Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[72]| VI.

Es waren indes nicht die Eindrücke vom Ausland, die am meisten zu der großen poetischen Renaissance beitrugen; nein, es war die Wiederauffindung, die Entdeckung einer nationalen Größe, deren Vorhandensein niemand geahnt hatte. Wie durch den Beginn der neuen Zeit, als die ersten Statuen aus der Erde gegraben wurden, die sie so lange verborgen hatte, der Stoß zum italienischen Humanismus gegeben war, so wurde der Anstoß zu einer gänzlichen poetischen Revolution in Frankreich vom Jahre 1819 an gegeben, als André Chéniers Poesien aufgefunden, gesammelt und herausgegeben wurden. Es fiel wie Schuppen von den Augen der Zeitgenossen, als diese seelenvollen jonischen Gedichte volle 26 Jahre nach dem Tode ihres Sängers ans Licht gezogen wurden; all’ die poetischen Abgötter aus der Kaiserzeit, Delille und all’ die Poeten der naturbeschreibenden Lehrgedichte, fielen auf ihr Angesicht und brachen in Stücke. Ein Frühlingshauch von dem alten Hellas, dem wirklichen, eigentlichen Griechenland, drang nach Frankreich und befruchtete die Atmosphäre. Der Alexandriner, der im achtzehnten Jahrhundert so schlaffe und kraftlose, im siebzehnten Jahrhundert so steife und symmetrische Vers, offenbarte geheimnisvolle Harmonien, eine feine, geschmeidige Festigkeit, einen kühnen und finnlichen Reiz und, da die Cäsur nicht mehr regelmäßig nach dem sechsten Fuße fiel, Gedanken- und Versabsatz nicht mehr stets zusammentrafen, eine Mannigfaltigkeit, die niemand sich hätte träumen lassen. Die Ideen und Gefühle waren modern, doch der Geist, in |73| welchem sie künstlerisch dargestellt waren, war antik. In dieser Mischunsg war das bewegende Prinzip verborgen, das eine ganze poetische Evolution derselben Art hervorrufen konnte, wie diejenige, welche Ronsard im sechzehnten Jahrhundert durch einen ähnlichen Ausgangspunkt angebahnt und ins Werk gesetzt hatte. In dieser Poesie begegneten sich der Geist der neuen Zeit und der des Altertums, doch hatten sie sich eine Zusammenkunft weitab von dem Wege gegeben, aus welchem die antike und moderne Poesie im Zeitalter Ludwigs XIV. einander gesucht. Der Name André Chénier verdunkelte mit seinem reinen Glanz all’ die anderen Namen der bisher gepriesenen Poeten. Ein Geist war aus dem Grabe erstanden mit den Strahlen des Genies um seine Stirn und mit der Märtyrerglorie um sein Haupt und wies dem jungen Geschlecht den Weg nach dem gelobten Land der neuen Poesie.

André Marie de Chénier, geboren in Konstantinopel (Galata) 1761, war der Sohn einer schönen geistreichen und lebhaften Griechin – ihr Mädchenname war Santi L’Homaka.*)*

