Von 1824 an gab es in einem entlegenen Stadtteil von Paris, ganz draußen beim Arsenal, einen bescheidenen Salon, genannt die kleinen Tuilerien – nämlich die Tuilerien der romantischen Schule, wo damals Hugo, Dumas, Lamartine, Sainte-Beuve, Musset und de Vigny fast jeden Sonntag einander trafen. Der Wirt war ein Mann, der dem Alter nach der vorhergehenden Generation angehörte (er war 1780 geboren), der aber durch seine Geistesrichtung der anbrechenden Litteratur vorgegriffen hatte und sie darum sofort und ohne Bedenken unter seine Fittiche nahm. Es war Charles Nodier.
Als Kind erlebt Nodier in Besancon und Straßburg in nächster Nähe die Schreckenszeit; als Jüngling schreibt er Gedichte gegen Napoleon, wird eine Zeitlang im Gefängnis gehalten und als Verdächtiger verfolgt – bunte Schicksale befruchten seine Phantasie. Mit 18 Jahren hat er bereits als Philologe ein Lexikon über die französischen onomatopöetischen Wörter und als Naturforscher ein Werk über die Fühlhörner und Hörorgane der Insekten herausgegeben – sprachliche Studien geben ihm Herrschaft über die Form und Naturstudien öffnen seine Augen für das Verborgene und das Kleine. Seine ersten dichterischen Versuche, namentlich sein Roman »Der Maler von Salzburg«, eine der frühesten französischen Wertheriaden, gehören der Gruppe von Schriften an, denen ich den Namen »Emigrantenlitteratur« gab, und die in Frankreich eine Art Romantik vor der Romantik, das heißt: vor der großen |41| romantischen Schule, die sie vorladet und verkündigt, bezeichnen; doch von den Verfassern jener Bücher ist Charles Nodier der einzige, der nicht nur mit dem nächsten Geschlecht weiterlebte, sondern auch gleichzeitig mit ihm schrieb; er allein war imstande, Hand in Hand mit ihm zu arbeiten. Sein Leben war bisher ein äußerst wechselvolles; er war alles mögliche gewesen: erst Emigrant im Juragebirge, dann Redakteur eines Blattes in Illyrien, und war nun zuletzt Bibliothekar in Paris.*)*
Nodiers auffallendste Eigentümlichkeit als Dichter ist die, daß er beständig den Bewegungen der französischen Litteratur um zehn bis zwanzig Jahre voraus ist. Sein Roman »Jean Sbogar« – eine Räubergeschichte, die eine Art von illyrischem Karl Moor schildert – den er 1812 in Illyrien entwars und 1818 herausgab, ist, obschon an und für sich ziemlich unwahrscheinlich und uninteressant, dadurch merkwürdig, daß der Dichter hier so lange vor Proudhon, so lange vor dem Auftreten des modernen Kommunismus in Europa seinem Helden einzelne von dessen schlagendsten Sophismen in den Mund gelegt hat. Jean Sbogar schreibt:
»Der Diebstahl der Armen von den Reichen würde, wenn man zum Ursprung des Gesellschaftszustandes zurückginge, nur das rechtmäßige Zurückerstatten eines Stückes Silber oder eines Stückes Brot aus den Händen des Diebes in die des Bestohlenen sein.«
»Gebt mir eine Kraft, die den Namen des Gesetzes anzunehmen wagt, und ich will euch den Diebstahl zeigen, der den Namen Eigentum annimmt.«
»Was ist das für ein Gesetz, das Grundgesetz genannt wird und den Namen und das Zeichen der Gleichheit an seiner Stirn trägt? Ist es das agrarische Gesetz? Nein, es ist der Verkaufskontrakt, der, verfaßt von Intriguanten und Parteigängern, ein Volk den Reichen überantwortet.«
|42| »Die Freiheit ist kein so seltner Schatz: sie findet sich in der Hand des Starken und in dem Beutel des Reichen. Du bist Herr über mein Geld. Ich bin Herr über dein Leben. Gieb mir das Geld, so behältst du das Leben.«
Jean Sbogar ist, wie man sieht, kein gewöhnlicher, sondern ein philosophischer Straßenräuber. Der am meisten realistische Zug an seiner Gestalt ist, daß er goldne Ohrringe trägt, und selbst diesen Zug hätte Frau Nodier bei einem Haare weggenommen. Nodier richtete sich in der Regel blindlings nach dem Geschmack und den Wünschen seiner Frau; wenn er demungeachtet einmal zum Aufruhr neigte und sich dann darauf berief, wie nachgiebig er sonst immer sei, so pflegte Madame Nodier zu sagen: »Vergiß nicht, daß du mir niemals Jean Sbogars Ohrringe opfern wolltes.« Man behauptete, daß die litterarischen Streitigkeiten in dieser Ehe sich auf diesen Zwist beschränkten.
