Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[113]| IX.

Einige wenige Jahre tiefer in die Dreißiger hinein – und man kann sagen, daß die von Hugo und seinen Freunden geleitete litterarische Revolution gesiegt hatte, aber so, wie man geistig zu siegen pflegt. Eine verschwindende Minderzahl von Frankreichs gebildetsten Männern und verständigsten Frauen sah ein, daß der Kampf abgethan, daß die Tragödie tot, daß die aristotelischen Regeln Mißverständnisse waren, daß die Zeit der Übergangstalente vorbei, daß Casimir Delavigne erschöpft war, und daß nur die Generation von 1830 wußte, was sie in der Litteratur wollte. Der Umstand, daß eine ganz parallele Bewegung in der Malerei, Bildhauerkunst und Musik begonnen hatte, zeigte ihnen klarer als irgend etwas anderes, wie tief und unwiderstehlich die Veränderung war. Doch diejenigen, welche dies einsahen, waren, wie gesagt, nur eine geringe Minderzahl. Die alte, steife Litteratur aus der Zeit des Kaiserreiches hatte alles für sich, was es in Frankreich an alter Gewohnheit, an Angst vor Neuerungen, an Dummheit und Mißgunst gab; die ganze offizielle Welt war für sie, die ganze Presse mit Ausnahme eines einzigen Tageblattes, des Journal des Débats, endlich auch die Macht: alle Stellen, Ämter, Pensionen wurden ausschließlich an Männer von der alten Schule vergeben, und dadurch wurde das aufwachsende Geschlecht auf alle Arten versucht und verführt. Hierzu kam, daß nach der ersten großen Geistesanstrengung einige Ermüdung und Erschöpfung in dem jungen Lager eingetreten war. Man war jung, man hatte erwartet, es bedürfe nur eines einzigen Sturmlaufes gegen die alte Schanze |114| des Vorurteils, um sie zu erobern; nun sah man voll Enttäuschung, daß die Truppe danach sich zwar in dezimiertem Zustand, aber immer noch am Fuße des Sturmobjektes befand, wie zuvor; man Verlor die Geduld und die Kampflust. In einen hartnäckigen Kampf, der Entbehrung forderte und Wunden und Narben einbrachte, hätte man sich bereitwillig gefunden, doch unter der Bedingung, daß er zu einem raschen Sieg führe, zu einem eklatanten Triumph, zu einer Anerkennung unter Posaunenschall. Aber dieser Streit, der sich ins Unendliche hinauszog, der zähe Spott seitens der Gegner, ihr ruhiges Behaupten aller einflußreichen Positionen, sowohl im Bereich der Litteratur als auch in dem der Kunst, ihr fortdauernder Enthusiasmus für das Überlebte, machte die junge Schaar bedenklich. Man fragte sich selbst, ob man nicht in jugendlicher Heftigkeit zu weit gegangen sei, ob nicht Seine Majestät das Publikum gleichwohl Recht habe, oder doch wenigstens teilweise Recht; man begann, für sein Talent um Entschuldigung zu bitten, und suchte durch Entgegenkommen und Abfall die Vergebung des Publikums zu erlangen. Man zog sich von den Freunden zurück, um Zutritt in diesen oder jenen vornehmen Gesellschaftskreis zuerhalten. Einer und der Andere dachte an die Akademie und ging daran, sein Auftreten so einzurichten, daß er sich nicht die Möglichkeit verscherzte, noch in jüngeren Jahren Mitglied zu werden.