*) Thiers war ein Enkel (Tochtersohn) ihrer Schwester.
Sein Vater war der französische Konsul in der Türkei, ein hervorragender Gelehrter. Schon als ganz kleines Kind kam André nach Frankreich und wurde in einer schönen Gegend bei Languedoc erzogen. Er vergaß seine Muttersprache; doch als er in der Schule zu Paris anfing, sie von neuem zu lernen, faßte er sie so behend, daß er sie mit sechzehn Jahren vollständig beherrschte und sich ganz in ihre Litteratur vertiefte. Er war in ihr völlig so heimisch wie in der seines Vaterlandes. Mit zwanzig Jahren trat er in die Armee als »adliger Kadett« (Cadet gentilhomme), eine Art Unterlieutenant, lag mit seinem Regiment in Straßburg in Garnison und benützte seine Freizeit zu philologischen Studien; doch der nüchterne Umgang mit den Offizieren, das Garnisonsleben, das den Geist eher erschlafste als anregte, nagte an ihm; schon nach Verlauf eines halben |74| Jahres kehrte er nach Paris zurück; und da sich um diese Zeit eine Krankheit in ihm zu entwickeln begann, deren Heilung ein strenges und ruhiges Leben erforderte, nahm er seinen Abschied. Doch diätische Enthaltsamkeit und Unthätigkeit paßten nur schlecht für einen Jüngling, der mit allen Leidenschaften einer lebhaften Jugend den wissenschaftlichen und künstlerischen Hang eines genialen, rastlosen Geistes verband. Er unternahm mit Freunden eine zweijährige Reise nach der Schweiz und Italien mit einem langen Aufenthalt in Rom. Neue Krankheitsanfälle, die ihn in Neapel ereilten, verhinderten ihn, Griechenland, das eigentliche Ziel der Reise und seiner Sehnsucht, zu erreichen. Als er anfangs 1785 nach Paris zurückkehrte, fand er im Hause seiner Eltern die beste Gesellschaft von Paris versammelt; hier lernte er den Dichter Le Brun, den Maler David, den Chemiker Lavoisier kennen, außerdem noch eine Reihe von Diplomaten und Obrigkeitspersonen, deren Namen die Revolution bekannt machen sollte; er hatte außerhalb des väterlichen Hauses seinen eignen intimen Kreis von hochbegabten jungen Edelleuten, und endlich suchte er, der in diesen Jugendjahren seine Zeit gleichmäßig zwischen Studien und Zerstreuungen teilte, die leichtlebigste und freieste Gesellschaft der damaligen Zeit auf, die aus großen Herren (dem Herzog von Montmorency, dem Fürsten von Czartorisky u. s. w.), vornehmen Damen (der Herzogin von Mailli, der Fürstin von Chalais u. s. w.), Künstlern, Dichtern, Schriftstellern (wie Beaumarchais, Mercier u. s. w.) und endlich aus jungen, schönen Courtisanen (den von André besungenen Glycere, Rose, Amélie) bestand – eine bunte Gesellschaft, deren Leben und Treiben Rétif de la Bretonne beschrieben hat, und die unter dem Fallbeil ausatmete. Zu diesem Zeitpunkt machte André Chénier überdies die Bekanntschaft eines Mannes, den gleiche Liebe zur Freiheit und gleicher Haß gegen jedes Schreckensregiment augenblicklich zu seinem Freunde machte, die des italienischen Dichters Alfieri, der, begleitet von der Gräfin von Albany, sich just damals |75| in Paris einfand; und gleichzeitig lernte er die Frau kennen, die er unter dem Namen Camilla in zahlreichen Gedichten besang, pries und anklagte, die Geliebte seiner Jugend, Madame de Bonneuil, an die ihn eine stürmische und langwährende Leidenschaft band. Mit vierundzwanzig Jahren hat André oft auf ihrem Landgut zu ihren Füßen gekniet, wenn sie zur Harfe eine Romanze aus damaliger Zeit von der Liebe Schmachten und Wonne sang.

Im Jahre 1787 wurde er zum Gesandtschaftsattaché in London ernannt, wo er sich wegen seiner Isoliertheit und Abhängigkeit in hohem Grade unglücklich fühlte; er erlebte dort den Ausbruch der Revolution, der ihn elektrisierte, und kehrte, voll reicher Zukunftshoffnungen, nach Paris zurück. Das Bewußtsein seiner Dichtergabe war schon früher in ihm erwacht; nun begann er größere dichterische Kompositionen höchst verschiedener Art, doch alle streng antik im Stil, anzulegen und auszuführen. Schon früher hatte die französische Litteratur zweimal zur Antike zurückgegriffen: das erste Mal zu Ronsards Zeit, als man das Altertum mit dem bunten Flitter der italienischen Renaissance ausstattete; das andere Mal zu der Zeit Racines, als man das Altertum mit Hofgepränge und Ceremoniell ausrüstete. André Chénier, in dessen Adern echt griechisches Blut floß, der seine Muttersprache wie französisch las und schrieb und der, vielleicht der einzige im ganzen Land, das alte Hellas weder durch lateinische Brillen noch durch den Puderstaub der Perrücken des 17. Jahrhunderts sah, sprengte ohne Anstrengung, naiv wie ein junger Apollo, die Auffassung von der Antike und dadurch auch die vom Wesen der Poesie, die rings um ihn herrschte. Er verstand, daß die Dichter Griechenlands die Volkssprache geredet und geschrieben hatten, und daß ihre auf Selbstbeschränkung beruhende Formvollkommenheit etwas Grundverschiedenes von dem Respekt für willkürliche, herkömmliche Verbote sei. Er bezeichnet im Verhältnis zum Stil des achtzehnten Jahrhunderts eine ähnliche Reaktion und Erneuerung in der Poesie wie Thorwaldsen in der Bildhauer|76|kunst; er war gleichwie Thorwaldsen in zahlreichen Einzelnheiten ein Nachahmer und Benützer der Antike; aber er übertrifft ihn an Gefühlsbewegung an sinnlicher Wärme und an Pathos.