Dieser kleine Roman, der schon in Vergessenheit gerathen war, als Napoleons Memoiren erschienen und darthaten, daß der Kaiser ihn mit aus St. Helena gehabt und mit Interesse gelesen hatte, schreibt sich von Nodiers Übergangzeit her, eh’ er noch seine eigentliche Eigentümlichkeit entwickelt hatte. Diese trat erst ungefähr um jene Zeit hervor, als die eigentliche romantische Schule sich bildete. Er stand so zu sagen in der offenen Thür der Litteratur und bewillkommnete sie dort. Seine Beurteilung von Victor Hugos Knabenroman: »Han d’Islande« ist ein kleines Meisterwerk von Kritik, Entgegenkommen, sympathischem Verständnis und Geistesüberlegenheit, und diese Besprechung war es, welche das innige Verhältnis zwischen den Dichtern hervorrief. Die Charakteristik Hugos ist so schlagend gegeben, daß derjenige, welcher sie heutzutage liest, glauben könnte, der Verfasser derselben habe all’ die späteren Arbeiten Hugos gekannt; und es gehörte etwas dazu, sie aus »Han d’Is1ande« zu ahnen.
Die Erzählungen, die Nodier nun schrieb, waren von einem |43| Reiz und einer Anmut, die in der französischen Litteratur einzig dastehen. Sie zeichneten sich durch eine mimosenhafte Sensibilität aus. Sie behandeln meistens die ersten erotischen Regungen von Knaben- und Mädchenherzen; es weilt über ihnen gleichsam der erste frische Tau vom Morgen des Seelenlebens; sie erinnern an den Waldboden im Frühling. Man ist bekanntlich bisweilen in Verlegenheit, in der französischen Litteratur Werke von einigem Wert zu findem, die sich zur Lektüre für ganz junge Mädchen empfehlen lassen – die französische Litteratur ist ja glücklicherweise nicht in erster Linie für diese liebenswürdigsten aller Leser berechnet – Erzählungen wie Nodiers »Thérèse Aubert« oder die Novellen, die den Titel »Souvenirs de Jeunesse« führen, bilden Ausnahmen. Höchstens darf man vielleicht fürchten, den jungen Leserinnen platonische Grillen in den Kopf zu setzen; denn diese Bücher sind ebenso schmachtend wie keusch; wol ist die Liebe hier nur erst eine kaum durch das Geschlecht beeinflußte Freundschaft, aber sie nimmt den kleinen Menschen völlig in Beschlag. Das Anziehende in dem Gefühlsleben, das hier geschildert wird, beruht darauf, daß noch keine Erfahrung den Sinn mißtrauisch gemacht hat, und daß kein falscher oder echter Stolz das Herz hindert, sich zu verraten. Da allen Novellen etwas Selbsterlebtes, Kindheitserinnerungen zu Grunde liegen, bilden die Schrecken der Revolutionszeit den ständigen, melancholischen Hintergrund, während ausnahmslos Trennung oder der Tod der Liebenden den Schluß herbeiführt.
Eine kindliche Sensibilität ist die Grundlage von Nodiers Charakter. Sein ganzes Leben hindurch blieb er ein großes, unerfahrenes Kind mit einer mädchenhaften Verschämtheit nicht nur gegenüber dem Unreinen, sondern selbst im Verhältnis zum Standpunkt der Erwachsenen.
Auf dieser naiven Frische des Gefühls erhebt sich wie eine zweite Etage eine ganz eigentümliche Schwärmerei.
|44| Nodier besaß eine so lose und wirre Erfindungsgabe, daß man ihn für eine Beute steter Traumgesichte oder Hallucinationen hätte halten können; er hatte die gefährliche Eigenschaft, die einem gewissen Typus von Dichtergeistern gemeinsam ist: daß er fast niemals die Wahrheit sprechen konnte. Man wußte oft nicht bestimmt – und er selbst war sich ebenso wenig darüber klar – ob das, was er erzählte, Wahrheit oder Dichtung sei. Der Scherz hält ja die Mitte zwischen beiden. Kein Mann in Frankreich galt für unterhaltender als er; keiner nahm es weniger übel auf, wenn man ihm sagte, man glaube kein Wort von dem, was er erzähle.