Ein psychologisches Motiv edlerer Natur trug bei, die Gruppe aufzulösen, nämlich das Selbständigkeitsgefühl der Schriftsteller. Man hatte sie von Anfang an durch allzu enge Bande zusammenhalten wollen; man hatte sich nicht damit begnügt, eine Richtung und ein künstlerisches Prinzip anzugeben, sondern Dogmen zu formulieren gesucht, und diejenigen, welche sie aufgestellt, waren Dichter, ebenso einseitige wie geniale Geister, nicht Denker mit einem weiten, unbefangenen Blick. Wie gesellig, im Vergleich zu dem germanischen, der romanische Volksschlag überhaupt auch ist, so konnte doch unter solchen Bedingungen eine Assoziation im engeren |115| Sinne niemals in seiner schönen Litteratur stattfinden. Männer der Wissenschaft können sich über eine Methode einigen, aber die Kunst erfordert die vollständige, unbedingte Freiheit der Persönlichkeit; nur wenn der dichterisch Schaffende ganz er selbst ist, nicht zum besten einer Gesamtheit auf irgend etwas, und sei es die geringste seiner wertvollen Eigentümlichkeiten, Verzicht leistet, vermag er das Vortrefflichste hervorzubringen, das er der Welt zu bieten hat. Ein absoluter Individualismus ist allerdings unmöglich in der Kunst; es bilden sich, bewußt oder unbewußt, freiwillig oder unfreiwillig, immer Schulen; und ebenso wie es gewiß ist, daß das Individuum Erlaubnis haben muß, sich frei auszusprechen, ebenso sicher ist es, daß das Individuum nur in der künstlerischen Kontinuität, nur getragen und gestützt von einer künstlerischen Tradition oder von verwandten Geistern, großen Vorgängern oder Zeitgenossen, das Höchste zu erreichen vermag. Aber wo die Schule ein einzelnes anerkanntes Oberhaupt hat, da gilt es, daß dieses auch verstehe, Freiheit walten zu lassen; es muß alles gestatten mit Ausnahme von Charakterlosigkeit und Stillosigkeit. Doch Freiheit zu geben, dazu war ein Geist von Hugos Art nicht imstande; und die sanatischen unter seinen nächsten Anhängern faßten die Grundsätze seiner Schule noch enger auf als er selbst. Im Verlauf ganz weniger Jahre prägten sich die hervorragendsten Individualitäten der jungen Gruppe stärker aus, als es vorauszusehen war, so lange sie noch im Entstehen waren; und das Auseinandergehen verschiedener ausgeprägter Individualitäten kam dem alten klassis schen Lager zu Gute.

Noch ein Moment wirkte auflösend und zersplitternd. Die Julirevolution trieb eine ganze Anzahl von den Bannerführern und Vorkämpfern der Jugend von dem litterarischen Lager hinüber in die Politik. Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, daß das Blatt »Le Globe« im Jahre 1830 aufhörte ein litterarisches Organ zu sein und in die Hände der Samt-Simonisten überging. Seine |116| Stifter und wichtigsten Mitarbeiter, Männer wie Guizot, Thiers, Villemain, Vitet, wurden Parlamentsmitglieder, Beamte oder Minister. Und da in der modernen Zeit die Politik weit mehr als die Litteratur einen Namen bekannt macht, lockte sie selbst Dichter zu ihren Rednerstühlen. Lyriker wie Hugo und Lamartine wandten sich unter dem Julikönigtum der Politik zu. Die in der Litteratur zurückstehenden Schriftsteller fühlten sich gleichsam Von den in die Politik eingetretenen überflügelt, grämten sich hier und da über die Berühmtheit jener und ärgerten sich zuweilen, sehen zu müssen, wie jene das, was ihnen selbst ihr ein und alles war, die Litteratur, nur als einen Ausweg betrachteten, eben gut genug, um im Notfall ergriffen zu werden.

Ein harter Stoß für den romantischen Kreis war es, als Sainte-Beuve, der allzeit kampfbereite, allzeit enthusiastische Herold der Schule, aus Hugos Generalstab schied. Es scheint, als ob er bei der wunderlichen Mischung von Demut und Unabhängigkeitsdrang, die seiner Natur eigen war, lange schon die unterwürfige Haltung bereut habe, die er Hugo gegenüber eingenommen, und als ob er nur mit Widerstreben es fortgesetzt, für den Chef der Schule das Räucherfaß zu schwingen. Er ärgerte sich über die starke Dosis von Weihrauch, die zu erwarten oder zu fordern Hugo zur Gewohnheit geworden war, und war doch zu schwach, ihm seinen Tribut vorzuenthalten. Überdies war es weniger die Schwärmerei für Hugo, als die für des Dichters junge Frau, welche ihn innerhalb des Zauberringes festhielt. Als es im Privatleben zum Bruch zwischen ihm und dem Hugoschen Hause kam, war dieser Bruch für Sainte-Beuve das Signal zu einem vollständigen Umschlag auch in seinen litterarischen Sympathien für den Dichter von »Die Orientalen«. Er war nach seiner ganzen Anlage so beschaffen, daß er Schulen, Systeme, Gemeinden, Parteien nie als etwas anderes betrachtete als Hôtels, in welche er ein- und auszog und wo er niemals seine Koffer ganz auspackte; er war ferner |117| gegen das, was er kürzlich verlassen, immer zur Satire oder zu Hohn geneigt; darum gab er von nun an nur noch eine scharfe und vorzugsweise herabsetzende Kritik über Hugos Werke ab.

