Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[21]| III.

Der Romantismus war von Anfang an ein lokaler Befreiungskrieg. Man schwärmte für das Mittelalter, welches von dem achtzehnten Jahrhundert in den Bann der Kultur erklärt worden war, und für die Dichter des sechszehnten Jahrhunderts, Ronsard, du Bellay u. s. w., welche das klassische Zeitalter Ludwigs XIV. verdrängt hatte. An Stelle dessen, was früher den Stolz des französischen Schriftstellers ausgemacht hatte: das Bewußtsein, ein Franzose zu sein, trat nun, in einer natürlichen Reaktion, eine tiefgreifende Geringschätzung der nationalen Dichtung und ihrer Klassiker. Ein nicht gerade verständiger Sturmlauf gegen Racine fand statt. Man definierte die klassische Litteratur als Litteratur für die Schulklassen. Victor Hugo, dem es doch sonst nicht an Nationalstolz fehlte, rief in der Vorrede zu seinen »Orientalen« aus: »Die anderen Völker sagen: Homer, Dante, Shakespeare. Wir sagen: Boileau.« In Beyles Mund war das Wort »französisch« fast ein Schimpfwort; er wollte nicht französisch sein, liebte und verherrlichte nur Italien und forderte, daß man auf seinen Grabstein, obschon dies eine Unwahrheit, zu seinem Namen das Wort »Milanese« setzen solle. Italien und Spanien waren überhaupt für die angehenden Romantiker die gelobten Länder.

Es hatte den Männern der ersterbenden klassischen Litteratur in Frankreich an Blick für das Fremde und die Vorzeit gefehlt; als Klassiker hatte man keinen ethnographischen und keinen geschichtlichen Sinn. Man war zuletzt in Abstraktion und Konvenienz so |22| weit gekommen, daß die Personen eines Dramas wie die Figuren eines Schachspiels ihre bestimmte Rolle zu vertreten und in vorgeschriebener Weise sich zu bewegen hatten. Es gab einen König, einen Tyrannen, eine Prinzessin, einen Verschworenen oder Vertrauten im allgemeinen. Ob die Königin, die ihren Gemahl getötet hatte, Semiramis, Klytämnestra, Johanna von Neapel oder Maria Stuart hieß, ob der Gesetzgeber Minos oder Peter der Große oder Cromwell genannt wurde, ihre Worte und Handlungen, Gedanken und Gefühle waren immer dieselben. Ein junger Dichter, der aus der spanischen Geschichte einen Stoff entlehnt hatte und dem die Censur Schwierigkeiten bereitete, fand den Ausweg, mit einem Federstrich die Handlung aus Barcelona nach Babylon, und aus dem sechszehnten Jahrhundert in die Zeit der Sündflut zu verlegen, da »Baby1one« sich auf dieselben Worte reimte und dieselbe Silbenzahl hatte, wie »Barcelone«, so daß in den schönsten Tiraden fast nichts zu ändern war.*)*

*) Guizot: Shakespeare et son temps. S. 294.
Der Abwechselung willen ließ ein anderer Dichter in einer Tragödie »Columbus« die Bühne das Verdeck eines Schiffes in immer neuen Umgebungen darstellen, und – die Regel der Einheit des Raumes war gerettet.

Die französische Romantik war nun ein Kampf gegen die thörichte klassische Betrachtung einer gewissen Anzahl großer Schriftsteller als bleibender »Muster«, gegen das unechte Antikisieren, die steife Behandlung der Alexandriner, das Joch der Tradition, das ganze chinesische Formelwesen, aus welchem der französische Geschmack während des Kaiserreiches zusammengesetzt wars Der Hoftrauer der regulären Tragödie stellte sie die tragische Wildheit Shakespeares gegenüber. Wie früher Lessing und Schlegel in Deutschland, Coleridge und Keats in England, focht man gegen das Mißverständnis der Aristotelischen Lehre von den drei Einheiten, gegen die auf der Bühne ewige Familie Agamemnons und gegen das langweilige und |23| einförmige Modernisieren und Gallisieren aller Zeitalter und Völker. Man fühlte, daß man in einem Vorurteil verstrickt gewesen, wonach ein Mensch ohne weiteres ein Mensch und der Mensch im allgemeinen mehr oder weniger ein Franzose wäre. Man sah das Irrtümliche dieser Ansicht ein. Es gäbe keine Menschheit im allgemeinen zu schildern. Es gäbe Rassen und Stämme, Völker und Clane. Noch weniger sei der Franzose der Universalmensch. Es gelte, aus sich herauszugehen, um die Menschenwelt zu verstehen und darzustellen. Mit dieser Losung war der Stoß zu der ganzen Kunst, Kritik und Geschichtschreibung Frankreichs in diesem Jahrhundert gegeben.

