und schön, und es war nicht unwahr. Nicht das unterjochte und zersplitterte Deutschland, welches damals als das fruchtbare und zukunftsreiche ausgeschrieen wurde, sondern die damals verfolgten und verhöhnten Freiheitsbestrebungen gebaren die Zukunft des Deutschen Reiches. Es wirkt etwas störend, daß die wahre Germania so gar keine Vorzeit, gar keinen Stammbaum haben und daß all ihre Kraft und Herrlichkeit in der Zukunft liegen soll. Der Gedanke an einen solchen historischen Bruch für jene Zeit eine Möglichkeit, ja eine Wahrscheinlichkeit, die uns völlig fremd geworden ist.
Aber das war in diesem radikalen polemischen Gedicht volle Wahrheit, daß sich das offizielle Vaterland allerorten alles aneignet, was der Genius des Volkes in der Vorzeit hervorgebracht hat, auch alle alten nationalen Größen, selbst wenn deren Leben ein unaufhörlicher Kampf gegen das ganze offizielle Wesen war.
Selbst die, welche das offizielle Vaterland des Landes verwies, oder im Gefängnis hielt oder köpfte — selbst deren Bildnisse trägt es um den Hals. Und zu allen Zeiten wird gesagt, daß das offizielle Vaterland die Zukunft in seinem Schoße trage. Es giebt |415| sich nicht nur zu jeder Zeit dafür aus, die Gegenwart zu sein, weil die Existenz aller mit seinem Bestehen verknüpft ist, sondern es heißt auch, daß es die neue Zeit unter seinem Herzen trage, und es verlangt die Schonung, die Rücksicht, die einer schwangeren Königin erzeigt wird. Und immer giebt es für die Denkenden eines Volkes. zu gleicher Zeit ein anderes Vaterland, ein nicht anerkanntes, ein verleugnetes. In die Nationalfarben hüllt es sich nicht, und Nationalgesänge werden nicht angestimmt, wo man dessen Gegenwart verspürt. Es ist jedoch allerorten gegenwärtig, wo in dem Geiste gefühlt und gehandelt wird, welcher derjenige der vorzüglichsten Männer des Landes war. Ihm huldigt die ganze denkende Jugend des Volks. Der gemeine Mann steht ihm näher, als die offiziellen Machthaber des Landes. Die Zukunft gehört diesem Vaterland allein.
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