Auf einer Reise, die Nodier mit seiner Frau, gemeinschaftlich mit Hugo und Frau Hugo, nach Südfrankreich machte, kamen sie zu einem Wirtshaus im Städtchen Essonne, wo sie frühstücken wollten. Hier war es, wo man Lesurques ergriffen hatte, der 1796 als Mörder hingerichtet wurde, und dessen Unschuld sich später erwies. Nodier, der ihn gekannt hatte, oder wenigstens so sagte, sprach von ihm mit einer Gemütsbewegung, die den Augen beider Damen Thränen entlockte, und die Stimmung zum Frühstück war verdorben. Er gewahrt Frau Hugos feucht schimmernden Blick und sagt: »Sie wissen, Madame, daß man nicht immer sicher ist, der Vater seines Kindes zu sein, aber hörten Sie, daß man mitunter nicht einmal gewiß ist, die Mutter zu sein?« – »Woher haben Sie das?« fragt sie. – »Von dem Billard da drinnen.« (Im Nebenzimmer stand ein Billard.) Man bat um eine Erklärung, und mit fließender Zunge erzählte Nodier, daß zwei Jahre vorher ein Wagen voll Ammen, welche von Paris mit Kindern kamen, die auf dem Lande aufgezogen werden sollten, Halt an dieser Stelle machte. Um ihr Frühstück gemütlich zu verzehren, hatten die Ammen die Kinder aufs Billard gelegt. Doch während sie im Gastzimmer saßen, waren Fuhrleute in die Wirtsstube gekommen, die spielen wollten, hatten die Kinder weggehoben und sie durcheinander auf die Bank gelegt. Als die Ammen zurückkamen, |45| waren sie in größter Verlegenheit, wie sie ihre Säuglinge erkennen sollten; alle waren neugeboren und glichen einander. Endlich nahm jede, nachdem sie sich des rechten Geschlechts versichert hatte, eines aus dem Haufen – und nun gab es in Frankreich ein halbes Schock Mütter, die Ähnlichkeit mit einem geliebten Gatten und mit sich selbst in einem wildfremden Kinde fanden.
»Welch’ eine Geschichte!« sagte Frau Nodier. »War denn die Wäsche nicht gezeichnet?«
»Wenn Ihr nach der Wahrscheinlichkeit fragt, findet Ihr niemals die Wahrheit,« antwortete Nodier unverblüfft, zufrieden mit der hervorgebrachten Wirkung.
Er selbst fragte niemals nach der Wahrscheinlichkeit. Ihre Welt war nicht die seine. Er lebte in der Welt der Legenden, der phantastisch-humoristischen Märchen und der Geistergeschichten. Wenn eine Fee überhaupt jemals an der Wiege eines Sterblichen gestanden, so stand sie an derjenigen Charles Nodiers, und er glaubte sein ganzes Leben hindurch an diese Fee, er schwärmte für sie, wie sie um ihn schwärmte und sich in Alles hineinmischte, was er schrieb. Und war er auch bürgerlich und irdisch mit seiner Frau verheiratet, so bedeutet das in ideellem Sinne nicht mehr, als daß Dante mit Gemma Donati vermählt war; seine wirkliche Braut und Beatrice, das war die Fee Belkis, die vormalige Königin von Saba, die er (und nach ihm Gerard de Nerval) so oft besungen hat.
Die Welt, worin er lebte, ist die, wo Oberon und Titania ihre romantischen Tänze ausführen, wo die Töne aus Tausend und eine Nacht in Ariels himmlisches Orchester hineinklingen, wo Puk sich sein Elfenbett in einer Rosenknospe bereitet, während all’ die Blumen stärker duften in der linden Sommernacht. Es ist eine Welt, in der alle Figuren aus dem großen, wachen Leben vorkommen, aber grotesk vergrößert oder verkleinert, je nach dem Fassungsvermögen des Kindes und dem Bedürfnis des Phantasten.
