Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[130]| X.

Alfred de Musset wurde siebenundvierzig Jahre alt, aber mit Ausnahme von drei reizenden kleinen Dramen und einigen Gedichten fällt seine ganze Produktion in die Zeit vor seinem beginnenden Mannesalter. In den sechs Jahren nach dem Bruch mit George Sand, bis er die Dreißig erreicht, schreibt und veröffentlicht er die ganze Reihe seiner bewunderungswürdigen Arbeiten.

Von George Sand betrogen, nimmt die Lust, beim Betrug zu verweilen, samt der angenommenen Blasiertheit immer mehr bei ihm ab. Man spürt in seinen Werken, ja schon in der Beschaffenheit der Stoffe, die er wählt, den persönlichen Kampf des Dichters, die lasterhafte Maske abzulegen und selbst von der Anziehungskraft des Lasters sich zu befreien. Die erste große Komposition, die er nach seiner Heimkehr von Italien ausführt und wozu der Aufenthalt in Italien ihm die Idee gegeben, ist das Drama »Lorenzaccio«. Aus demselben Geschlecht stammen Lorenzo von Medicis und sein Vetter, der tierisch-grausame und wollüstige Herzog von Florenz, Alexander. Lorenzo ist ursprünglich eine reine und thatkräftige Natur; Frühzeitig trägt er sich mit dem Entschluß, nach Brutus’ Beispiel die Welt von einem Tyrannen zu befreien. Um sein Ziel zu erreichen, giebt er sich den Anschein eines herzlosen Libertin, macht er sich zu Alexanders Gefährten, zu seinem Werkzeug, Vergnügungsrat und Kuppler. Wie Hamlet sich toll stellte, hat er die Rolle eines feigen, erbärmlichen Lüstlings angenommen, um sein Opfer sicher zu machen und sich desselben zu bemächtigen. |131| Doch die Verkleidung, in die er sein wahres Wesen hüllt, klebt an ihm fest wie ein Nessushemd; allmählich ist er fast all das wirklich geworden, was er doch nur scheinen wollte; gegen seinen Willen hat er die Verderbnis, die er selbst in der Atmosphäre des Hofes und der Stadt verbreiten half, eingesogen; er fühlt Ekel vor sich selbst, wenn er sein Leben betrachtet. Aber dennoch ist er verkannt: denn durch die Schlechtigkeit und die verstellte ohnmächtige Feigheit hindurch verfolgt er unverrückt seinen Plan, im rechten Augenblick Alexander zu ermorden und die Republik zu errichten.

Er wird von Menschenverachtung verzehrt: er verachtet den Fürsten, weil derselbe ein Wüstling und Bluthund ist; das Volk, weil es sich von einem solchen Fürsten regieren läßt und weil es ihm selbst, dem Fürstendiener, gestattet, unangefochten und ungestraft durch die Straßen von Florenz zu gehen; die Republikaner endlich, weil sie ohne Thatkraft und ohne politischen Blick sind. Sein Traum ist, sich von der Unsauberkeit eines ganzen Lebens zu reinigen durch eine einzige That, eine große und entscheidende – den Fürstenmord; und der Dichter läßt ihn auf diese Art sich läutern: Lorenzo wirft sein angenommenes Wesen von sich, richtet und straft wie ein Racheengel. Mussets politischer Pessimismus offenbart sich in dem, was nun folgt: Lorenzaccio erntet keinen anderen Lohn für seine Großthat als den, von der Hand eines Meuchelmörders zu fallen, der den Preis heben will, welcher auf seinen Kopf gesetzt ist; die republikanischen Führer von Florenz sind zu stumpf und unpraktisch, die Bevölkerung selbst ist zu tief gesunken, um aus dem Mord des Herzogs Vorteil ziehen zu können; sie läßt sich ruhig von dem nächsten Tyrannen überrumpeln. An der Geringschätzung der Republikaner, die hindurch schimmert, haben sicher Eindrücke von 1830 ihren Anteil. Musset hatte ja selbst einmal eine Revolution, welche auf die Republik hinlenkte, in das monarchische Fahrwasser einlaufen sehen. In seinem Stück sind indes die Republikaner in ein ungünstigeres |132| Licht gestellt, als sie verdienen. Lorenzaccio teilt ihnen am Abend vor dem Morde ganz bestimmt Tag und Stunde mit, wann er den Herzog töten will; aber kann man ihnen verdenken, wenn sie keine Vorbereitungen treffen? Da derjenige, der von der Straße diese große Neuigkeit in ihre Häuser ruft, kein anderer ist als der Unzertrennliche des Herzogs, sein Mitschuldiger, sein Hofnarr – was Wunder, daß sie die Achseln zucken und sich nicht vom Flecke rühren! Man fühlt aus Mussets Ungerechtigkeit in diesem Punkte persönliche Stimmungen heraus, die über das Stück hinaus deuten. Doch die Hauptsache für ihn war die Darstellung von Lorenzos Charakter mit dem edlen Gepräge unter der abschreckenden blasierten Maske. Lorenzo hat ein ideales Element in seiner Seele, dessen er sich nicht schämt; er strebt empor, er glaubt an die versöhnende Macht der That. Das, was ihn im Tode läutert, ist nicht wie Rollas reiner Kuß ein Zufall, sondern eine Handlung, die ihm während seiner ganzen Jugend vorschwebte.