Alfred de Musset gefiel es, noch früher seinen Abfall kund zu geben. Ein so überlegener und feiner Geist wie der seinige konnte nicht blind sein für das Beschränkte und Unvollkommene in den Theorien der Hugoschen Schule, noch weniger für die kindische Art, womit dieselben von einigen Heißspornen auf die Spitze getrieben wurden. Als Musset zum erstenmal seine Gedichte bei Hugo in einem Kreis von jungen Romantikern vorlas, waren es nur zwei Stellen, die Applaus fanden. Die erste war diejenige in »Don Paez«, wo es heißt: »Brüder! rief aus der Ferne ein gelb und blauer Dragoner, der im Heu schlafend gelegen« – »gelb und blau,« das zündete, das war, was man Farbe im Stil nannte – die andere Stelle war aus »Le lever«, wo von den Jägerburschen gesagt wird: »Und aus ihren grünen Ärmeln sah man die schwarzen Füße der Falken.«

Dieses elementar Malerische war den jungen Zuhörern lieber als alle Ausbrüche von Gefühl, Leidenschaft und Geist. Denn durch solche Züge unterschied man sich von den Männern der alten Schule, denen einzig das wichtig war, daß man wisse, was geschah; um die Details der Außerlichkeiten kümmerten sie sich nicht. Daß die sichtbare Welt für Musset existierte, dies war den jungen Männern die Hauptsache; aber ihm konnte sie das nicht sein, dessen Stärke in ganz anderen Dingen lag, und der niemals den Drang fühlte, mit Hugo oder Théophile Gautier zu rivalisieren.

Musset war nächstdem vor allem ein junger Aristokrat, Weltmann und Dandy, der seine Ehre darein setzte, Litteratur nur als müßigen Zeitvertreib zu betrachten. Langhaarige Litteraten mit Calabreserhüten taugten ihm nicht als Kameraden.

Sein Verhältnis zum Publikum war von Anfang an etwas unsicher gewesen; er hatte versucht, es in Staunen zu setzen und |118| es zu necken. Nun kam es ihm mit größtem Wohlwollen entgegen, bereit, ihm alles zu vergeben – selbst die Ballade an den Mond – wenn er nur ein anderes Gesicht zeigen wolle; und eifrig, seine Selbständigkeit zu beweisen, indifferent gegenüber den Parteien, endlich klassisch angelegt, geistesverwandt mit Mathurin Régnier und Marivaux, wie er war, gab er bis zu einem gewissen Grade der unbewußten Pression nach. Er gewann die Neigung der Lesewelt, indem er mit humoristischer Gleichgültigkeit von seinen eigenen kriegerischen Thaten und denen seiner Kampfgenossen sprach. In dem Gedicht »Raphael oder die geheimen Gedanken eines französischen Edelmannes« erklärt er sich des Streites müde; er habe, sagt er, in beiden feindlichen Lagern gekämpft, sich hundert Narben geholt, die ihm ein ehrwürdiges Ansehen verleihen, und er – der einundzwanzigjährige – setze sich nun als erschöpfter Veteran auf seine zerborstene Trommel. Racine und Shakespeare begegnen sich auf seinem Tisch und fallen hier in Schlaf neben Boileau, der beiden vergeben hat. In einem anderen Gedicht schreibt er: »In unseren Tagen existiert die Kunst nicht mehr, niemand glaubt an sie. Unsere Litteratur hat hunderttausend Gründe, von Ertrunkenen, von Toten und von elenden Fetzen zu sprechen. Sie ist selbst eine Leiche, die wir galvanisieren. Sie thut ihr Werk, indem sie uns Dirnen schildert […] Sie ist selbst »eine, und zwar die allerverkommenste, die sich jemals mit Salben und Schminke übertünchte.« Dieser Ausfall, der augenscheinlich gegen die ausschweifende Phantasie in den Produktionen der Hyperromantik gerichtet ist, war so jugendlich rücksichtslos, daß die ganze zeitgenössische Dichtung sich dadurch getroffen fühlen konnte. Auch war es wol nicht ganz zufällig, daß dies in demselben Jahre geschrieben wurde, als »Marion de Lorme« erschien, dies Drama, das bei allen seinen Mängeln so keusch, so spiritualistisch in seinem Gedankengang und so christlich in seinem Geist ist, das aber unleugbar eine Courtisane zur Heldin hat. Zugleich äußerte Musset |119| sich mit stets steigender Blasiertheit über die Ideale der Jugend. Fast alle die Dichter der jungen Schule hatten, mit Hugo an der Spitze, für das kämpfende Griechenland Partei genommen; Alfred de Musset schrieb kokett von seinem Mardoche, daß er »mehr von der Pforte und Sultan Mahmud hielt, als von dem braven hellenischen Volk, das mit seinem Blut den reinen Marmor von Paros besudelt.«

Was war die Ursache dieser Gleichgültigkeit und dieses Cynismus?