Vor 1789 zeigt André Chénier sich in seinen Gedichten vornehmlich als Erotiker mit einem Anstrich von Sensualismus, als Elegiker und Idyllendichter. Sein poetisches wie menschliches Wesen entwickelte sich, als die französische Revolution ausbrach und die Luft mit ihrem Donner erfüllte. Er war in dem philosophischen Geist erzogen, der nach Voltaires Wirken in der Geistesaristokratie herrschte; er hatte die Gefühle geteilt, welche ausgezeichnete Franzosen bewogen, die Sache der amerikanischen Freistaaten zu verfechten; nun begrüßte er mit der reinsten Begeisterung die neue Ära der Freiheit, die zu erleben er sich so lange gesehnt. Er faßte die Freiheit als die unbedingte Denk- und Religionsfreiheit auf. Hinlänglich belehrt durch »die achtzehn Jahrhunderte, welche theologische Thorheiten mit Blut gefärbt hatten; ohne Achtung für einen Priesterstand, welchem Bekenntnis er auch angehöre,« überzeugt, daß die Mitglieder jedes solchen Standes »sich gegen das Glück und die Ruhe der Menschheit verschworen haben,« will er »das despotische und theokratische Joch zerbrechen.« Er war unerfahren und edelmütig genug, um das Zustandebringen dieses Resultates für möglich zu halten ohne Bruch mit der strengen Botmäßigkeit der Gesetze.

Im ersten Jahre nach der Revolution widmete er noch der Poesie seine meiste Zeit. Er hatte eine vorübergehende Liebe zu einer jungen schönen Dame gefaßt, Madame Gouy d’Arcy, die er in einer bekannten Elegie verherrlichte; aber bald drängte die Politik alle anderen Beschäftigungen und Leidenschaften in den Hintergrund. Im Jahre 1792 richtete Andre, der das bevorstehende Schreckensregiment ahnte, in einem Zeitungsartikel einen heftigen Angriff gegen die Jakobiner. Als sein jüngerer Bruder, der bekannte Dichter der Revolutionszeit, Marie-Joseph Chénier, der eine |77| Rolle im Jakobinerklub spielte, sich verpflichtet fühlte, seine Bundesgenossen zu verteidigen, nahm André mit stolzer Rücksichtslosigkeit den hingeworfenen Handschuh auf. Zwar glückte es den Freunden der Brüder, die feindliche Polemik zwischen ihnen zu einem raschen Abschluß zu bringen, indes dauerte die Spannung noch eine zeitlang fort. Früher waren sie stets innig verbunden gewesen; doch für André, wie für die Römer des Altertums, mußten die Bande des Blutes reißen, wo es eine politische Idee galt. Beim Ausbruch der Revolution hatte sein Bruder ihm die Tragödie »Brutus und Cassius« dediziert; André erklärte sich in seiner Erwiderung auf diese Zueignung mit der Naivetät der damaligen Zeit überzeugt davon, daß der große Brutus sich gerade so ausgedrückt habe wie in diesem Drama; er nannte die Helden des Stückes «edle Mörder, große Tyrannentöter, welche von den Vielsprechern der Gegenwart nicht mehr verstanden werden,« kurz – er hatte sich für den Königsmord, wo dieser notwendig sei, ausgesprochen. Aber der Prozeß gegen Ludwig XVI. erregte seine volle Indignation; er beantragte, dem König bei seiner Verteidigung beizustehen; er schrieb eine Reihe Verteidigungseingaben für ihn; und André Chénier war es auch, der, als das Todesurteil gefällt war, die Feder für Ludwig führte und den schönen, würdigen Brief schrieb, in welchem der König die Nationalversammlung um die Erlaubnis ersucht, wegen seines Urteils ans Volk zu appellieren. Es ist (wie Becq de Fouquières bemerkt hat) bezeichnend, daß drei von Europas hervorragendsten Dichtern: André Chénier, Schiller und Alfieri, welche alle in gleichem Grade Gegner des alten Absolutismus waren, und welche alle die Revolution mit Begeisterung begrüßt hatten, 1792 den Plan faßten, König Ludwig zu verteidigen. Marie-Joseph Chénier war ein weniger bedeutenden leichterer Geist, der gerne mit dem Strome schwamm und sich der reichlichen Popularität freute, die sein Talent, das genau zum Zeitgeist paßte, ihm einbrachte. André besaß einen Mut, der bei gegebenem Anlaß sich zu trotzigem Stolz steigern |78| konnte, und er war aus jenem Metall, aus dem die Geschichte Märtyrer formt. Die offenbare Gefahr machte ihn nur noch kühner in seinen Angriffen gegen die Machthaber, die in seinen Augen Frankreich entehrten. Er veröffentlichte unter seinem vollen Namen eine hohnsprudelnde Ode in Veranlassung des Festes, das die Jakobiner den amnestierten Soldaten des Regimentes Châteauvieux gaben, die mit Recht als niedrige Verbrecher zur Galeere verurteilt worden waren. Und als Marat ermordet war, als 44000 Altäre für den »Freund des Volkes« errichtet wurden, fühlte unter Frankreichs Dichtern André Chénier allein sich angetrieben, Charlotte Corday zu besingen. Damals war dies eine mutigere Handlung als späterhin.