In »Le chandelier« befinden wir uns noch in sehr verderbter Gesellschaft, aber von diesem Hintergrund hebt sich als Hauptfigur der junge Schreiber Fortunio ab mit seiner tiefen, grenzenlosen Liebe zu Jacqueline. Er wird von ihr und ihrem Geliebten mißbraucht, er muß als Schild und Deckmantel für deren schmutziges Liebeseinverständnis dienen; er durchschaut das Spiel und liebt gleichwohl, ja ist vollkommen bereit, sich in den sichren Tod senden zu lassen, um die häßliche Verbindung der Geliebten mit einem Anderen zu decken. Dieser Page hat die Entschlossenheit und den Mut eines Helden, und die Reinheit seines Wesens wirkt so stark, daß sie Jacqueline rührt und gewinnt, ja sie bestimmt, sich von Clavaroche ab- und ihm zuzuwenden. Er ist das Ideal eines jugendlichen Liebhabers.

Octave in »Les caprices de Marianne« ist ein leichtsinniger und in mancher Beziehung verderbter Jüngling, der einer ernstlichen Liebe nicht fähig ist, der, um ein Weib zu erobern, nicht so |133| viel Zeit darauf zu verwenden der Mühe wert findet, als er braucht, um das Siegel von einer Flasche südländischen Weins zu lösen; aber er besitzt ein Gefühl, in welchem er naiv und gläubig ist wie ein Knabe, und dies ist die Freundschaft: er liebt seinen Freund, den jungen Eoelio, so unbedingt, daß er bereit ist, für ihn zu sterben oder seinen Tod zu rächen, und so treu, daß er der Dame, welche Coelio vergebens anbetet, ihre Gunst vor die Füße wirft. So skeptisch Octave auch den Frauen gegenüber ist, so völlig geht er in seiner Freundschaft auf: er ist ein Ideal von einem Freunde. Den Gegensatz von ihm bildet Coelio, in welchem Musset, da er in diesem Drama seine eigene Persönlichkeit teilt, die andere Seite seines Wesens schildert. Coelio ist der jugendliche Liebhaber, dessen Liebe lauter anbetendes Schmachten ist, ein Begehren, so schwermütig in seiner Glut, daß er den Tod herbeizurufen scheint, wenn es nicht befriedigt wird. Ein Nimbus von Shakespearescher Romantik umschwebt sein Haupt; seine Rede ist Musik, seine Träume Poesie. Er schildert sich in den Worten: »Mir fehlt Gemütsruhe und die stille Unbekümmertheit, welche das Leben zu einem Spiegel macht, worin alle Gegenstände nur während eines Augenblickes erscheinen und wieder vergehen. Schulden sind für mich eine Gewissenslast. Liebe, aus der ihr Anderen einen Zeitvertreib macht, bringt mein ganzes Wesen in Aufruhr.«

