Kaum hatte Hugo »Die Orientalen« vollendet, als er eine Gedichtsammlung begann, welche den vollständigsten Gegensatz zu ihnen bildet. »Die Herbstblätter« (Les feuilles d’automne) eroberten der Lyrik ein neues Erdreich, einen Umkreis, der ebenso persönlich war, wie jener der »Orientalen« unpersönlich gewesen.
Hugo war, erst zwanzig Jahre alt, schon vermählt. Er führte das Mädchen, das er liebte, Adèle Foucher, heim, auf Grund der unbedeutenden Summe, die ihm im selben Jahre von Ludwig XVIII. als jährliche Pension bewilligt worden war; die Mitgift, die seine Frau ihm zubrachte, bestand in 2000 Francs. Das junge Paar führte also ein spärliches Leben in den Jahren, die verflossen, bis Hugos Feder – ungefähr nachdem die Hernani-Schlacht gewonnen war – begann, Hunderttausende einzubringen, die bald zu Millionen anwuchsen; aber in dem dürftigen Heim wohnte das Glück, und als Hugo, fünfundzwanzig Jahre alt, als poetischer Revolutionär auftrat, war er längst Familienvater mit einer Schaar kleiner Schreihälse um sich.
Die Herbstblätter brachten Gedanken und Bilder aus seiner Häuslichkeit. Es waren Erinnerungen aus seiner Kinderzeit und an teure Verstorbene, Erinnerungen an die Zärtlichkeit seiner Mutter, an die kriegerische Erscheinung des Vaters, an Napoleon, den er in seiner Kindheit an der Seite des Vaters gesehen. Er erschließt sein Herz vor nahestehenden Freunden, beichtet ihnen seine Schwermut und seine Zweifel unter dem harten Kampf des Lebens. |98| Einzelne, unvergleichliche Liebesgedichte. Er findet seine ersten Liebesbriefe wieder und liest sie mit Wehmut, indem er die entschwundene Frische der ersten Jugend vermißt. Er besingt sein junges Weib, sie, zu der er gesagt: »Immer!« und die ihm geantwortet: »Überall!« Er malt die Poesie seines Hauses. Dies war eine Seite des Lebens, welche die größten Dichter der Welt fast alle liegen gelassen hatten. Shakespeare hatte keine Häuslichkeit, und sein Verhältnis zu seiner Frau ist kaum der Besprechung wert. Schiller und Goethe schrieben nur wenige Gedichte an ihre Frauen und keines über ihr häusliches Leben; was Byron für passend fand, der Welt von diesen Verhältnissen mitzuteilen, war nur wenig erbaulich Oehlenschläger, dessen persönliche und litterarische Stellung im übrigen so viele Parallelen mit derjenigen Hugos darbietet, hatte nicht recht vermocht, diese Lebenssphäre zur Poesie zu erheben; sein Verhältnis zu seiner Gattin ist in den Gedichten mehr ehrlich als durchaus ritterlich und in Beziehung auf seine Kinder zeigen seine Verse einen Anflug von Vatereitelkeit; er spricht darin von ihnen ungefähr so, wie königliche Personen in öffentlichen Äußerungen von den ihrigen sprechen; man fühlt, daß er sie als Wesen betrachtet, deren Wohlfahrt Allen am Herzen liegen muß. Victor Hugo hat es verstanden, sich von solchen Schwächen freizuhalten.
Durch Hung Gedichte zieht sich, ausgestattet mit der höchsten Schönheit, das Bild der jungen Mutter, gefolgt von ihren vier Kindern, von denen das kleinste noch mit unsicheren Schritten trippelt.
»Wenn du je einer Frau begegnest, deren Stirne rein, deren Gang ruhig ist, deren Augen milde sind, die ihre Kinder an der Hand führt und, wenn sie einen armen Bettler auf ihrem Wege trifft, ein Almosen in das Händchen des kleinsten Kindes legt […] oder – wenn sich Schmähreden über einen Namen ergießen, und du siehst ein Weib stumm und zweifelnd zuhören und hörst sie sagen: Laßt uns mit unserm Urteil warten! wen von uns könnte |99| man nicht verleumden! O, wer du auch seiest, segne sie! Sie ists, die Schwester meiner Seele, meine Hoffnung, mein Schatz, meine Zuflucht.«
Und ferner klingt durch diese Gedichte ein Summen und ein Klingen wie von Kinderjubel und Vogelgezwitscher. Das Kind springt in die Stube – und die finsterste Stirne, selbst die bösesten Gesichter klären sich auf; das Kind mischt seine Fragen in das ernste Gespräch und unter Lächeln hält man plötzlich inne; es öffnet seine junge Seele allen Eindrücken und bietet Fremden und Bekannten das Mäulchen zum Kuß.