Zu heißes Blut, ein zu leidenschaftliches Herz und zu frühe Täuschungen. Sein Vertrauen zu den Menschen hatte schon in seiner frühesten Jugend einen unheilbaren Riß erlitten, und dem Mißtrauen entsprang Bitterkeit und Groll. Es ist kaum möglich, seine verzweifelte Lebensbetrachtung auf eine bestimmte einzelne Begebenheit zurückzuführen, von der sie geradezu herstammen konnte. Aber er selbst glaubte, ihren Ursprung nachweisen zu können. Er war, wie er unter mancherlei Formen andeutet, in seiner ersten Jugend von einer Geliebten und von einem Freund betrogen worden. Es ist wahrscheinlich, daß er bei seinem aufrichtigen und wahrheitsliebenden Charakter sich von diesem Schmerz tief getroffen fühlte; doch hat er ohne Zweifel, während die Wunde noch frisch war, das poetische Vergrößerungsglas genommen und seinen Kummer dichterisch verarbeitet. Es war Mode, einen Liebesgram zu haben, über den man sich zu trösten wußte. Und doch hat Musset mehr gelitten, als so mancher glauben wird, der seine ausgelassenen Jugendgedichte liest. Aber um sich nicht so weich zu zeigen, wie er war, um nicht zum Gegenstand des Spottes für die Cyniker zu werden, affektierte er nun selbst eine zeitlang die äußerste Härte und Kälte. – Solch ein künstlicher Cynismus wirkt peinlich wie jede Affektation. Taine schrieb über Musset eine bekannte Abhandlung, worin er eine ebenso schöne wie blinde Vorliebe für den Gegenstand derselben an den Tag legt; sie kulminiert in dem |120| Ausruf: »Ce1ui-là au moins n’a jamais menti« Wenn man forcierte Überlegenheit und Herzenskälte zu dem Unwahren zählt, kann man jene Äußerung kaum so ohne weiteres unterschreiben.

Bald aber sollte in dem Leben des verwöhnten Jünglings ein Wendepunkt eintreten.

Am 15. August 1883 stand Alfred de Mussets »Ro11a« in der damals neubegründeten »Revue de deux Mondes«. Wenige Tage nachher gab der Redakteur dieser Zeitschrift, der Schweizer Buloz, seinen Mitarbeitern ein Mittagessen in der bekannten Palais-RoyalRestauration Aux Trois Frères Provencaux. Die Gäste waren zahlreich; es befand sich unter ihnen nur eine einzige Dame. Der Wirt bat Alfred de Musset, sie zu Tische zu führen – und dieser wurde Madame George Sand vorgestellt.

Es war ein schönes Paar. Er schlank und fein, blond, mit dunklen Augen und dem scharfen, pferdeartigen Profil, sie brünett, mit üppigen, gewellten schwarzen Haaren, mit der schönen einförmigen Olivenfarbe, die auf den Wangen in ein schwaches Bronzerot überging, mit großen, dunklen, mächtigen Augen – Arme und Hände von vollendeter Weiße und Schönheit. Es schien eine Welt hinter ihrer Stirn zu liegen, und doch war sie jung und schön und schweigsam wie eine Frau, die nicht darauf Anspruch macht, für geistreich zu gelten. Ihr Anzug war einfach, doch etwas phantastisch: über dem Kleid trug sie eine goldgestickte türkische Jacke, in ihrem Gürtel steckte ein Dolch.

Es wurde mir 1870 in Paris von einem der damals noch lebenden Teilnehmer an jenem Mittagessen gesagt, daß es ein wohlberechneter Plan des Geschäftsmannes Buloz war, der Alfred de Musset und George Sand zusammenführte. Er hatte im voraus seinen Bekannten gesagt: Sie sollen zusammensitzen; alle Frauen pflegen sich in ihn, alle Männer sich pflichtschuldigst in sie zu vergaffen; sie werden sich natürlich in einander verlieben und – welche Manuskripte wird es dann nicht für die Revue geben! Er rieb sich die Hände.

|121| Es waren zwei Persönlichkeiten höchst ungleicher Art, die hier nebeneinander am Tische Platz nahmen. Die einzige Ähnlichkeit zwischen ihnen war wohl ihr Schriftstellertum.

Ihr Wesen war eine fruchtbare, mütterliche Natur. Ihre Seele war gesund, selbst in ihren revolutionären Ausbrüchen gesund, und besaß ein gewisses Gleichgewicht des Reichtums. Ihr Schlaf war gut, und sie konnte ihr Leben nach Belieben einrichten; sie vertrug es, jahraus jahrein ganze Nächte hindurch zu arbeiten und sich mit einem langen Morgenschlaf zu begnügen, den sie kommandieren konnte und von dem sie gestärkt erwachte. Keine große Leidenschaft, keine Revolutionsidee war durch das Gemüt des neunzehnten Jahrhunderts gegangen, welcher diese Frau nicht in ihrer Seele Raum gegeben hatte, und sie hatte dabei ihre Frische, ihre innere Ruhe und ihre Selbstbeherrschung bewahrt. Sie vermochte es, aufmerksam und gelassen sechs Stunden in einem Zuge zu schreiben; sie hatte eine solche Gabe, sich zu sammeln, daß sie während des Gesprächs und des Lachens einer ganzen Gesellschaft ihre Träume aufzuzeichnen vermochte, und gleich darnach, wenn sie am Leben der Umgebung teilnahm, saß sie lächelnd und wortkarg, alles auffangend und verstehend, die Worte, die da fielen, aufsaugend, wie ein Schwamm die Wassertropfen.