»O herrliches Mädchen! Griechenland würde deinen Mut bewundern, Marmorblock um Marmorblock von der Insel Paros losgehauen haben, um deine Bildsäule neben der des Harmodios und Aristogeiton zu errichten, und Chöre würden an deinem Grabe in heiliger Begeisterung die Nemesis gepriesen haben, die langsam waltende Göttin, welche die Bösen mitten in ihrer Macht ereilt. Doch Frankreich beugt den Hals unter das Fallbeil und hält Gedenkfeste für das geschlachtete Ungeheuer.«

Der Aufenthalt in Paris war seit dem Tode des Königs für André unmöglich geworden. Sein Bruder suchte einen Zufluchtsort für ihn in einem entlegenen Häuschen in Versailles. Hier lebte er eine Zeitlang in ruhiger Einsamkeit, arbeitete an seinem großen Gedicht »Hermes«, mit dem er sich schon seit zehn Jahren beschäftigt hatte, ohne weiter als zur Ausführung einiger kurzen Bruchstücke zu kommen und schrieb an Fanny (Madame Laurent Lecoulteux), eine junge, in der Nähe wohnhafte Dame, seine letzten Liebesgedichte, die den Stempel eines in André Chéniers Poesien neuen Gefühls tragen: die Melancholie der nicht sinnlichen Liebe. Der seltene Adel und Liebreiz eines ausgezeichneten weiblichen Wesens teilte sich diesen wehmütigen, keuschen Versen mit. Doch |79| dieser stille Aufenthalt in Versailles war in André Chéniers Leben nur die kurze Stille vor dem Orkan.

Seine Bestrebungen, die Arrestation einer Dame zu verhindern, wozu das revolutionäre Comité Befehl erteilt hatte, brachten ihn selbst ins Gefängnis. In Saint-Lazare wandte er die Zeit dazu an, seine Manuskripte durchzusehen und hier schrieb er einige seiner schönsten Gedichte im größten Stil, wie die zwei berühmten an die Herzogin von Fleury, geb. Coigny (»La jeune Captive« und jenes, das in allen Ausgaben den unrichtigen Titel »Mademoiselle de Coigny« führt), sowie das bewunderungswürdige Fragment, das beginnt: »Comme un dernier rayon.« Er wurde vor dem Revolutionstribunal als »Feind des Volks« angeklagt und zum Tode verurteilt, weil er »gegen die Freiheit und zur Verteidigung der Tyrannei geschrieben.« Tags zuvor hatte er folgende Verse gedichtet:

»Wie ein letzter Sonnenstrahl, ein letzter Lufthauch einen schönen Tag, der zu Ende geht, belebt, so stimm’ ich am Fuße des Schafotts noch meine Leier; vielleicht kommt die Reihe bald an mich; vielleicht wird, eh’ die Stunde ihre abgemessenen sechzig Schritte auf der blanken Fläche der Scheibe zurückgelegt hat, der Schlaf des Grabes meine Augenlider schließen. Vielleicht wird, eh’ die letzte Hälfte des Verses, den ich nun beginne, niedergeschrieben ist, der Sendbote des Todes, der schwarze Werber von Schatten für die Unterwelt, diese langen, dunkeln Korridore mit meinem Namen füllen […]«