»Laßt die Kinder bleiben! jagt sie nicht aus dem Arbeitszimmer des Dichters, laßt sie nur lachen und singen und ihren kindlichen Lärm einmischen in den Chor der innern Stimmen, während der Schreibende an seinem Pulte träumt. Ihr Hauch jagt die bunten Seifenblasen seiner Träume nicht in die Flucht. Glaubt ihr, mir wird bange, wenn ich mitten unter meinen Gesichten von Blut und Brand diese lichten Köpfchen an mir vorbeigleiten sehe, oder daß die Verse wie ein Vogelschwarm vor spielenden Kindern die Flucht ergreifen? Nein, nein! Kein Bild wird durch sie verscheucht. Das goldene morgenländische Gedicht breitet in ihrer Nähe noch reicher seine gemalten und ziselierten Blumen aus, die Ballade wird frischer, die beflügelten Strophen der Ode steigen mit noch feurigerem Atemzug zum Himmel.«
Eine traurige Begebenheit gab dem Dichter in seinen reiferen Jahren Veranlassung, sich zu jener früheren Zeit im Kreise seiner Kleinen zurückzuwenden: der plötzliche Tod seiner ältesten Tochter im Jahre 1843. Im Februar desselben Jahres hatte sie sich vermählt; im September verunglückte sie bei einer Kahnfahrt auf der Seine. Ihr Mann, Charles Vacquérie, stürzte sich ihr nach, und da alle Versuche, sie zu retten, sich als vergeblich erwiesen, suchte und fand auch er den Tod in den Wellen. Die ganze Gruppe von Gedichten, die in »Les Contemplations« mit dem Verse eingeleitet |100| sind: »O, ich war wie von Sinnen im ersten Augenblick!« müssen im Zusammenhang mit den Herbstblättern gelesen werden.
Hier kommen kleine Scenen vor, die in all’ ihrer Einfachheit ebenso trefflich gemalt wie tief empfunden sind:
»Sie hatte in früher Kindheit die Gewohnheit, jeden Morgen ein wenig in meine Stube hereinzukommen. Ich wartete auf sie, wie man auf einen Sonnenstrahl hofft. Sie trat herein und sagte: Guten Morgen, Väterchen! nahm meine Feder, schlug meine Bücher auf, setzte sich an mein Bett, warf meine Papiere durcheinander und lachte – und plötzlich war sie davon, wie ein Vogel fortfliegt. Dann nahm ich, etwas weniger müd’ in meinem Kopfe, meine unterbrochene Arbeit wieder vor; und während ich schrieb, fand ich oft in meinen Manuskripten wunderliche Arabesken, die sie gezeichnet, und manch weißes Blatt, das sie zerknittert hatte, und – ich weiß nicht, wie es zuging – auf solch’ ein verknittertes Blatt kamen oft meine schönsten Verse zu stehen.«
So ungekünstelt ist die Darstellung, daß selbst in der ProsaÜbersetzung etwas von der eigentümlichen Poesie bewahrt ist. Oder man lese folgende Bruchstücke:
»Als sie noch ganz klein war und ihre jüngere Schwester ein winziges Kind, hörte ich auf dem Land, wo wir wohnten, sie morgens immer ganz sachte unter meinem Fenster spielen. Sie lief im Tau herum, ohne Lärm zu machen, aus Besorgnis, mich zu wecken, und ich – wagte nicht, das Fenster zu öffnen, aus Besorgnis, sie zu verscheuchen. – Ihre Brüder lachten, der Morgen war rein und klar, Alles sang unter dem frischen Laubdach, meine Familie mit der Natur und die Vögel um die Wette mit meinen Kindern. Ich hustete, es wurde still und feierlich, und sie stieg mit kleinen Schritten die Treppe hinauf zu mir und sagte mit einer sehr wichtigen Miene: Ich hieß die Kinder drunten bleiben […] Abends sagte sie als die Älteste: Vater, komm, wir bringen dir einen Stuhl; erzähl’ uns eine Geschichte – gelt? und ich sah alle |101| diese paradiesischen Blicke vor Erwartung strahlen. So stiftete ich denn Mord und Blutbäder an, machte die Schatten an der Decke zu Helden meiner Romane, und beständig lachten diese vier unschuldigen Gesichter, wie man in jenem Alter lacht, wenn man hört, wie große, ungeheuer dumme Riesen von kleinen, ungeheuer klugen Zwergen überwunden werden; und während ich erzählte, saß die Mutter träumend und sah zu, wie sie ihr helles Gelächter aufschlugen, und der Großvater, der in seinem Winkel saß, richtete zuweilen den Blick nach ihnen hin, und ich selbst sah durch die dunkle Scheibe ein Stück Himmel sich öffnen.«
Durch das Abendgebet des Kindes, das berühmte »Gebet für Alle«, nicht nur für Vater und Mutter, sondern auch für die Armen, die Verlassenen, die Schlechten, erweitert der Begriff von der Familie sich zur ganzen großen Menschenfamilie. Hier in »Les feuilles d’automne« hat die Menschlichkeit, wie in »Die Orientalen« die Unmenschlichkeit ihren poetischen Ausdruck gefunden.