Zu der Zeit, wo das scharfe Bronzeprofil Mérimée’s aus der Gruppe der Romantiker hervortaucht, wird die Losung: Lokalfarbe! ausgesprochen, und unter der Lokalfarbe verstand man all’ das den fremden Völkerschaften, den fernen Zeiten, den unbekannten Klimaten Eigentümliche, das bis jetzt noch nicht, oder doch nur bei den Vorläufern der Romantiker, wie Saint-Pierre und Chateaubriand, in französischer Poesie zu Worte gekommen war. Die sentimentalen Türken, die man in dem vorigen Jahrhundert gezeichnet hatte, klagten über Amor, der »hundertmal mehr Türke« sei als sie. Der indische Pariah in dem Drama Delavignes war nur das abstrakte Symbol einer unterdrückten Klasse. Man fing jetzt an, die fremden naiveren Litteraturen zu bewundern und das barbarischste Volkslied über die den Regeln entsprechendste Tragödie zu setzen.

Und jetzt versuchte man, das Publikum für diesen neuen Gesichtspunkt zu erziehen. Man schrieb nicht, um dem Publikum zu gefallen; und das ist es, was den Büchern dieser Periode ihren Wert giebt. Denn das steht fest: sobald der Schriftstellers nicht zu den tiefsten Schichten der menschlichen Seele hinuntergestiegen ist, sein Werk nicht rücksichtslos zu schreiben gewagt, sondern sein Publikum um Rat gefragt, sich nach den Vorurteilen, der Unwissenheit, der Unwahrhaftigkeit seines Publikums gerichtet hat, so kann |24| er die höchste Anerkennung bei seinen Zeitgenossen gefunden haben – und er hat sie in der Regel gefunden –, kann Lorbeeren und Gold gewonnen haben – für die Litteraturgeschichte bleibt sein Werk wertlos. Alle jene Produkte einer Vernunftehe des Schriftstellers mit dem Publikum sind ein Menschenalter später kalt wie Leichen. Sie enthielten keine wirkliche Summe von Lebenskraft, nur Furchtsamkeit einem Publikum gegenüber, das längst ausgestorben ist, und Berücksichtigung von Ansprüchen, die längst verstummt sind. Jedes noch so wenig gelesene Buch dagegen, in welchem der Verfasser ohne Nebenrücksichten so gesprochen wie er fühlte, und so gemalt hat, wie er sah, ist und bleibt eine inhaltschwere Urkunde.

Man sage nicht, daß diese Verurteilung der von dem Publikum bestimmten Dichtung sich mit der Nachweisung des entscheidenden Einflusses der sozialen Umgebung auf den Schriftsteller nichtvereinigen läßt. Der Schriftsteller kann sich ganz gewiß nicht außerhalb seines Zeitalters stellen. Aber die Zeitströmung ist nicht einfach, sie ist doppelt; es giebt hier einen Ober- und Unterstrom. Nur von dem ersteren sich treiben zu lassen, ist Schwäche und führt ins Verderben. Mit anderen Worten: es giebt zu jeder Zeit herrschende und beliebte Ideen und Formen, die nichts sind als die längst gezogenen, nach und nach verknöcherten Resultate früherer Zeiten, und es giebt eine ganz andere Klasse von Impulsen, die noch nicht Form gewonnen haben, aber in der Luft liegen, und die von den begabtesten Schriftstellern einer Epoche als die zu ziehenden Resultate empfunden werden. Diese sind es, die das vereinigende Element der Bestrebungen bilden.