Man merkt an diesen Mannesgestalten, wie Musset als Dichter gereift ist. Er strebt nicht mehr danach, nur die überschäumenden Triebe der Jugend oder das wilde Spiel der Leidenschaften mit all’ ihren Folgen von Lüge, Betrug und Gewaltthätigkeit zu schildern; er weilt lange und mit Vorliebe bei dem unschuldigen; tiefen Gefühl, dem die Schuld nur infolge äußerer Verhältnisse innewohnt – bei der Liebe, die in ihrem Wesen rein und nur wegen ihres Bruches mit der Gesellschaftsordnung verbrecherisch ist, bei der Freundschaft, die in ihrem Kern heroische Hingebung ist, selbst da wo sie in der nichtswürdigen Form von Kupplerberedtsamkeit auftritt, kurz |134| bei Freundschaft und Liebe in ihrer Reinheit, bei den Lebensgewalten, welche man als die idealen zu bezeichnen pflegt.

Und wie der Mannestypus bei Musset immer mehr geläutert wird, so geschieht es allmählich auch mit dem weiblichen Typus. Von Anfang an schwankten seine Frauengestalten zwischen Dalila und Eva. Doch sein steigender Hang, das geistig Schöne und sittlich Reine darzustellen, führt ihn auch bei den weiblichen Figuren zu einem immer mehr hervortretenden Idealisieren. Es ist schon bezeichnend, daß die Frauengestalt, die er unmittelbar nach dem definitiven Bruch mit George Sand (1835) vorführt und zu welcher diese teilweise als Modell gedient, Madame Pierson in »La confession d’un enfant du siècle«, eine in hohem Grade idealisierte Wiedergabe von dem Naturell des Originals ist. Seine Novellen, von denen wenigstens drei: »Emmeline«, »Frédéric et Benerette« und »Le fils du Titien« zu den besten gehören, wenn sie nicht die besten sind, die unser Jahrhundert aufzuweisen hat, verraten immer deutlicher das Streben des Dichters, die Liebe und durch sie die weiblichen Charaktere zu idealisieren und zu verherrlichen. Er nimmt z. B. die Physiognomie von einer oder der anderen kleinen Grisette, die er kannte – ein gutmütiges, leichtsinniges, ja leichtfertiges muntres , Geschöpf; er giebt dieser Gestalt einen jungfräulichen Reiz, den sie längst verloren, und schafft aus ihr eine Mimi Pinson, oder er formt das junge Weib so seelenvoll, so naiv in allen seinen Fehlgriffen und Fehltritten, so wahr und feinfühlend in seiner Ausdrucksweise und so einfach in seinem Sterben wie jene Benerette, deren letzten Briefwenige ohne Thränen gelesen haben. Für ihn als Erotiker ist Liebe eine solch’ unumschränkte Macht, daß er sogar die Kunst ihr unterordnet. Liebender und Geliebter zu sein, dies gilt zuletzt in seinen Augen so viel mehr als Künstler zu sein, daß, nach seiner Vorstellung von dem Idealen, die Kunst im Grunde einer Einzigen geweiht und ausschließlich zugeeignet sein sollte: der einzig Geliebten. In der Novelle »Tizians Sohn « wird der |135| Held, eine begabte Künstlernatur, auf der Bahn der Ausschweifungen gehemmt durch die Liebe zu einer hochherzigen Frau; er beweist seinen dankbaren Sinn dadurch, daß er nur ein einziges Bild malen will, für das er alle seine Kräfte sammelt und das allein seinen Namen auf die Nachwelt bringen soll – nämlich das Porträt der Geliebten. Ihr zu Ehren schreibt er ein Sonett, worin er die Schönheit und die reine Seele der Erkornen preist, es ausspricht, warum er niemals eine Andere mit seinem Pinsel verherrlichen will, erklärt, daß, wie schön auch ihr Bild sei, es doch nicht einen einzigen Kuß von dem Original aufwiege. – Aber von allen Novellen Mussets ist sicher »Emmeline« die feinste. Es ist eine kleine Erzählung, welche auf dem ersten edleren, doch kurz währenden Liebesverhältnis beruht, das Musset nach dem Bruch mit George Sand durchlebte, und das in allem Wesentlichen demjenigen in der Novelle glich: Ein junger Mann verliebt sich leidenschaftlich in eine junge, verheiratete Dame, deren einnehmendes Wesen mit den zartesten Farben, doch auf Grund der sorgfältigsten Naturbeobachtung gemalt ist – nur Turgenjews duftigste Frauengestalten geben in der neueren Litteratur einen Begriff von dieser Kunst, aber sie sind geistiger, weniger real, mit einem verliebteren Blick gesehen und mit geringerer künstlerischer Kühnheit dargestellt. Nachdem er sie lange beobachtet, ohne Hoffnung ihr Interesse zu erwecken, gewinnt er endlich ihre Gegenliebe, und sie giebt sich ihm hin. Plötzlich werden sie für immer geschieden, sie, weil sie zu wahrheitsliebend ist, um ihren Mann zu betrügen, und er, weil er zu zartfühlend ist, als daß er sich nicht lieber entfernte, nachdem die Verhältnisse einmal so gegeben sind. In dieser Novelle kommt ein Gedicht vor, das der junge Liebende seiner Dame zu lesen giebt, und das mir die Blüte von Mussets Erotik aus der zweiten Periode seiner Dichtkunst zu sein scheint. Es redet die Sprache des idealen Gefühls. Es ist das berühmte Gedicht: »Si je vous disais, pourtant, que je vous aime|136| Alfred de Musset hat kaum eine seelenvollere Strophe geschrieben als diese:

J’aime, et je sais répondre avec indifférence;
J’aime, et rien ne le dit, j’aime, et seul je le sais;
Et mon secret m’est eher et chère ma souffrance;
Et j’ai fait le serment d’aimier sans ésperance;
Mais non pas sans bonheur – je vous vois, c’est assez.

Gleichzeitig mit diesen anmutigen, gleichsam auf Blumenblättern geschriebenen Novellen versaßt Musset einzelne kleine Dramen, worin die Liebe als die ernste, entsetzliche Macht dargestellt ist, mit der sich nicht scherzen läßt, als das Feuer, mit dem man nicht spielen darf, als der elektrische Funke, der tötet – und andere, worin sein Witz und sein Weltton in dem seelenvollen, gefühlsbewegten Gewebe des Stiles glänzen.*)*

*) Seine Reise nach Italien mit George Sand währt vom Herbst 1833 bis April 1834. Er schreibt in diesem Jahr: »0n ne badine pas avec l’amour« und »Lorenzaccio«; 1835 »Barberine« (fast sein unbedeutendstes Schauspiel), »Le Chandelier«, »Confession d’un enfant du siècle«, und »La nuit de mai«; 1836 »Emmeline« und »Il ne faut jurer de rien«; 1837 »Un Caprice«, »Le deux maîtresses« und »Frédéric et Benerette«; 1838 »Le fils du Titien«. »Il faut qu’une porte soit ouverte ou fermée« ist im Jahre 1845, »Bettine« 1851, »Carmosine« 1852 geschrieben.
Von diesen Schauspielen ist »Un caprice« das am meisten abgerundete und das, welches den sprudelndsten Dialog hat. In keiner von Mussets Komödien oder Proverbes ist die äußere und innere Form so vollkommen; und der Name »Un caprice« befindet sich mit Recht unter den Titeln der Werke, die aus seinem Leichenstein auf dem Pere-Lachaise eingegraben sind. In diesem Stück beugt sich die unstete erotische Laune, die Verliebtheit des Augenblicks, unter die Zucht des Ehestandes. Der Mann ist ist hier frivol und wenig zuverlässig, die Frauen, welche zusammenhalten, haben beide das Herz aus dem rechten Flecke, und die eine von ihnen besitzt überdies eine bezaubernde aristokratische Geistesüberlegenheit. Madame de Léry ist Pariserin. Keiner hat diesen Typus mit solcher Originalität gezeichnet wie Musset; hier war er |137| aus seiner Höhe. Ganz Weltdame, aber auch ganz Weib. Das Schöne an dieser Gestalt ist, daß man in ihr aus der höchsten Verfeinerung des Salonlebens die unverfälschte, frische, wahre Natur durchblicken sieht, Natur, trotz all’ der schimmernden und flimmernden Geistreichheit und all’ der zu frühen und etwas lebensmüden Erfahrung, Natur selbst in der Verstellung, Natur selbst in der kleinen Komödie; Madame de Lery ist als Weib Schauspielerin genug, um agieren zu können. Ach, sagt Goethe irgendwo in seinen Briefen, wie wahr ist es, daß nichts merkwürdig ist als das Natürliche, nichts groß als das Natürliche, nichts schön als das Natürliche und nichts zv. zc. zc. als das Natürliche! Bei Mussets Pariserin ist in der Kunst des überlegenen und übermütigen Gesellschaftstones die Natur bewahrt. »Un caprice« hat eine moralische Idee. Doch während viele Dichter die Liebe als etwas steinartig Festes und Solides schildern, das man greifen, jahrelang hinlegen und immer in demselben Zustand wiederfinden kann, ist sie für Musset, selbst wenn er am sittlichsten ist, beständig nur die feinste und allerstärkste, doch darum auch die flüchtigste Essenz des Lebens. Sie kann töten, während sie ihre volle Kraft hat, aber sie kann auch verdunsten.