Am Abend des 7. Thermidor 1794, am Tage vor Robespierres Sturz, welcher, einen Tag früher eingetroffen, ihn gerettet haben würde, bestieg André Chénier das Schafott. Noch auf dem Karren soll er dem Maler Roucher, der gemeinsam mit ihm den Tod erlitt, mißmutig geantwortet haben: »Ach! ich habe nichts für die Nachwelt gethan«; doch nach anderen Aussagen, soll er auf dem Schafott sich auf die Stirn geschlagen haben mit den Worten: »Pourtant j’avais quelque chose là!

|80| Obgleich die Prosa-Artikel André Chéniers ungewöhnliche Aufmerksamkeit erweckt hatten, sogar im Ausland – Wieland läßt ihn grüßen, der König von Polen sendet ihm eine Ehrenmedaille – genoß er doch bei Lebzeiten keinen Dichterruhm. Er hatte nicht mehr als zwei seiner Gedichte veröffentlicht: die Hymne an David, hervorgerufen durch die Szene im Ballhaufe, und die ironische Hymne auf das Regiment Châteauvieux; und von dem Julitag 1794 an, als sein Haupt vom Rumpfe getrennt wurde, war sein Name vergessen und die Erinnerung an ihn entschwunden.

Da begab es sich eines Tages im Jahre 1819, daß Pariser Buchhändler, die im Begriffe standen, Marie-Joseph Chéniers jetzt gänzlich veraltete, dramatische Werke herauszugeben, das Angebot erhielten, den letzten Band mit einer Beilage »Gedichte eines unbekannten Bruders von Chénier« auszufüllen. Sie ersuchten den bekannten Litteraten Henri de Latouche diese Verse durchzusehen, und betroffen von ihrer Schönheit begann dieser Mann nun, nach weiteren Handschriften Andrés Nachfrage zu halten. So brachte er nach und nach ein altes Päckchen, ein kleines gelbes Heft ums andere ans Licht, veranstaltete mit Vorsicht und Geschmack eine Auswahl und bewirkte durch seine Ausgabe eine Revolution des poetischen Bewußtseins in seinem Vaterland. André Chéniers Name flog rings durchs Land, die Jugend in den Provinzen nicht weniger als die von Paris begeisterte sich für die neue poetische Offenbarung (man lese die Schilderung dieses Enthusiasmus in Balzacs Roman »Les deux poëtes«, der die Einleitung bildet zu »Illusions perdues«).

Der längst verstorbene Dichter machte nicht nur all’ die Lyrik, die im letzten Menschenalter geschrieben worden war, veraltet und unmöglich, sondern schlug in idealem Sinne selbst Lamartines ungefähr gleichzeitig herausgegebene erste »Poetische Meditationen« rein aus dem Felde. Denn diese Poesie ging nicht wie jene Lamartines in den Wolken oder über den Wolken vor sich, sondern auf der Erde; sie war rein ohne fromm, seelenvoll ohne empfindsam |81| zu sein; sie hatte keine Beziehung zu dem Unendlichen und Abstrakten, sie war ohne Mystizismus wie auch ohne Irreligiosität.

In André Chéniers ersten Werken trat ein heidnischer Jüngling hervor, der an Apollo und Artemis und insbesondere an Aphrodite glaubt, und stand durch einen Zufall dem Stifter der seraphischen Schule von Angesicht zu Angesicht gegenüber, keineswegs spiritualistisch wie er, sondern epikuräisch im antiken Sinne des Wortes. Die ersten Frauen, die er besang, waren keine geistreichen und schwachbrüstigen Elviren, wie jene Lamartines, sondern warmblütig Liebende oder junge, schöne Courtisanen aus den Tagen Ludwig XVI.; nur wurde seine Sinnlichkeit nie wollüstig, noch weniger frivol im Stile der Zeit. Die Orgie trat, wenn er sie schilderte (wie in der 28. Elegie), wie ein Basrelief aus Griechenlands ältester Zeit hervor. Das junge Weib mit dem aufgelösten Haar war mit einer Keuschheit des Stils ausgeführt, wie eine tanzende griechische Mänade, und bei der nüchternen Klarheit der Darstellung verwandelte sich das Trinkgelage zu einem atheniensischen Bacchanal in parischem Marmor. Dies ganze Leben trug das Gepräge reiner Schönheit und edler Einfachheit. Jenes Häßliche, das Hugo später in die Lyrik einführen sollte, und dessen Anziehungskraft Lamartine zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht mehr widerstand, fehlte hier so vollständig, wie Andacht und Mystik.