Hier ist, sagt Nodier selbst irgendwo, Odysseus, der weit|46|gereifte, aber er ist zusammengeschrumpft zum kleinen Däumling, dessen ungeheure Reise darin besteht, daß er über den Milcheimer schwimmt; hier ist Othello, der schreckliche Frauenmörder, aber sein schwarzer Bart ist blau geworden; er hat sich in den entsetzlichen Ritter Blaubart verwandelt; hier ist Figaro, der gewandte Gesell, der den Vornehmen so keck unter die Augen tritt, nur ist er zum Kater umgewandelt, aber der gestiefelte Kater ist, wenn auch weniger unterhaltend, psychologisch fast ebenso interessant wie er.
Keiner von Frankreichs Schriftstellern in der romantischen Periode steht in einem deutlicheren Verwandtschaftsverhältnis zu der deutsch-englischen Romantik als Nodier. Wer ihn nicht kennt, muß, um sich eine Vorstellung von ihm zu bilden, sich Walter Scotts Spukgeschichten und Hoffmanns kühne Phantasien ins Gedächtnis rufen. Doch selbstverständlich ist damit Nodiers Eigenart nicht bezeichnet. Diese besteht darin, daß bei ihm die Darstellung des romantischen Stoffes nicht selbst romantisch ist – sie ist im Gegenteil streng attisch, klassisch einfach, ohne besondre Farbe, ohne irgenwelche Leidenschaft, ohne einen Schleier von Edinburghs Nebeln wie bei Scott, oder von Berlins Weinkellerdunst wie bei Hoffmann. Seine Eigentümlichkeit als Stilist ist die, daß, während rings um ihn die jungen Romantiker die Sprache versinnlichten und die Idee durch das Bild verdrängten, er seine wildesten romantischen Einfälle in der klaren, einfachen Sprache Pascals und Bossnets niederschrieb. Was für ein eifriger Verfechter der neuen Richtung in der Litteratur Nodier auch war – in stilistischer Hinsicht verblieb er konservativ und drückte die Phantastik des neunzehnten Jahrhunderts in der strengen, durchsichtigen Weise aus, die dem siebenzehnten eigen war. Kühn bis zum Rande des Wahnsinns in seinen Einfällen, ist er vorsichtig und klar in der Form. Eine Märchendichtung von ihm gleicht, wie Prosper Mérimée es treffend ausdrückte, »dem Traum eines Skythen, von seinem altgriechischen Dichter erzählt.«
|47| Seine »Ines de la Sierras« ist eine Geistergeschichte, die vor anderen derartigen die vollendete Schönheit des Stoffes voraus hat. Der Eindruck von Grauen, den die unerklärliche Erscheinung erweckt, ist gemischt mit der Anziehungskraft, welche die rührende Grazie derselben ausübt; das Anmutige und das Schreckliche in der geheimnisvollen Gestalt Ines de la Sierras neutralisieren sich zwar nicht; aber beides im Verein wirkt mit einer eigentümlichen Macht, und diese Vereinigung ist überhaupt das Geheimnis von den Effekten dieses Dichters. Nur schade, daß Nodier die schöne Erzählung durch einen kleinlichen und unwahrscheinlichen Schluß verdorben hat, der das Gespenst rationalistisch wegbeweist. Nicht die vor 300 Jahren ermordete junge Tänzerin ist es, die um Mitternacht in dem öden Schloß umgeht, sondern eine junge, lebendige Spanierin, die zufällig denselben Namen führt, und die durch eine Kombination der abenteuerlichsten und unglaublichsten Umstände sich tanzend und weißgekleidet im Schlosse zeigt. In diesem Ausweg steckt ein echter lateinischer Rationalismus, aber er ist, so zu sagen, nur pro forma angebracht. Eine Erzählung wie »Ines de la Sierras« beweist im übrigen gerade aufs Deutlichste den poetischen Fortschritt der damaligen Zeit in Vergleich mit dem achtzehnten Jahrhundert, welch’ letzteres sogar in der Poesie dem Unnatürlichen so feind war, daß Voltaire sich für einen reformatorischen Wagehals hielt, als er in seiner »Semiramis« das lächerliche Gespenst des Ninus bei helllichtem Tage ein paar Alexandriner durch ein Theatersprachrohr hinausrufen ließ.