In seinen letzten Schauspielen verherrlichte Musset mit Vorliebe die Treue Und Charakterreinheit der Frau, an welche Tugenden er glaubte, ohne sie selbst gefunden zu haben. Zwar hatte er schon in »Barberine« nach einer alten Sage das Ideal einer treuen Gattin im Stile von Shakespeares Imogen gezeichnet; doch das Stück war uninteressant. Er schließt als Dramatiker mit zwei vollendet herrlichen Frauengestalten.« In dem kleinen Meisterwerk »Bettine« hat er eine der für den Charakterzeichner schwierigsten Aufgaben spielend leicht und vollständig gelöst. Bettine tritt auf, und kaum hat sie drei oder vier Mal gesprochen, so fühlen wir, daß dies eine kräftige, kühne, tieffühlende und großdenkende Frauennatur ist, ja mehr als das: ein Genie, eine Künstlerin, eine Trium|138|phatorin, gewohnt, sich ihrer Umgebung geistig überlegen zu fühlen und keine Rücksicht auf kleinliche Konvenienz zu nehmen. Es ist ihr Hochzeitsmorgen. Singend betritt sie die Bühne, einen Raum, wo der Notar wartet, geht direkt auf diesen zu und redet ihn zu seiner Verwunderung mit Du an: »Ah, bist du da, Notar? Lieber Notar, lieber Freund, hast du deine Schreibereien bei dir?« Seine Amtswürde existiert für sie so wenig, daß sie kein Bedenken trägt, vor ihm ihre Hochzeitsfreude sehen zu lassen. Die muntere Güte ihrer Natur strömt bei dem geringsten Anlaß über. Sie ist nicht spirituell wie eine Weltdame, sondern frei, groß, vertraulich wie eine wahre Künstlerin, und die echte Menschlichkeit ihres Wesens hebt sich noch schöner ab von dem Hintergrund der sittlichen Aufgelöstheit, die ihr kalter, anspruchsvoller Bräutigam repräsentiert.

Das schöne kleine Drama »Carmosine«, dem eine Novelle von Boccaccio zu Grunde liegt, beweist, wie die stärkste und heißeste Liebe und Verehrung, welche äußerliche Verhältnisse von ihrem Gegenstand trennen, durch großmütige Güte und Fürsorge geheilt werden können. Carmofine ist ein einfaches Bürgermädchen; das den König Peer von Aragonien mit einer hoffnungslosen, verzehrenden Leidenschaft liebt; wegen dieses Gefühls will sie ihrem treuen und trauernden Anbeter Pedrillo die Hand nicht reichen, sie will schweigen und sterben. Doch der Gespiele ihrer Kindheit, der Sänger Minuccio, verrät aus Mitleid dem König und der Königin ihre Liebe; und weit entfernt zu zürnen, geht die Königin unerkannt zu ihr und lindert allmählich Carmofine’s Qual durch schwesterliche und königliche Worte, indem sie ihr erklärt, daß eine solche Liebe, so tief und groß, zu schön sei, um aus dem Herzenausgerottet zu werden. Die Königin selbst wolle sie unter ihre Ehrendamen aufnehmen und ihr dadurch Gelegenheit geben, den König jeden Tag zu sehen; denn eine solche Liebe wirkt veredelnd, die in dem Aufschwung der Seele zum Erhabenen beruht. »Ich selbst, Carmosine, will dich lehren,« sagt sie, »daß man lieben |139| kann, ohne zu leiden, wenn man liebt, ohne darüber zu erröten; nur Scham und Gewissensbisse verursachen Kummer; Traurigkeit ist nur des Schuldigen Loos, und deine Gedanken sind gewiß nicht schuldig.« Alsdann kommt der König unter dem Vorwand, ihren Vater besuchen zu wollen, und sagt in Gegenwart der Königin zu ihr:

»Ihr also seid es, holdes Fräulein, das, wie wir hören, krank und ins Gefahr ist? Euer Antlitz sieht nicht danach aus […] Ihr zittert, scheint mir – mach’ ich Euch bange?«

»Nein, Sire.«

»Nun, so gebt mir Eure Hand. Was bedeutet dies, mein schönes Kind? Ihr, jung und geschaffen, Andrer Herzen zu erfreuen, Ihr laßt den Schmerz Gewalt über Euch gewinnen? Wir bitten Euch, Ihr möget aus Liebe zu uns Mut fassen und dafür besorgt sein, daß Ihr rasch geheilt werdet.

»Sire, meine allzugeringe Kraft eine allzugroße Qual zu ertragen ist die Ursache meiner Leiden. Da Ihr mich beklagen konntet, wird mich Gott vielleicht davon befreien.«

»Schöne Carmosine, ich will als König und als Freund sprechen. Die große Liebe, die Ihr für uns heget, hat Euch die – höchste Ehre in unsrer Gesinnung erworben, und die Ehre, die wir Euch zum Entgelt erweisen wollten, ist die, mit eigner Hand Euch den Gatten zu geben, den wir für Euch erwählten, und den anzunehmen wir Euch bitten. Und darum wollen wir uns Euren Ritter nennen und in unsern Tournieren Eure Devise und Eure Farben tragen, ohne uns dafür etwas Andres von Euch auszubitten als einen einzigen Kuß.«

Die Königin zu Carmosine: »Thu’ es, mein Kind, ich bin nicht eifersüchtig.«

»Sire, die Königin hat für mich geantwortet.«

In welcher Welt geht solches vor? In welcher Welt hat die Luft, die man einatmet, eine solche Reinheit? Wo gedeiht eine |140| solche Rechtschaffenheit, wo besitzt die Liebe diese Demut bei aller Glut und zugleich diese Hoheit, und wo begegnet sie einer solchen Ritterlichkeit und Treue; wo ist sie so frei von Eifersucht bei einer so unendlichen Güte? Wo findet sich ein solcher König? wo eine solche Königin?

Die Antwort muß ohne Schwanken lauten: Im Lande des Ideals, nirgends sonst. An diesen Küsten landet der übermütige, cynische Musset zuletzt als Dichter, als Mensch dagegen weit ab von diesem Strand. Er ging in Selbstbetäubung zu Grunde. Die Zügellosigkeit, das Ungeregelte in seinem Wesen gereichte ihm zum Unglück. Während er in seinen Poesien immer geistiger und immer sittlicher wurde, versank er als Mensch immer tiefer in niedrige Ausschweifungen. Er verlor früh die Herrschaft über sich selbst; eine Zeit lang schwang er sich durch die Dichtkunst über den Verfall seines Lebens empor; zuletzt konnten auch diese Schwingen ihn nicht mehr erheben.