Wenn der Dichter allein sitzt und seine Phantasie über die schiefe Ebene des Traumes hingleiten läßt, so denkt er zuerst an seine Lieben, sieht seine Freunde, einen nach dem anderen, dann seine näheren und ferneren Bekannten, danach auch die Unbekannten, endlich die ganze Menschheit und lebende wie ausgestorbene Städte samt ihrer Bevölkerung, bis sein Blick sich verliert im Hinausstarren über das doppelte Meer der Zeit und des Raumes, des Endlosen und des Bodenlosen – des Endlosen, das ewig hinabrollt in das Bodenlose. Jenes Unendliche, das Hugos großer Vorgänger, André Chénier, verschmähte, jenes religiöse Gefühl, das sich bei diesem, dem Kinde des achtzehnten Jahrhunderts, nicht regte, tritt, geläutert vom Aberglauben der Reaktionszeit, bei Hugo von neuem in seine Rechte.
Der Dichter besteigt eine Anhöhe des Strandes und hört von da aus eine doppelte Musik: eine vom Meer und eine vom Lande. Jede Welle hat ihr Murmeln, jeder einzelne Mensch seine Stimme, |102| seinen Seufzer, seinen Schrei; und die Stimmen der Menschen und der Wellen verschmelzen zusammen zu zwei ungeheuren, ergreifenden Chören: dem Gesang der Natur und der Klage der Menschheit.
Hier tritt uns die Unendlichkeit nicht mehr als das bloß Monströse entgegen, wie sie hie und da in »Die Orientalen« erscheint, sondern wie ein Meer, wo zu scheitern es natürlich und (nach Leopardis bekanntem Ausspruch) süß für den Gedanken ist.
Die Gedichtsammlung, die nun folgte, »Le chants du crépuscule« (Dämmerungslieder) ist, verschieden von den vorausgegangenen, nicht mehr dem häuslichen Leben gewidmet, sondern überwiegend politisch. Sie führt, so zu sagen, ein Tagebuch über die politischen Begebenheiten der letzten Jahre. Bekanntlich erlitt Victor Hugos politische Überzeugung viele Modifikationen – er begann damit, dem legitimen Königtum zu huldigen, und endete damit, an die soziale Republik zu glauben – doch wie stark seine Entwickelung gewesen, niemals fehlte ihr die Konsequenz. Von seiner Mutter, einer warmherzigen Bretagnerin, war er in legitimistischem Geist erzogen, von seinem Vater, einem General unter dem Kaiserreich, – in bonapartistischer Richtung beeinflußt worden, und daher rührt es, daß der Ultra-Royalismus seiner ersten Jugend schnell von der Bewunderung für Napoleon abgelöst wurde, der im Lauf der Jahre eine mythische Gestalt geworden war. Von 1830 an ist Victor Hugo ein Anhänger der Zukunftsrepublik; in Vorbereitung hierzu stützte er das konstitutionelle Königtum, ja, ließ sich sogar von Louis Philipp zum Pair von Frankreich ernennen und nahm später die Hilfe des Königs an, als man aus Grund einer seinerzeit vielbesprochenen Liebesgeschichte ihn aus der Pairskammer ausstoßen wollte. Zu dem Zeitpunkt, bei dem wir stehen, kann er zunächst als loyal oppositionell bezeichnet werden. Seine Ge- . dichte verherrlichen die Julitage und ihre Märtyrer und äußern Entrüstung über die Weigerung der Deputiertenkammer, Napoleons Leiche nach Frankreich zurückzuführen – ein Vorschlag, |103| gegen den das Königshaus nichts einzuwenden hatte, und der späterhin, wie bekannt, von dem Prinzen von Joinville verwirklicht wurde. Das Gedicht gegen Deutz, welcher die Herzogin von Berry für Geld an die Regierung Ludwig Philipps auslieferte (A l’homme qui a livré une femme), trifft jedoch indirekt nicht nur Thiers, sondern den König selbst.