Und nun er! Er besaß in noch höherem Grade das Künstlertemperament. Seine Arbeit war ein Fieber, sein Schlaf war unruhig, seine Triebe und Leidenschaften waren unbeherrscht. Wenn er eine Idee empfing, saß er nicht gleich ihr stumm und sphynxartig über derselben brütend – nein, er zitterte überwältigt, »mehr schwindlig als ein Page, der in eine Fee verliebt ist,« wie es in seinem Gedichte »Après une 1ecture« heißt. Und ging es dann zur Ausführung, so war er immer geneigt, die Feder wegzuwerfen; die Vorstellungen drängten sich, suchten Ausdruck, ein rasendes Herzklopfen folgte, und die geringste Versuchung seitens seiner Umgebung, eine Einladung zu einer Abendgesellschaft mit Freunden |122| und schönen Frauen, der Vorschlag einer Landpartie genügte, um ihn der Arbeit entfliehen zu lassen, wie man einem Feinde aus dem Wege geht.

Sie »strickte« ihre Romane, er schrieb seine Werke in einer kurzen, brennenden, seligen Ekstase, die am folgenden Tage häufig einem Ekel an dem Geschriebenen wich. Er fand es schlecht und mochte es doch nicht umschreiben, denn er sah seine Feder so scheel an, wie der Galeerensklave sein Ruder. Trotz all’ seines Jugendübermutes wand er sich wie in einer stetigen Qual, und die Ursache war die, daß in seinem schmächtigen Körper ein Riese von einem Künstler sich eingeschlossen fand, der weit tiefer und gewaltsamer fühlte, weit mehr und schneller lebte, als das Menschenwesen, in welchem er verkörpert war, zu ertragen vermochte. Wenn sich deswegen der Dichter in allerhand Ausschweifungen stürzte, so beruhte dies am meisten auf einem Bedürfnisse, das innere Leiden zu betäuben, das die Genialität in ihm war.

Wie er da saß, zweiundzwanzig Jahre alt, der verzärtelte Sohn seiner adeligen Eltern, bei ihnen wohnend, von der sorgsamen Liebe eines Bruders gestützt, hatte er, ein Kind, das nichts als einige Liebesabenteuer erlebt, die Erfahrung, das Mißtrauen, die Bitterkeit und die Menschenverachtung eines vierzigjährigen Mannes; und wo seine Erfahrung Lücken hatte, füllte er dieselben mit angenommener Gleichgültigkeit und mit Cynismus aus. Wie sie da saß, diese Frau mit Fürsten- und Boheme-Blut in ihren Adern, die Enkelin des Moritz von Sachsen, achtundzwanzig Jahre alt, ernsteste Schicksale hinter sich, losgerissen von Familie und Heim, ihres Vermögens beraubt, herbergend mit dem einen ihrer Kinder in enger Pariser Mansarde, von keinem männlichen Verwandten gestützt und somit auf Wahlverwandtschaften angewiesen, sie, die ein litterarisches Zigeunerleben führte, in Männerkleidung ausging, einen Mannesnamen trug und wie ein Mann unter Männern ihre Zigarre rauchte – war sie in der Tiefe ihrer Seele naiv, leiden|123|schaftslos, enthusiastisch, gut und für alles Neue so empfänglich, als hätte sie nichts besonderes erlebt und wäre nie enttäuscht worden.

Er, der in seiner Kunst so ursprünglich, in seinem Leben so planlos, war als Geist in mancher Hinsicht spießbürgerlich borniert. Wir Männer werden es leicht! Wie sollte er es nicht geworden sein, der, in glücklichen Verhältnissen geboren, in aristokratischen Kreisen aufgewachsen, früh das Lachen fürchten und die Konvenienz respektieren gelernt hatte?

Sie dagegen, die in speziell technischer Hinsicht nichts Revolutionäres hat, sondern in ihrer Kunst den eingeschlagenen Wegen folgte, war geistig fast ein Wunder. Sie hatte keine Borniertheit, war von keinem Vorurteil beschränkt. Frauen, die von ihrem Schicksale dazu gebracht wurden, an die Krebsschäden der Gesellschaft zu rühren und dem Urteil derselben in die Augen zu sehen, ohne selbst die Augen niederschlagen zu müssen, werden bisweilen in einem höheren Grade als die Männer geistig frei, eben weil sie diese Freiheit teurer erkaufen. Sie sah originell und prüfend alles an, wog jegliche Sache in der Hand und gab ihr gerade das Gewicht, das sie verdiente.