Aber auch der Mann, wie er aus André Chéniers Mannes-Werken und -Fragmenten sprach, bildet einen lebhaften Gegensatz zu der Lyrik, die 1819 Begeisterung erweckte. Die Frauen, die er in unvergeßlichen Gedichten verherrlichte, waren Heldinnen oder zum Tode Verurteilte aus der Revolutionszeit. Es war ein männliches Pathos in feinen Jamben, das jenes der altgriechischen Jambendichter zurückrief, und in den Bruchstücken seines großen Gedichtes »Hermes« fanden sich Ausdrücke für eine Lebensanschauung, die durch ihre antike Wahrheitsliebe und ihren wissenschaftlichen Ernst den schärfsten Gegensatz zu der romantischen und phantasti|82|schen Schwärmerei bei Lamartine bildet. Für André sind die Sterne nicht Blumen auf der Himmelswiese, sie sind schlichtweg Welten, die im Strom des Äthers rollen, er nennt »ihr Gewicht, ihre Formen, ihre Entfernung von einander« und die Gesetze ihrer Anziehungskraft, deren Wirkung er in seiner eignen Seele spürt. Die Vorsehung spricht nicht durch sie zu den Menschen herab, das Gebet steigt nicht von den Menschen zu ihnen empor, sondern die Betrachtung gipfelt in einem mächtigen Eindruck von der Einheit und den geregelten Gesetzen des Weltalles.

André Chéniers Poesie, die so vielfältig der des 19. Jahrhunderts vorgreift – denn sie ist entschieden lyrisch, und das 18. Jahrhundert brachte in Frankreich außer ihm keinen einzigen Lyriker hervor – verleugnet doch nicht den Einfluß von den zwei leitenden Geistern des Jahrhunderts: Rousseau und Voltaire. Von Rousseau stammt das dellische bei Chénier, seine Hirtenszenen die zwar manches von Theokrit entlehnt, aber aus dieser Quelle doch nur geschöpft haben, weil Rousseau auf den Naturzustand zurückgewiesen hatte; von Voltaire stammt die Leidenschaft für die Universalität, die André bewog, seine Inspiration bei Newton zu suchen und mit Lucretius in einem Lehrgedicht über die Natur zu wetteifern.

Vor allem jedoch sind es rein künstlerische, zum Teil sogar rein technische Vorzüge, wodurch André Chénier so befreiend und erneuernd auf die Poesie des nachnächsten Geschlechtes einwirkte. Der Alexandriner war in seinen Gedichten nicht mehr derjenige Racines; er war durch Durchschneiden und Enjambements ein viel geschmeidigerer, freierer, mannigfaltigerer Vers geworden; Cäsuren und Übergänge waren in seinen dithyrambischen Poesien mit noch mehr überraschender Neuheit angewandt, und das Resultat war eine bisher unbekannte lyrische Leidenschaft und lyrischer Flug. Wohl fanden sich bei Lamartine Versuche seiner metrischen Reformen, aber gleichsam unbewußt und ohne die Bestimmtheit und Präcision in der Form, die bei Chénier die Jugend entzückte. Alle Diejenigen, |83| die auf eine bestimmte und plastische Form Wert zu legen verstanden, schworen zu seinem Namen. Sie teilten unwillkürlich die Schriftsteller der damaligen Zeit in zwei Gruppen, eine, die von Frau von Staël abstammte, der vielsprechenden, vielschreibenden Improvisatrize, die, ohne sonderliche Bekümmerung für die Durchbildung des Ganzen, in Einzelheiten einen Wirbel von Ideen und Worten verschwendete, und die jetzt sich bildende Schule, die, mit André Chénier als Vorbild, die strengste künstlerische Gewissenhaftigkeit als ihr Prinzip aufstellte.

Zu dem rein formellen Fortschritt in André Chéniers Poesien kam ein großer Fortschritt in der Farbenwiedergabe. Man hatte bisher im Verse das unbestimmt abstrakte, übersinnliche oder empfindsame Wort dem konkreten, sinnlichen und malerischen Ausdruck vorgezogen; man hatte z. B. gesagt »der Himmel in seinem Zorn«; André Chénier schrieb: »ein schwarzer, umwölkter Himmel«; man hatte geschrieben: »feine Finger«, André Chénier zog vor zu sagen: »weiße, lange Finger«. Und zu dieser sinnlichen Klarheit in gewissen Bezeichnungen und Beschreibungen kam die Einführung eines neuen Clair-obscur im Ausdruck, nebst Worten und Wendungen, die durch etwas Rätselhaftes oder Geheimnis-volles oder Phantastisches plötzlich neue Aussichten auf einen weiten Spielraum eröffnete.