Übrigens ist dies eine nicht auf politische, sondern auf soziale Sympathien begründete Opposition. Die Enttäuschungen des Proletariats über die geringe Ausbeute, welche die Julirevolution ihm gebracht, der dumpfe Haß gegen die Wohlhabenden, der in den Massen gährte, kommt besonders in dem Gedicht »Sur le bal de l’hôtel de ville« zu Worte, das jenes meisterliche Bild von der weiblichen Straßenbevölkerung giebt, die, schön geschmückt, halbnackt ebenso wie die Damen, welche zum Ball kommen, »mit Blumen im Haar, den Schmutz der Gossen an ihren Füßen und den Haß im Herzen,« sich als Zuschauer um die heranfahrenden Wagen sammelt.
Unbestimmte Angst und Unruhe, mahnende Worte an die Könige Europas, sich bei Zeiten Freunde unter dem Volke zu erwerben, verraten, daß der Dichter die Hand am Puls der Zeit hat.
In welch’ lebendiger Beziehung zur Zeit die Dichtung Hugos stand, beweist kein Umstand besser als der, daß das Julikönigtum die Ausführung seiner Dramen ebenso hartnäckig verbot, wie die Restauration es gethan. Zwar war Hernani zur Ausführung gelangt, weil Karl X. denjenigen, die ihn angingen, das Stück zu verbieten, witzig geantwortet hatte, was das Theater betreffe, so sei sein Platz unter den Zuschauern, wie der jedes anderen. Dennoch verbot er, trotz persönlicher Vorliebe für Hugo, »Marion de Lorme«, weil man fürchtete, die Schilderung von dem Verhältnis Ludwigs XIII. zu Richelieu könne als Hohn auf den von der Geistlichkeit abhängigen König gedeutet werden. Es ist einer der |104| schönsten Züge in Hugos Geschichte, daß er nach Karls X. Sturz viele Jahre hindurch selbst das Verbot aufrecht erhielt, um zu verhindern, daß man die Aufführung als Demonstration gegen den gestürzten Monarchen auslege, an dessen Recht er als Jüngling geglaubt, und dessen Unglück er seinerseits schonen wollte. Jedoch zu diesem freiwilligen Verbot kam nun von Seite der Juliregierung ein ungesetzliches, der Protest gegen die Aufführung des Dramas »Le roi s’amuse«. In seiner Verteidigungsrede während des Prozesses sagte Hugo die beißenden Worte:
»Auch Bonaparte war Despot, aber er benahm sich in anderer Weise. Er verschmähte die Vorsichtsmaßregeln, womit man heutzutage unsere Freiheiten, eine nach der anderen, forteskamotiert. Er nahm alles auf einmal und mit ganzer Hand; der Löwe hat nicht Sitt und Brauch des Fuchses Damals, meine Herren, war es groß. Man sagte: an dem und dem Tage will ich meinen Einzug in die Hauptstadt halten, und man hielt seinen Einzug auf Tag und Stunde, wie man gesagt. Man setzte ein Königshaus ab durch ein Dekret im Moniteur. Man ließ Könige aller Sorten in den Vorzimmern sitzen und einander drängen. Hatte man Lust zu einer Säule, so ließ man den Kaiser von Osterreich die Bronze dazu liefern. Man ordnete – ganz gewiß ein bischen willkürlich – die Schauspielverhältnisse am Théâtre français, aber das Reglement war aus Moskau datiert. Damals war es groß, jetzt ist es klein.«
Dies ist in Grundzügen Hugos poetisch-politische Physiognomie zu Anfang der dreißiger Jahre. Seine Haltung war die eines Führers und Propheten.