Von Nodiers phantastischen Erzählungen scheint »La fée aux miettes« mir die vorzüglichste. Gewiß ist sie zu lang und breit, denn man liest nicht ohne Schwierigkeit ein in wilden Arabesken sich schlängelndes Phantasiestück, das 120 Seiten in Quartformat einnimmt; gleichwohl fühlt man sich durch große Partien gespannt und gefesselt. Der Rahmen dieser Geschichte ist folgender: ein armer, gutmütiger Gemütskranker erzählt das Märchen seines Lebens; doch dessen abenteuerlicher Inhalt bringt uns den Rahmen ganz |48| in Vergessenheit. Alle Saiten des Menschenlebens kommen hier wild und schrill zum Tönen. Es ist, als ob das Leben selbst an uns vorüberzöge, aber wir sehen Alles von der verkehrten Seite, von dem ungewöhnlichen, wenn auch nicht unberechtigten Standpunkt des Traums, der Vision, der Fieberphantasie.
In Granville in der Normandie lebt der ehrsame Zimmermann Michel, gut und einfältig von Herzen. In der Stadt wohnt eine kleine alte Zwergin, häßlich und verrunzelt, welche die Überbleibsel vom Frühbrot der Schulkinder sammelt und darum »die Brosamenfee« genannt wird. Schon vor vier, fünf Jahrhunderten ward sie dort in der Stadt gesehen, wo sie ganz in derselben Weise lebte. Immer von Zeit zu Zeit tauchte sie wieder auf. Ihr hilft der junge Mann mit kleinen Summen aus, und sie unterstützt ihn zum Entgelt mit allerlei weisen Ratschlägen, redet stets, als ob sie sterblich in ihn verliebt sei, und bittet ihn, ihr die Ehe zu versprechen, damit er auf diese Weise einmal wieder zu seinem Geld komme. Sie schenkt ihm ihr Bild, ein magisches Bild, das ihr durchaus nicht gleicht, sondern die Fee Belkis vorstellt, dieselbe, die in alter Zeit Königin von Saba war und die den weisen Salomon so sehr liebte. In dies Bild einer schönen, magisch strahlenden, verlockenden Frauengestalt verliebt der Jüngling sich; wo er im Leben geht und steht, begegnet ihm ihr Name, und will er reisen, so heißt selbst das Schiff »die Königin von Saba.« Er wandelt umher in Träumen von seiner Belkis befangen, wie wir alle in Träumen wandeln: unsre Chimäre, unser Ideal, unsre fixe Idee scheint ebenso den Anderen nur Tollheit.
Unschuldig des Mordes angeklagt, der in einem Wirtshaus und in demselben Zimmer begangen wurde, in welchem er schlief, wird der arme Michel zum Tode verurteilt. Er soll gehängt werden und wird unter dem Johlen des Pöbels zum Galgen geführt. Da verkündigt man ihm, daß, nach einem alten Brauch, einem zum Tode Verdammten das Leben geschenkt wird, falls ein junges |49| Frauenzimmer sich über ihn erbarmt und ihn zum Manne nehmen will. Und sieh! da ist Folly-Girlfree, das lustige, hübsche Mädchen, das ihm immer gut war; sie nähert sich dem Schafott, sie will sein Leben retten. Doch er bedenkt sich. Auch er hat Folly-Girlfree von Herzen gern, sie ist gut und schön; aber er liebt sie nicht, liebt nur Eine, glüht heimlich für sein nie gesehenes Ideal, die Fee Belkis. Zärtlich und dankbar blickt er Folly an, wägt Pro und Contra, und – bittet sich aus, gehängt zu werden. Dies Überlegen mit dem Strick um den Hals, dies »Besser gut gehängt als schlecht verheiratet«, wie Shakespeare es ausdrückt,*)*
ist hier mit einem lieblichen Humor durchflochten, mit einer naiven und idealen Lebensphilosophie, die man nicht so leicht vergißt, denn in Augenblicken zuckte sie jedem Mann einmal durchs Hirn.Michel hält schon den Hals hin – da kommt unter Lärm und Geschrei die Brosamenfee herangestürzt, sämtliche Gassenjungen der Stadt im Gefolge, um den Beweis für die Unschuld des Verurteilten beizubringen. Er heiratet sie aus Dankbarkeit; doch kaum hat in der Brautnacht die Thüre sich hermetisch zwischen ihm und seiner steinalten Gemahlin geschlossen, als Belkis im Brautschleier seinem Lager naht.