Er war ihr an Bildung überlegen. Dieser exaltierte Künstler besaß einen unbestechlichen Mannesverstand, scharf und geschmeidig wie eine Damascener-Klinge, der jede Redensart, auf die er stieß, zerteilte, jede Blase des Gedankens oder der Sprache spießte, bis sie barst.

Sie als Frau dagegen war geneigt, das Herz zuerst und am lautesten reden zu lassen. Eine schöne und schwärmerische Lehre, eine edle Utopie bezauberte sie, und sie hatte als Weib das Bedürfnis, zu dienen. Sie suchte in ihrer Jugend immer mit dem Blicke eine Fahne, die von Männern mit großen, tapferen Herzen getragen werde, um dann unter dieser Fahne zu kämpfen. Ihr Ehrgeiz war nicht der, als gefeierte Muse der feinen Welt Konzerte zu geben; sie wollte als Tochter des Regimentes die Trommel |124| rühren. So aber kam sie wegen ihres Mangels an Verstandesbildung dazu, unklaren Köpfen als Propheten zu huldigen, so zuletzt dazu, in dem guten und linkischen Pierre Leroux, einem Philosophen und Sozialisten, zu dem sie viele Jahre hindurch wie eine Tochter zu ihrem Vater emporschaute, den bahnbrechenden Apostel der neuen Zeit zu sehen. Musset hatte das Überlegenheitsgefühl des aristokratischen Geistes diesen Propheten gegenüber, die nicht zwanzig lesbare Prosaseiten zu schreiben vermochten; sie dagegen ließ sich von dem Hange dieser Männer zu nachdrücklichem und salbungsvollem Vortrage und zu begeisterter Deklamation anstecken.

Endlich: sie war ihm als Künstlerin unterlegen, obwohl sie, menschlich genommen, größer, gerechter, stärker war als er. Ihrem Künstlergeiste fehlte die plötzlich hinreißende Kraft des Mannes, jenes »So soll es sein«, das keine Gründe angiebt. Wenn sie beide ein Gemälde betrachteten, fühlte er, ohne besonderen Sinn für Malerei zu haben, mit Einem Schlage die Vorzüge des Bildes und die herrschenden Eigenschaften des Malers, und drückte sie mit zwei Worten aus. Ihr Geist vertiefte sich durch irgend einen sonderbaren Umweg langsam und umhertappend in das Gemälde, und der Ausdruck ihrer Empfindung war häufig entweder unbestimmt oder paradox. Seine Intelligenz war scharf, nervös, die ihrige strömend, einer universellen Sympathie zugeneigt. Wenn sie zusammen eine Oper hörten, wurde er von dem Ausbruche wahrer und persönlicher Leidenschaft, von dem ganz Individuellen, sie dagegen vom Chorgesange, von dem gemeinsam Menschlichen ergriffen. Es schien fast einer Gemeinschaft von Geistern zu bedürfen, um ihren Geist in Bewegung zu setzen.

Den Büchern, die sie geschrieben hatte, fehlte die Gedrängtheit. Während jeder Satz, der von seinen Lippen sprang, einer geprägten goldenen Münze mit ciselierten Rändern glich, war ihr Stil bis zur Weitschweifigkeit wortreich. Das erste, was Musset unwillkür|125|lich that, als ein Exemplar der »Indiana« ihm in die Hände fiel, war, mit einem Bleistift zwanzig bis dreißig überflüssige Adjektive auf den ersten Seiten auszumerzen. Das Exemplar kam später George Sand vor Augen, und man sagt, daß sie sich weniger dankbar als gereizt fühlte.

George Sand hatte ungefähr ein halbes Jahr vor dem ersten Zusammentreffen mit Musset eine gewisse Scheu vor der Bekanntschaft mit ihm empfunden. Sie hatte zuerst Sainte-Beuve ersucht, ihn bei ihr einzuführen; dann aber heißt es in der Nachschrift eines ihrer Briefe aus dem März 1833: »Alles wohl erwogen, wünsche ich nicht, daß Sie Alfred de Musset bei mir einführen. Er ist in hohem Grade Dandy, wir würden für einander nicht passen, und ich hatte mehr Neugierde als eigentliches Interesse ihn zu sehen. Es ist jedoch unvorsichtig, jede Neugierde befriedigen zu wollen.« Man spürt in diesen Worten etwas wie Unruhe oder ahnungsvolle Furcht.