Er hatte viel vorn Julikönigtum gehofft, er hatte von oder unter demselben einen kunstliebenden Hof, eine freisinnige Politik, eine Erneuung der nationalen Ehre und das Aufblühen der schönen Litteratur erwartet. Man kann sich denken, wie bitter er enttäuscht wurde. Es wäre nicht unmöglich gewesen, daß ein Hof mit lebendigem Sinn für Poesie und schöne Künste, welcher Alfred de Musset in seinen Kreis gezogen, einen wohlthätigen Einfluß auf ihn geübt, ihn gezwungen haben würde, auf Anstand zu halten, und seine Genüsse, ja sogar seine Ausschweifungen verfeinert hätte. Doch Ludwig Philipp, dieser im übrigen so geschliffene und gebildete Friedens-Monarch, hatte nur wenig Sinn für Poesie und wenig Einblick in deren Wesen. Er verstand es ebenso wenig Alfred de Musset wie Victor Hugo für sich zu gewinnen. Musset, der ein Schulkamerad seines Sohnes Ferdinand von Orleans war, hatte im Jahre 1836 in Veranlassung von Meunier’s Attentat auf den König ein Sonett geschrieben. Es war ungedruckt, aber der Herzog |141| von Orleans, dem es zu Gesicht gekommen, und der es vortrefflich fand, wollte es absolut Seiner Majestät vorlesen. Der König erfuhr nicht einmal, von wem es war; denn ehe der Leser zu Ende gelangt war, war er so beleidigt darüber, daß der Dichter sich erdreistete, ihn zu dutzen, daß er kein Wort mehr hören wollte. Um die Kränkung gutzumachen, erwirkte der Herzog für Alfred de Musset eine Einladung zu den Tuilerienbällen. An dem Tage seiner Vorstellung bei Hofe, sah er zu seiner Verwunderung Ludwig Philipp direkt auf sich zugehen und hörte ihn mit einem Lächeln und einer Miene, die ihn angenehm überraschte, sagen: »Sie kommen geradeswegs von Joinville, ich freue mich, Sie zu sehen.« Alfred de Musset war zu sehr Weltmann, um Erstaunen zu verraten. Er verbeugte sich tief und grübelte darüber nach, was die Worte des Königs bedeuten könnten. Da entsann er sich, daß die Familie Musset in Joinville einen weitläufigen Verwandten hatte, der Forstinspektor auf den Krondomänen war. Der König, der sein Gedächtnis nicht mit litterarischen Namen plagte, kannte auf’s Haar die Namen all’ Derer, die bei seinen Domänen angestellt waren. Elf Jahre nach einander sah er jeden Winter mit derselben Freude das Gesicht seines vermeintlichen Forstinspektors wieder, fuhr fort, ihm ein Lächeln und Nicken zu spenden, das manchen Hofmann vor Neid erbleichen machte, und das für die Ehrenbezeigung galt, welche er der schönen Litteratur zollte – doch so viel ist ausgemacht, Ludwig Philipp ahnte niemals, daß unter seiner Regierung ein großer Dichter lebte, der denselben Namen trug wie sein Forstinspektor.«

Ein Regiment, so glanzlos wie dasjenige Ludwig Philipp’s, mußte für Musset ein Greuel sein. Seine kriegerische Antwort auf Becker’s »Rheinlied« mit ihrem stolzen und wilden Hohn deutet auf lyrische Möglichkeiten bei ihm hin, die sich unter anderen politischen Bedingungen entfalten hätten können. Nun fühlte er sich darauf beschränkt, der Dichter der Jugend und der Liebe zu sein; |142| und als die Jugend schwand, hatte er keine Mittel zur Selbsterneuung. Seine Tugenden nicht weniger als seine Laster stürzten ihn ins Verderben: stolz und vornehm, wie er war, hatte er keine Spur in sich von jenem Ehrgeiz, der geistige Okonomie mit sich führt, keine Spur von jener Erwerbslust, die zum Fleiße zwingt, nichts von dem unterordnenden Egoismus, der den Schriftsteller dazu bringt, sein Ich für das Allerwichtigste in der Welt zu halten.« Er durchstürmte das Leben mit einer solchen Begierde und Hast, daß er mit vierzig Jahren müde war wie ein Siebenzigjähriger, ohne deshalb ruhig und weise geworden zu sein. Seine frühzeitige körperliche Erschöpfung führte die geistige mit sich. Er hatte auch nichts von dem idealen Egoismus, welcher den Schriftsteller antreibt, ganz für seine Kunst zu leben, keinen Funken von dem socialen oder politischen Sinn, welcher dem schaffenden Geist Pflichten gegen Andere auferlegt; er war in dem Grade außer Stande, sich selbst zu beherrschen, daß die augenblickliche Versuchung für ihn unwiderstehlich war; unbedingt tendenzlos, wie er als Dichter war, blieb er auch als Mensch völlig zwecklos; er hatte nichts, das er fördern oder durchsetzen, nichts, das er um jeden Preis gesagt haben wollte; und er war eine zu unlenksame, zu wenig contemplative Natur, als daß Selbstentwicklung im Goetheschen Sinne ihm das Ziel hätte sein können, das alle Tendenzen ersetzte. Als er 1857 starb, hatte er schon mehrere Jahre seine Muse überlebt.

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