»Ach, Belkis, ich bin verheiratet; ich bin der Mann von der Brosamenfee.«
»Ich bin die Brosamenfee.«
»Ach nein, das ist unmöglich, du bist ja fast eben so groß wie ich.«
»Das kommt davon, daß ich mich strecke.«
»Aber dies prachtvolle goldne Lockenhaar, das über deine Schultern strömt, Belkis? Das hat die Fee nicht.«
»Nein, denn das zeig’ ich nur meinem Mann.«
|50| »Aber die zwei großen vorstehenden Zähne der Fee, o Belkis, die find’ ich zwischen deinen frischen, dustigen Lippen nicht.«
»O, das ist ein Luxus, der sich nur für das Alter schickt.«
»Und diese fast tötende Seligkeit, die mich an deiner Seite erfaßt, Belkis? Die fühlt’ ich bei der Fee nie.«
»Laß dich das nicht wundern«, lautet die lachende Antwort, »denn bei der Nacht sind alle Katzen grau.«
Und so ist sein Leben bei Tag und Nacht zwischen der weisen, alten Fee und der schönen, jungen Königin von Saba geteilt, bis er endlich die singende Alraunenwurzel findet und, dem Irrenhause entschlüpft, unter ihrem Gesang in den Himmel der Fee und seiner Belkis steigt.
Nicht wahr, dies ist Wahnwitz? aber ein wunderbar seelenvoller Wahnwitz. Was ist diese Fee, welche Brosamen sammelt? – Ist sie die Weisheit, ist sie die Resignation und Pflichterfüllung? Ist sie die unvergängliche Geduld, die zum Genie wird? Ist sie die Treue, die sich in das Glück wandelt, welches ihr Lohn ist? Sie ist wol ein wenig von dem Allen und kann gerade darum sich zu Jugend und Schönheit und seliger Lust verwandeln. Ungefähr so ist es gedichtet oder geträumt.
Wo sich Nodier aus der Höhe seines Schaffens befindet, hat seine Einbildungskrarft einen ausgelasseneren, übermütigeren Schwung; sie begnügt sich nicht damit, den Inhalt regellos durcheinander zu werfen, sie stellt ihn in einer gesprächig-barocken, der Sache selbst spottenden Form dar. Kein Franzose kommt dem, was die Engländer und die Deutschen »Humor« nennen, so nahe wie Nodier. Zuweilen ist er wie besessen von phantastischem Mutwillen. Nicht genug, daß er in seiner Erzählung die Welt der gewöhnlichen Vorstellungen auf den Kopf stellt; er spielt sogar mit dem Verhältnis, in welchem er selbst zu seiner Erzählung steht, spöttelt über die Zeitgenossen, läßt tausend Andeutungen fallen, philosophiert über die Illusionen des Daseins, Alles durch die bloße Form der Mit|51|teilung. Selbst die Buchdruckerkunst nimmt er zu Hilfe, um das Phantastische recht hervortreten zu lassen, oder um die absolute Herrschaft seiner Subjektivität über den Stoff deutlicher nachzuweisen und gleichsam in keinem einzigen Punkte – nicht einmal in dem handwerksmäßig und durch Maschinen hergestellten Medium – irgend eine Äußerlichkeit stehen zu lassen, worin nicht die souveräne Persönlichkeit des Erzählers ihre Laune geltend macht. Er hatte eine ganze Buchdruckerei nötig, um seine berühmte Erzählung »Der König von Böhmen und seine sieben Schlösser« herausgeben zu können. Er befiehlt – und die Buchstaben werden so lang, daß sie die ganze Seite bedecken; er gebeut – und sie werden winzig klein; er läßt seine Stimme erschallen – und sie erheben sich voll Angst; er wird schwermütig – und sie fallen schräg um; sie werden zu Illustrationen, die nicht vom Text getrennt werden können; Gruppen »von lateinischen und gotischen Lettern wechseln mit einander ab, je nach der Stimmung; manchmal stehen sie auf dem Kopf, so daß man das Buch umwenden muß, um weiter lesen zu können; manchmal lehnen sie sich so genau an den Text an, daß ein Hinuntergehen zur Treppe folgendermaßen gedruckt steht:
Es ist interessant in Nodiers, von seiner Tochter verfaßten Biographie den thatsächlichen Elementen nachzuspüren, wonach er seine phantastischen Erzählungen geformt hat. Nur selten liegt wie bei »Ines de la Sierras« etwas Wirkliches, eine Landschaft oder |52| ein altes Schloß, dem Erdichteten zu Grunde. Nodier studierte die betreffenden Lokalitäten auf einem Ausflug, den er 1827 mit seiner Familie nach Spanien machte. Mitunter ist der Ausgangspunkt eine Sage; eine solche liegt z. B. »Trilby« zu Grunde und es ist bezeichnend, daß diese Sage Nodier von dem französischen Übersetzer Walter Scotts und Bhrons, Pichot, erzählt wird. Die Idee zu »Smarra« bekam Nodier, als er seinen Portier in Paris, einen alten Invaliden, der zu krank war, um anders als in einem Stuhle sitzend zu schlafen, von seinem Alpdrücken und seinen Traumgesichten erzählen hörte. Das Modell zu der »Brosamenfee« war eine alte Magd, die zu Nodiers Kindheitserinnerungen aus dem Vaterhaus gehörte und die seinen 60jährigen Vater wie einen leichtsinnigen Jüngling zu behandeln pflegte. Die alte Denise behauptete, daß, bevor sie in dies Haus gekommen, sie bei einem Monsieur d’Amboise, Gouverneur von Château-Thierry, gedient habe; und da sie, wenn sie auf dies Kapitel zu reden kam, in ihre eignen Erlebnisse Erinnerungen der wunderbarsten Begebenheiten und längst vergangener Sitten hineinvermengte, stellte man des Spaßes halber Nachforschungen nach jenem merkwürdigen Gouverneur an. Die städtischen Archive wiesen nach, daß nur ein einziger Gouverneur dieses Namens existiert habe, der allbereits im Jahre 1557 gestorben sei. Man sieht, wie aus diesem drolligen Sachverhalt die Erzählung von der Fee sich bildete. Das unbedeutendste faktische Element, eine Landschaft, eine Sage, ein Traum, eine Lüge, ein Stäubchen genügte für Nodier, um daraus seine Fee und ihren Hofstaat zu bilden.
Der liebenswürdige, geistreiche Mann, dessen Haus eine Reihe von Jahren hindurch der Sammelplatz für die 1830 auftauchende litterarische Generation war, und den jeder Anfänger, jedes junge Talent aufsuchte, um Protektion zu finden und möglicherweise die Vergünstigung zu erlangen, der auserlesenen Gesellschaft, die sich Sonntag Abends im Hause einfand, eine Ballade oder ein Prosa|53|stück vorlesen zu dürfen, vertritt das Extrem der romantischen Phantasterei in der französischen Litteratur der damaligen Zeit. Das Phantastisch-Übernatürliche, welches das Grundwesen der Romantik in Deutschland ausmachte, bildet in Frankreich nur den einen ihrer Pole oder richtiger: es ist ein einzelnes Element in der französischen Romantik, bei einigen ihrer berühmtesten Repräsentanten ein schwaches und untergeordnetes, bei anderen ein stärker hervortretendes, aber hier wie dort ein konstantes Element. Es kommt gleich von Anfang an bei Victor Hugo in seinen Hexensabbath-Balladen zum Ausbruch, es tritt kräftig zu Tage in seiner großen »Legende der Jahrhunderte«, doch historisch aufgefaßt, indem die Legende hier nur naive Geschichte ist; es schimmert selbst bei dem streng rationellen Mérimée hervor, halb verborgen in »La Venus d’Ille«, klarer in »La Vision de Charles XI.« und »Les âmes du purgatoire«; es beherrscht als halb seraphische, halb wollüstig blutige Schwärmerei Lamartines »La chute d’un ange«; es erfüllt Quinets pantheistisch-neblichten »Ahasverus«; es findet sich bei George Sand schon in »Consuelo« und mit dem Alter in den schönen Märchen ein, die sie für ihre Enkel niederschreibt; es beschäftigt selbst den plastischen Gautier in den zahlreichen Novellen, bei denen er sich von Hoffmann inspirieren läßt, und es krönt als Swedenborgscher Spiritismus Balzacs großes naturalistisches Werk »La Comédie humaine« mit einem Roman wie »Séraphitus-Séraphita.« Doch bei Keinem hat es die naive Ursprünglichkeit und die frische, dichterische Kraft wie bei Nodier.
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