Alfred de Musset seinerseits hatte, wie alle Schriftsteller, eine gewisse Voreingenommenheit gegen Schriftstellerinnen. Der Name Blaustrumpf ist diesen Damen gewiß von einem männlichen Kollegen gegeben worden. Aber trotz alledem läßt die große Anziehung, die eine überlegene weibliche Intelligenz auf den intelligenten Mann ausübt, sich nicht leugnen. Das Entzücken, welches immer das tiefe, gegenseitige Verständnis der Geister begleitet, wurde hier durch eine plötzlich erstehende leidenschaftliche Liebe verdoppelt.

Wenn man geschichtlich dieses Verhältnis betrachtet, fällt es in die Augen, wie stark es von dem Zeitgeist geprägt ist. Es wurde in dem an die Karnevalsstimmungen der Renaissancezeit erinnernden poetischen Rausch eingegangen, der sich während der Herrschaft des Romantismus der Gemüter in Frankreich bemächtigt hatte. Künstlernaturen, deren erste Pflicht es immer ist, innerhalb des Gebietes ihrer Kunst mit der ererbten Konvenienz zu brechen, empfinden zu jeder Zeit die Versuchung, auch in sozialer Hinsicht das Herkomm|126|liche zu überschreiten; aber die Generation von 1830 war in ihrer Opposition gegen das Alltägliche jugendlicher und naiver als irgend eine frühere oder spätere in Frankreich in den letzten Jahrhunderten. In allen Künstlern stecken Zigeuner oder Kinder; die Künstler jener Zeit gaben dem Zigeuner und dem Kinde in ihrer Seele freien Spielraum. Bezeichnend ist es, daß das erste, worauf diese beiden auserkorenen Wesen verfallen, sobald sie sich gefunden haben und die erste, brennende Glücksekstase ihnen aufzuatmen gestattet, ist, sich vor einander zu verkleiden und in Verkleidung ihre Bekannten zum besten zu haben. Als Paul de Musset (Bruder des Dichters) zum erstenmale von dem jungen Paare zu Abend eingeladen wird, trifft er Alfred gepudert und als Marquis des vorigen Jahrhunderts ausstaffiert, George Sand in ausgerafftem Kleid mit fischbeinernem Unterrock und Schminkpflästerchen. Als George Sand die erste Mittagsgesellschaft nach ihrer Bekanntschaft mit Musset giebt, wartet Alfred, als junge, normannische Bonne verkleidet, unerkannt bei Tische auf; damit der Ehrengast, der philosophische Professor Lerminier, einen würdigen Partner habe, wird Deburean, der unvergleichliche Pierrot vom Funambulestheater, den niemand außerhalb der Bühne gesehen hatte, eingeladen, und den Gästen als notabler Reisender, als einflußreiches Mitglied des englischen Unterhauses vorgestellt. Um ihm und Lerminier zugleich Anlaß zu geben, ihre Kenntnisse an den Tag zu legen, bringt man die Rede auf Politik. Doch vergebens nennt man Namen wie Robert Peel, Lord Stanleh u. s. w.; der fremde Diplomat beobachtet hartnäckiges Stillschweigen oder antwortet nur einsilbig. Endlich gebraucht jemand die Wendung: »das europäische Gleichgewicht«. Der Engländer bittet ums Wort. »Wollen Sie wissen,« sagt er, »wie ich unter den gegenwärtigen ernsten politischen Verhältnissen in England und auf dem Kontinent das europäische Gleichgewicht auffasse? – So.« Und der Diplomat wirft seinen Teller in die Höhe, so daß er sich in der Luft schwingt, fängt ihn dann mit |127| Virtuosität auf der Messerspitze aus und läßt ihn beständig wirbeln, ohne sein Gleichgewicht zu gefährden. – Zeigt nicht solch kleiner Zug diese Verbindung zwischen Musset und George Sand in einem eigentümlichen Schimmer von Jugend und Naivetät? Es fällt ein Strahl von dem Stimmungsleben der Renaissancezeit darauf, und man fühlt recht wohl, daß man sich in dem französischen Romantismus der dreißiger Jahre befindet.

Das vertraute Verhältnis zwischen Alfred de Musset und George Sand hat seine vulgäre Seite, die hinlänglich ausgenützt worden ist, und die ich nicht berühren mag. Jeder weiß, daß sie gemeinschaftlich eine Reise nach Italien unternahmen, daß er sie mit Eifersucht, sie ihn mit der ungewohnten Kontrolle über sein Thun und Treiben plagte, kurz, daß ihr Zusammenleben nicht glücklich war, daß er während seiner Krankheit von ihr getäuscht wurde und daß er in der unglücklichsten Gemütsverfassung Italien allein verließ.