Unterdessen arbeiteten seine jüngeren Freunde rings um ihn her sich zur Berühmtheit empor. Es war, als ob Hugos Persönlichkeit und sein Haus die Poesie weiterpflanze. Fast alle, die dort verkehrten, offenbarten sich nach und nach als Poeten. Hugo bat zuweilen Sainte-Beuve, ein paar Verse herzusagen, und wenn diesem von allen Seiten zugesetzt wurde, entschloß er sich, nachdem er der |105| kleinen Leopoldine und dem kleinen Charlot eingeschärft, während seines Vortrags tüchtig Spektakel zu machen, einige seiner schönen und manierierten Gedichte zum besten zu geben. Hugos Schwager, Paul Foucher, führte den siebenzehnjährigen Alfred de Musset ins Haus ein. Eines Morgens besuchte er Sainte-Beuve auf seiner Dachkammer, weckte ihn und sagte verlegen lächelnd zu ihm: »Auch ich mache Verse.«
Die Verse, die er machte, sind weltberühmt geworden.
Fragt man in Frankreich einen Laien, einen Mann aus dem Volke, einen Arbeiter, oder unter den Schriftstellern einen Romantiker oder einen Parnassien: Wer ist Frankreichs größter Dichter in der Neuzeit? so wird er unzweifelhaft antworten: Victor Hugo. Fragt man hingegen einen Mann aus dem höheren Bürger- oder Beamtenstand, einen Gelehrten, einen Weltmann oder ein Mitglied der jungen naturalistischen Schule, fragt man endlich die Damen, so ist die Wahrscheinlichkeit dafür groß, daß sie antworten: Alfred de Musset. Worauf beruht diese Uneinigkeit und was bedeutet sie?
Alfred de Musset debütierte im Januar 1830, neunzehn Jahre alt, mit »Contes d’Espagne et d’Italie«: einer Gruppe Sujets von skandalöser Unanständigkeit, Stoffe, deren Einzelnheiten sich kaum wiedererzählen lassen. In den größeren Kompositionen (Don Paez, Portia etc.) Betrug über Betrug: Frauen, die ihre Männer belügen, Geliebte, die ihre Liebhaber hintergehen, Liebhaber, die ihre Dame Anderen abtreten; Gräfinnen, die nichts mehr von ihrem Liebhaber wissen, als daß er ihren alten Mann erdolcht hat – brutale Genüsse, die man mit dem Degen erkämpft, eine sechzehnjährige Sinnlichkeit, die weder Scham noch Rücksichten kennt, eine greifenhafte Verderbtheit, welche Liebestränke zu Hilfe nimmt und Wollust in das Röcheln des Todes mischt – darunter eine Reihe Gesänge, die Funken von Leidenschaft, Wildheit und Übermut sprühen. Shakespeares beide Erstlingswerke sind nicht sinnlicher als diese Gedichte, und dabei ist die Feurigkeit |106| hier zugleich raffiniert und ausgelassen. Dazu ein unaufhörliches Zurschaustellen von Unglauben und Atheismus, das seltsam von unbewußten Eingeständnissen der Schwachheit und einer hier und da auftauchenden Sehnsucht nach der Kirche und dem Kreuze absticht.
Als Echo des Buches erfolgte einiges Ärgernis und viel Begeisterung. Ein Teil der Jugend stutzte und wurde aufmerksam. Dies war eine Romantik ganz neuer Art, eine freiere, weniger doktrinäre als jene Victor Hugos. Hier traf man einen noch schärferen Trotz gegen die Regeln der Klassiker über Versbau und Stil, aber dieser Trotz war mutwillig und witzig, nicht martialisch wie derjenige Hugos. Ein Element, das Hugo gänzlich fehlte, jedoch das am meisten französische Element von allen, das man in der Sprache des Landes »Esprit« nennt, belebte hier die Polemik. Diese spottende, alles ins lächerliche ziehende Romantik erquickte nach der feierlichen, pathetischen Art Victor Hugos Auch hier waren es Spanien und Italien, die vorgeführt wurden; auch hier fanden sich mittelalterliche Dekorationen, Degenstöße und Serenaden, aber all’ dies gefiel noch einmal so gut mit diesem Zusatz von Übermut, mit dieser spottenden Feinheit, diesem Skeptizismus, der kaum an das glaubte, was er selbst erzählte. Da war z. B. jene berüchtigte, über alle Maßen unanständige Ballade an den Mond, die durch ihren Strophenbau die Klassiker und zugleich nicht weniger die Romantiker durch ihr respektwidriges Verhältnis zu ihrem Gegenstand – dem Liebling der Romantik – herausforderte, eine Ballade, die ihre eigene Form parodierte, und deren Dichter aus den Händen zu gehen und nach allen Seiten Purzelbäume zu schlagen schien.