Was man, mehr von einem menschlichen als von einem künstlerischen Gesichtspunkt, in dieser schönen Poesie vermißt, ist der Ausdruck für den persönlichen Schmerz. Diese Dichtung ist trotz ihres Feuers und ihres französischen Wesens zu abgemessen, zu attisch. Das Häßliche ist zu systematisch ausgeschlossen, und zu dem Häßlichen, dem Schmutzigen zählte der Dichter echt griechisch seine privaten Leiden, seine persönliche Sorge und Melancholie. Nur durch einige Prosa-Aufzeichnungen und Briefe erfahren wir z. B., wie sehr er seinerzeit unter seiner Abhängigkeit in London litt. Er macht diesem Leiden nicht Luft in seiner Poesie. Wenn er sich früher hie Hund da von seiner Armuth und dem ihm auf|84|erlegten Zwang gedrückt fühlte, so gab er diesem Gefühl nur auf Umwegen Ausdruck in Gedichten wie das Idyll »Die Freiheit« in Theokrits Manier, wo der Hirt seine Flöte zerbricht, den Tanz und Gesang der Mädchen flieht, jeden Trost verwünscht, weil er ein Sklave ist. Nur in dieser Weise umschrieben, gestattete Chénier seinem Kummer, durch seine Dichtung hervorzubrechen.*)*

*) Wenn Sainte-Beuve in seinem Vergleich zwischen André Chénier und Mathurin Régnier das Gedicht »Die Freiheit« auf die Zeit nach dem Aufenthalte in London zurückführt, so beruht dies auf einem chronologischen Irrtum. Die Unwahrscheinlichkeit, daß André vor 1790 in London war, hat Becq de Fouquières nachgewiesen.

Es ist unmöglich, einen Begriff von der Natur der Poesien André Chéniers durch eine Übersetzung zu geben, noch weniger durch ein bloßes Referat in Prosa. Sprachkunst, Verskunft, Sprachfarbe gehen verloren. Wenn aber gleichwohl eine eigentümliche Schönheit zurückbleibt, kann der Leser auf den Wert des Originals schließen. Um ein Beispiel zu bringen, will ich in gedrängter Fassung das Gedicht »Der kranke Jüngling« wiedergeben, das, wie Alles bei Chénier, mit fast nichts gemacht ist, und das man doch nie vergißt. Es erinnert in seiner Komposition an die dritte Seene des ersten Aktes von Raeines »Phèdre«, die ein fernes Vorbild gewesen zu sein scheint.

»Apollo, du rettender Gott, du Gott des Lebens und der heilsamen Pflanzen, habe Mitleid mit meinem Sohn, meinem einzigen Kinde, und mit einer trauernden Mutter, die nur für ihn lebte und ihn nun sterben sehen soll! Du junger Gott, komm seiner Jugend zu Hülfe! Stille das brennende Fieber, das sein schuldfreies Leben in seiner Blüte verzehrt, und ich will mit diesen alten Händen meine Onyxschale zu Füßen deiner Statue aufhängen und jeden Sommer einen weißen Stier auf deinem Altar opfern.

Und du, mein Sohn, bist du beständig ohne Barmherzigkeit? bist du unerbittlich, willst du nicht sprechen? Seit drei Tagen hast |85| du nichts gegessen, drei Nächte nicht geschlafen. Kind, willst du denn sterben? Soll deine weißhaarige Mutter einsam auf der Erde zurückbleiben, soll sie deine Augen schließen und deine Asche mit der deines Vaters vereinigen? Sprich, mein Sohn, welch’ ein Schmerz verzehrt dich? Die Sorge, die man verbirgt, ist am härtesten zu tragen.

Mutter, Lebe wohl! Ich sterbe, du hast keinen Sohn mehr. Eine brennende, vergiftete Wunde verzehrt mich; ich atme nur mit Mühe; ich will nicht sprechen. Leb’ wohl! […] Das Bette peinigt mich, die Decke drückt mich; Alles beschwert und ermüdet mich. Hilf mir! ich sterbe. O, wende mich nach der anderen Seite! ich vergehe, welche Qual!