Aber das Verhältnis hat noch eine andere und interessantere Seite, die ästhetisch-psychologische. Die Litteraturgeschichte kennt Verbindungen genug zwischen hochbegabten Männern und Frauen; was jedoch in diesem Falle neu und außergewöhnlich ist, das ist dies:

Ein männlicher Genius höchsten Ranges, der schon ein Stück seiner künstlerischen Laufbahn hinter sich hat und doch noch ganz jung ist – ein weiblicher Genius, so vollständig, so bedeutend, daß nie früher in der Weltgeschichte ein Weib sich in dem Besitze einer so reichen, schöpserischen Kraft gezeigt hatte, beeinflussen einander während der Exaltation der Liebe.

Unsere Psychologie ist noch so weit zurück, daß der Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Einbildnngskraft kaum studiert werden kann, viel weniger weiß man, wie sie auf einander einwirken. Zum erstenmale in der modernen Civilisation begegnen sich hier der männliche und der weibliche Dichtergeist, jeder für |128| sich zur höchsten Schönheit angelegt. Nie zuvor war das Experiment in so großem Stile vor unseren Augen gemacht worden. Es ist der Adam der Kunst und die Eva der Kunst, die sich einander nähern und den Apfel vom Baum der Erkenntnis teilen. Dann folgt der Fluch, das heißt der Bruch, sie trennen sich und gehen ein jedes seinen Weg. Aber nicht als dieselben. Die Werke, die sie von jetzt an hervorbringen, haben nicht denselben Charakter wie die, welche sie schufen, bevor sie sich getroffen hatten.

Er verläßt sie, zerrissen, verzweifelt, betroffen, mit einer großen neuen Anklage gegen das weibliche Geschlecht in seiner Seele, doppelt davon überzeugt: Falschheit! dein Name ist Weib.

Sie verläßt ihn, vielfach bewegt: anfangs halbwegs getröstet, dann zerrissen bis in die Tiefe ihres Wesens, aber bald froh, aus einer Krisis heraus zu sein, die ihre ruhige, schaffende Natur verstimmte, mit einem neuen Gefühle der Überlegenheit des Weibes über den Mann, doppelt überzeugt: Schwäche! dein Name ist Mann.

Er verläßt sie mit einem neuen Unwillen gegen alle Schwärmereien und Philantropien und Utopien, mehr als je überzeugt, daß die Kunst dem Künstler alles sei. Aber doch ist die Berührung mit dieser großen Frauenseele für ihn nicht unfruchtbar gewesen. Zuerst macht der Schmerz ihn wahr; er streift seinen affektierten Cynismus ab; er wird nie mehr eine gemachte Härte und Kälte zur Schau stellen. Dann macht der Einfluß, den die Offenheit und Güte ihres Wesens ausübte, ihr Schwärmen für Ideale, sich in den Werken geltend, die er jetzt erscheinen läßt, in der republikanischen Vegeisterung Lorenzaccios, in dem tiefen Gefühlsleben Andrea del Sartos, vielleicht sogar in dem Protest, den Musset gegen Thiers’ Preßgesetze schleudert.

Sie verläßt ihn, überzeugter als je von der Engherzigkeit und dem Egoismus der Männer, geneigter als je, sich allgemeinen Ideen hinzugeben. Sie widmet in »Horace« dem Samt-Simonismus ihr Talent; sie schreibt, um den Sozialismus zu verherr|129|lichen, »Le compagnon du Tour de France«, schreibt endlich im Jahre 1848 für die provisorische Regierung die Bulletins an das Volk. Aber nichtsdestoweniger vollendete erst die Berührung mit diesem geprägten, formfesten Genie ihre reine und klassische Kunstform. Sie lernte die Form lieben, das Schöne um seiner selbst willen suchen. Und wenn man von ihr gesagt hat, daß ihre Sätze »von Leonardo gezeichnet und von Mozart in Musik gesetzt sind« (ein Wort des jüngeren Dumas) so hätte man hinzufügen können, daß die Kritik Alfred de Mussets ihre Hand geleitet und ihr Ohr gebildet hat.

Nach ihrer Trennung sind Beide gereifte Künstler Er ist von jetzt an der Dichter mit dem brennenden Herzen, sie die Sibylle mit der prophetischen Beredtsamkeit.

In den Schlund, der sich jäh zwischen ihnen öffnete, warf sie ihre Unreife, ihre Tiraden, ihre Geschmacklosigkeiten, ihren Männeranzug, forthin ganz Weib, ganz Natur.

In dieselbe Tiefe versenkte er sein Don Juan-Kostüm, seinen herausfordernden Übermut, seine Bewunderung für »Ro11a«, seinen Knabentrotz, und war von jetzt an ganz Mann, ganz Geist.

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