Hugo hatte durch seine heldenhafte Haltung und seine Riesenschritte Ehrfurcht geboten; seine mächtige Rhetorik rief ehrerbietige Bewunderung hervor; diese unglaubliche Grazie in der Flottheit hingegen, diese geniale Unverschämtheit in der Schelmerei wirkte befreiend und zugleich packend. Es war jenes verteufelt Unwider|107|stehliche darin, worüber die Frauen die besten Richter sind und in diesem Falle es auch waren. Er sprach von den Frauen, unaufhörlich von den Frauen, und nicht wie Hugo in seiner frühzeitigen Reife mit ehelicher Treue, mit ritterlicher Zärtlichkeit, mit romantischer Galanterie – nein, im Gegenteil, mit einer Leidenschaft, einem Haß, einer Erbitterung und einer Raserei, die verrieten, daß er sie zugleich verachtete und anbetete, daß er durch sie leiden mußte bis zu wildem Aufschrei, und daß er sich durch stürmische Anklagen und sprudelnden Spott rächte.
Keine Reise, keine Gesundheit, keine sittliche Schönheit, aber eine Jugend, die kochend Überschäumte, eine unerhörte Intensität des Lebens, die sich nicht besser beschreiben läßt, als man die hochrote Farbe jenem Blinden zu beschreiben vermochte,« der antwortete: Sie erinnert also an das Schmettern einer Trompete. Und in diesen Versen war etwas von hochroter Farbe und von Fanfarenklang. Daß die Schönheit in der Kunst unsterblich ist, das ist gewiß. Aber es giebt etwas, das in der Kunst noch unsterblicher ist: das Leben. Diese ersten Gedichte lebten. – Dann folgten seine gereiften und schönen Werke, und die Blicke erweiterten sich für seine Vorzüge. Er selbst hat in dem Gedicht »Après une lecture« seine Poetik dargestellt. Sie lautete so:
»Der, wenn die erstickte Brife aus der Tiefe der Wälder seufzt, nicht den Trieb fühlt, hinauszugehen, allein, wohin der Weg ihn führt, eine oder die andere Melodie summend, noch wahnsinniger als Ophelia gewesen mit dem Rosmarinkranz im Haar, noch mehr schwindelig als ein Page, der in eine Fee verliebt ist und auf seinem zerknüllten Hut das Tamburin schlägt […]
Der in solchen heißen Nächten, wo selbst der Venusstern vor Liebe erbleichen will, nicht auf seine bloßen Füße sprang, ohne selbst zu wissen, warum, der nicht laufen, beten, strömende Thränen weinen und seine Hände vor dem Unendlichen falten mußte, das Herz voll Mitleid mit unbekannten Qualen […]
|108| Den laßt schmieren und verbessern, so lang es ihm beliebt, laßt ihn reimen nach Herzenslust, laßt ihn das Flittergold der Antithese auf seine Lappen flicken und zuletzt stolz nach dem Pere Lachaise getragen werden mit den Dummköpfen der ganzen Welt als Leichengefolge: Ein großer Mann, wenn man will; aber ein Dichter? Nein, und abermals nein!«
In dem Ausfall gegen jene, die sich mit Antithesen schmücken, wird Victor Hugo und seiner Schule ein Hieb versetzt, und hierin offenbart sich das Überlegenheitsgefühl des reinen Lyrikers gegenüber dem genialen Rhetoriker; im Überströmen des Gedichtes ist eine Schwärmerei, eine Begeisterung für Poesie und ein dichterisches Selbstgefühl, das an Goethes »Wanderers Sturmlied« erinnert.
Und während Musset sich nun als Mann und Künstler entwickelte, offenbarte er mehr und mehr Vorzüge, welche diejenigen Victor Hugos überstrahlten. Er eroberte die Lesewelt durch seine tiefe Menschlichkeit. Er gestand seine Schwächen und Fehler ein; Victor Hugo fühlte sich verpflichtet, unfehlbar zu sein. Musset war nicht der wundervolle Verskünstler wie Hugo, er vermochte nicht, wie dieser, das Metall der Sprache auf einem Ambos zurechtzuhämmern und die Juwelen des Wortes in Gold zu fassen. Er schrieb nachlässig, reimte ungefähr, noch schlechter als Heine; aber er war niemals Rhetor, stets Mensch. Freude und Qual waren bei ihm von einer Wahrheit, die ewig schien. Warf man eines seiner Gedichte auf einen Haufen solcher von anderen Verfassern, so wirkte es wie Scheidewasser. Alles umher wurde verzehrt wie Papier, verdunstete wie bloße Worte – dies allein blieb und brannte und klang in seiner schneidenden Wahrheit wie der Schrei aus einer Menschenbrust.