Und vergebens reicht sie ihm einen Heiltrank, den ein thessalisches Weib mit Zauberkünsten bereitete. Doch er beginnt zu sprechen. Er entsinnt sich der Ufer des Erymanthos, der Haine mit ihrem Laubwerk, des frischen Windhauches, der das Wasser, das Laub und die Falten des Linnengewandes über der jungen Brust der Mädchen sich heben ließ; er erinnert sich an die Schönheit der leichten, tanzenden Mädchen, endlich an ein göttliches Antlitz. Er spricht verwirrt: diese Arme, diese Blumen, dieses Haar, diese nackten Füße, so weiß und so schön geformt! ich soll sie niemals wiedersehen! Er sieht ein junges Mädchen vor sich, die mit langsamen Schritten nach dem Grab ihrer Mutter geht; er hört ihre liebliche Stimme; er fragt sich, ob sie auch sein Grab besuchen wird.

Und die Mutter erfährt, daß hoffnungslose Liebe ihren Sohn krank gemacht: Doch sag’ mir, mein Sohn, was für eine Jungfrau ist’s, die du an den Ufern des Erymanthos sahst? Du bist ja reich und du bist ja schön, oder du warst es, ehe der Gram die jungen Blumen deiner Wangen welk machte. Ist es Eglaia, oder die junge Irene mit den langen, lichten Flechten, oder sollt’ es die stolze Schönheit sein, deren Namen ich täglich wiederholen höre, auf die |86| all’ die schönen jungen Mädchen eifersüchtig sind, und die, wie man sagt, Mütter und Gattinnen nie ohne Angst in den Tempeln und bei den Festen sehen? Sollte es Daphne sein?

O Götter, halt ein, Mutter, schweige! Sie ist stolz, unbeugsam wie die Unsterblichen, schön und furchtbar. Tausend Liebhaber haben sie angebetet und sie vergebens geliebt; gleich ihnen würde auch ich hochmütig verschmäht worden sein. Nein, laß sie nie erfahren […]

Und doch! o Qual und Tod! Meine teure Mutter! Du siehst, in welchem Jammer ich zu Grunde gehe. Geh’ und finde sie! Deine Züge, deine Jahre werden sie vielleicht an ihre Mutter erinnern. Nimm diesen Korb und unsre schönsten Früchte, nimm unsern Eros von Elsenbein, nimm unsere Onyxschale aus Korinth; nimm meine jungen Ziegen, nimm mein Herz, nimm mein Leben, leg’ all dies ihr zu Füßen; sag’ ihr, wer ich bin; daß ich sterbe, daß du keinen Sohn mehr haben wirst; falle dem alten Mann zu Füßen, seufze, bete und ruse Götter, Tempel, Altäre und Göttinnen im Namen des Himmels und des Meeres an – und kehrst du heim, ohne ihren Sinn gebeugt zu haben: dann leb’ wohl, Mutter! dann ist mein Leben zu Ende.

Sie bedeckt seine bleiche Stirne mit Küssen und Thränen und eilt fort, zitternd vor Furcht und Alter. Doch bald kommt sie atemlos zurück, schon von ferne shört man ihre Stimme: Mein Sohn, mein teurer Sohn! Du bleibst am Leben. Sie setzt sich an sein Lager. Und ihr folgt lächelnd der alte Mann, und mit ihm kommt die junge Schönheit, errötend, mit gesenkter Stirne, und wirft einen Blick auf das Lager. Der Unglückliche zittert, wie von Sinnen; er will sein Haupt unter der Decke verbergen.

»Freund,« sagt sie, »seit drei Tagen sah man dich bei keinem Fest. Was hast du vor? Warum willst du sterben? Du bist krank. Man sagt mir, daß ich dich heilen kann. Lebe und laß uns |87| zusammen eine Familie ausmachen; laß meinen Vater einen Sohn, deine Mutter eine Tochter haben!«

Es ist unmöglich, einer leidenschaftlichen Situation eine einfachere, effektfreiere Lösung zu geben.

Eine Grundlage dieser Art war es, welche die neue romantische Schule vorfand, um weiter darauf zu bauen: die edelste Einfachheit in der Sprache, die Richtigkeit der Zeichnung, eine griechische Rhythmik in allen Übergängen, die schönen Linien des Basrelief, ungemischte Farben und strenge Form.

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