Worin lag es alsdann, daß nicht er, sondern Hugo der Beherrscher der Litteratur und der Führer der jungen Schule wurde?
|109| Es lag daran, daß man auf ihn die Worte des oben citierten schwärmerischen und spöttischen Gedichtes umgekehrt anwenden kann: »Dichter, ganz gewiß, aber ein großer Mann? Niemals, in aller Zeit!«
Bei Hugo fand sich politisch und religiös, trotz der verschiedenen Standpunkte, die er im Laufe seines langen Lebens einnahm, eine gewisse ununterbrochene Linie, eine Entwickelungsnorm, und vor allem eine nie versagende Würde. Wie er in seiner Poesie den häuslichen Herd hochhält, so befestigt er immermehr seine Überzeugungen von Gesellschaft und Staat.
Musset beginnt mit einer hochgespannten Überlegenheit, er stellt den äußersten Unglauben und den äußersten politischen Indifferentismus zur Schau. Hinter diesem Unglauben und dieser Gleichgültigkeit schimmert indes bald eine unmännliche Schwachheit hervor, die sich allmählich völlig offenbart.
Man lese seine maskierten Selbstbekenntnisse in »Confessions d’un enfant du siècle«. Er ist zu einem unglücklichen Zeitpunkt geboren; alles war tot. Die Zeit Napoleons war vorüber, und recht, als ob es keinen Ruhm außerhalb des Kaiserreiches geben könne, heißt es, daß die Zeit der Ehren vorbei war. Der Glaube war erloschen; es gab nicht mehr zwei Stücke schwarzen Holzes in Kreuzesform, wovor man seine Hände falten konnte; und als ob diejenigen, die sich nicht an die katholische Symbolik gebunden fühlen, deshalb kein Herz und kein Seelenleben hätten, wird dies so umschrieben: die Seele war tot. Ferner wird erzählt, daß einige, die einsahen, daß die Zeit des Ruhmes vorüber, vom Rednerstuhl verkündigten, die Freiheit sei noch etwas schöneres als der Ruhm, und daß das Herz der Jugend bei diesen Worten schlug wie in einer fernen, furchtbaren Erinnerung »Doch,« heißt es, »als die jungen Leute heimgingen, nachdem sie dies gehört, begegneten sie einem Zug mit drei Korbsärgen, die man zum Kirchhof trug; es waren die Leichen von drei jungen Männern, die |110| allzu laut über Freiheit gesprochen hatten« – und gleich als ob die Verzweiflung der Blasiertheit die einzige Lehre sei, die ein Mann aus dem Tod solcher Märtyrer ziehen kann, heißt es, daß bei diesem Anblick ein seltsames Lächeln ihre Lippen kräuselte, und kopfüber stürzen sie sich in die wahnsinnigsten Ausschweisungen.
Nach diesem Grundthema hat Musset eine Reihe seiner Vorzüglichsten Mannestypen geschaffen, selbst die geniale Gestalt Lorenzaccio. In seiner Jugend bildete er die berühmteste seiner typischen Figuren, Rolla, danach.
In keinem Gedicht tritt das Unsichere und Schwankende, das Weibische in Alfred de Mussets Lebensanschauung schärfer hervor als in »Rolla«.
Den Einleitungsabschnitt eröffnet der bekannte Gesang der Sehnsucht nach dem griechischen Altertum mit seiner lebensvollen Schönheit und nach dem christlichen Altertum mit seinem reinen Aufschwung und frischen Glauben, als die ehrwürdigen Kathedralen von Köln und Straßburg, als Notre Dame und St. Peter fromm in ihren Steinröckenlknieten und die große Orgel der Völker in das Hosiannah der Jahrhunderte einstimmte.
Dann folgt der noch berühmtere Passus:
»O Christus! ich gehöre nicht zu denen, welche das Gebet in deine stummen Tempel zieht. Aufrecht steh ich in deiner geweihten Halle; denn ich glaube nicht, o Christus, an dein heiliges Wort. Ich bin zu spät in einer zu alten Welt geboren. Golgathas Nägel können dich kaum mehr am Kreuze halten; deine himmlische Leiche ist zu Staub zerfallen. Aber gestatte mir, dem wenigst leichtgläubigen Kinde dieses ungläubigen Jahrhunderts, diesen Staub mit Wehmut zu küssen!«
Nun folgt die Erzählung: Jacques Rolla war der ausschweifendste junge Mann in dem ausschweifenden Paris. Er verachtete alles und alle: »Niemals hegte ein Adamssohn eine tiefere |111| Verachtung gegen Volk und Könige.« Rolla hat nur ein geringes Vermögen, aber großen Hang zum Wohlleben und Luxus. Die Gewohnheit, welche für die anderen das halbe Leben ausmacht, ekelt ihn an. Darum nimmt er die kleine Erbschaft, die ihm fein Vater hinterließ, verteilt sie in drei Beutel und bringt jedes Jahr ein Drittteil seines Vermögens mit schlechten Weibern und in allerhand Torheit durch, ohne ein Geheimnis daraus zu machen, daß er sich eine Kugel vor den Kopf schießen will, wenn das letzte Jahr vorbei ist.
Und kraft feiner zweiundzwanzig Jahre nennt Musset seinen Rolla groß, unerschrocken, ehrlich und stolz. Seine Liebe zur Freiheit – und unter Freiheit versteht Musset die Unabhängigkeit von jeder Thätigkeit, jeder Lebensaufgabe, jeder Pflicht – idealisiert ihn in den Augen des Dichters.
Nun schildert er die Nacht von Rollas Selbstmord in dem berüchtigten Hause, die Vorbereitungen zu der Orgie, das sechzehnjährige Mädchen, welches von der eignen Mutter hingebracht wird; und der Dichter beginnt seinen Trauergesang über die tiefe Korruption der Gesellschaft, über die Mutter, die ihr Kind verkauft, über die Armut, welche zur Kupplerin wird, über die billig gekaufte Strenge und die geheuchelte Tugend der glücklicher gestellten Frauen.
Und nun folgt die berühmteste Stelle in dem Gedicht, die Apostrophe an Voltaire:
»Schläfst du vergnügt, o Voltaire, und spielt dein häßliches Lächeln noch um deine fleischlosen Lippen? Man sagt, deine Zeit sei zu weit zurück gewesen, um dich zu verstehen. Unser Jahrhundert muß dir gefallen. Freue dich, deine Zeit ist gekommen. Über uns zusammengestürzt ist er, der ungeheure Bau, den du Tag und Nacht untergrubst in den achtzig Jahren, da du dem Tod den Hof machtest. Tröste dich! Er, der jetzt hier ausatmen wird, hat dich gelesen!«
|112| Was hat Voltaire mit dem Tode dieses jämmerlichen Verschwenders zu thun? Ist der große Arbeiter verantwortlich für den Selbstmord dieses faulenzenden Wüstlings? Ist dies die Welt, wie Voltaire sie sich träumte, diese Welt von sinnlosen Wagehälsen und willenlosen Weibern? Voltaire, dessen Wesen Verstand war, dessen Hände nur von Pulverschwärze verunreinigt waren, und dessen Leben ein willensstarker Kampf für das Licht gewesen? Er soll schuld sein an diesem Elend? Und warum?
Weil er keinen dogmatischen Glauben hatte.
Also Mangel an dogmatischem Glauben ist es, was Rolla zum Vorwand dient, wie ein Tier zu leben und wie ein Bube zu sterben. Man sieht, was nach Verlauf weniger Jahre aus dem herausfordernden Trotz, womit der Dichter austrat, geworden ist. Der Trotz hat sich in haltungslosen Zweifel aufgelöst, die Verleugnung ist zur hoffnungslosen Verzweiflung geworden.
Wie gesund und kräftig, wie in sich abgeschlossen nimmt nicht Hugos ruhigere Haltung sich dagegen aus! Zwar hat auch er und noch später (in dem Gedicht Regard jeté dans une mansarde, 1839) sich mit leidenschaftlicher Ungerechtigkeit gegen Voltaire ausgesprochen, aber er hat ihn seit damals immer besser und tiefer verstanden, bis er zuletzt seine Erbschaft angetreten hat. Man versteht nun, daß er trotz alledem fortfuhr, die zentrale Stellung in der französischen Litteratur einzunehmen.
Nicht das feinste und auserlesenste poetische Talent ist es, das die Leitung in der Litteratur behauptet. Sie fällt nicht dem Talent zu, sondern der ganzen Persönlichkeit. Derjenige, der zu einem gegebenen Zeitpunkte das Herz der Zeit in seiner Brust pochen fühlt, die Gedanken der Zeit in seine Intelligenz aufnimmt und den festen Willen hat, der Litteratur den Stempel von diesen seinen und des Zeitalters Gefühlen und Ideen auszudrücken – der ist der geborene und der bleibende Führer.
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