Im Jahre 1827 gastierten englische Schauspieler in Paris, und zum erstenmal sahen die Franzosen die Meisterwerke Shakespeares »König Lear«, »Macbeth«, »Othello«, »Hamlet« bewundernswert aufgeführt. Unter dem Eindruck dieser Theaterabende schrieb Victor Hugo seine Vorrede zu »Cromwell«, die als das Programm der neuen Litteratur aufgefaßt wurde.

|25| Der poetische Freiheitskrieg begann mit einem Sturmlauf gegen die klassisch-französische Tragödie, den schwächsten und am meisten ausgesetzten Punkt der litterären Traditionen. Für den, der die Angriffe Lessings, Wilhelm Schlegels und der englischen Romantiker auf die Autorität derselben kennt, bietet das Manifeft Victor Hugos wenig Neues. Es war ja aber natürlicherweise eine verdienstliche Handlung, diesen Kampf auf Frankreichs eigenem Grund und Boden zu führen.

Betrachtet man jedoch diese Vorrede nicht geschichtlich, so werden die Kraftanstrengungen, die gemacht wurden, um zu beweisen, wie unnatürlich die Beschränkung der dramatischen Handlung auf eine und dieselbe Säulenhalle und eine Zeit von vierundzwanzig Stunden sei, dem Leser unserer Tage fast so uninteressant scheinen wie die bekämpften Absurditäten; man darf aber nicht vergessen, daß die Autorität Boileaus in Frankreich noch unerschüttert dastand.

Weit größeres psychologisches Interesse bieten die Partien dar, wo Hugo seine persönliche Poetik entwickelt, obgleich er so sehr Dichter und so wenig Denker ist, daß er nur selten einen befriedigenden Beweis führt.

Es gilt für ihn, die abstrakte, antikisierende Richtung in der Tragödie zu bekämpfen. Er thut dies sonderbar genug im Namen des Christentums und kraft einer großen weltgeschichtlichen Übersicht, die systematisch eben so falsch ist, wie irgend eine seines Zeitgenossen Coufin, an den sie erinnert. Er fondert drei große Perioden: die primitive, wo die Poesie lyrisch war; diejenige der antiken Civilisation, wo die Poesie episch war, und diejenige des Christentums – die Periode des Dramas. Das für die Poesie der christlichen Zeit, welche mit der modernen Zeit indentifiziert wird, Eigentümliche soll folgendes sein: diese Dichtungsart, welche von der Religion gelernt hat, daß der Mensch aus zwei Bestandteilen, Körper und Seele, aus einem tierischen und einem geistigen Wesen bestehe, nimmt von nun an die beiden vorher einander |26| ausschließenden Elemente, das Erhabene, das der Seele, das Groteske, das dem Körper entspricht, in ein und dasselbe Werk auf. Die Tragödie braucht also nicht immer feierlich zu sein, sie darf sich zum Drama erweitern.

Nehmen wir nun weniger Rücksicht auf das, was Hugo sagt, als darauf, was er eigentlich sagen will, so ist der Kern dieser ziemlich thörichten Auseinandersetzung ein naturalistischer Protest gegen das abstrakt Schöne als einzigen oder doch eigentlichen Gegenstand der Kunst. Der Sinn ist: Wir wollen die Konvenienz verlassen, wir wollen nicht verpflichtet sein, aus der ernsten Poesie alles der Körperwelt Angehörende zu entfernen. Man spürt es an seinen Beispielen. Der Richter soll sagen dürfen: Zum Tode verurteilt – und nun zu Tische! Die Königin Elisabeth darf fluchen und Latein reden. Cromwell darf sagen: »Ich habe das Parlament in meinem Sack und den König in meiner Tasche.« Cäsar darf in dem Triumphwagen Furcht haben, umgeworfen zu werden. Und er nennt den Satz Napoleons: »Von dem Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt«, das Angstgeschrei, welches in einer Summe das Drama und das Leben enthält.

So exaltiert der Ausdruck auch ist, der Sinn ist einfach: Er hebt den ästhetischen Wert des Unschönen hervor. Und in vielen Ausdrücken, bald so, daß das Schöne die Form nur in ihren einfachsten Verhältnissen als absolute Symmetrie umfaßt, wogegen das Häßliche Glied einer viel größeren Harmonie sei, die zu überschauen wir nicht vermögen; bald so, daß das Schöne arm sei, nur einen einzigen Typus, während das Häßliche tausend habe u. s. w.

Die Lehre wurde von den Gegnern durch die Formel: »Le laid c’est le beau« parodiert und mit den Einwendungen bekämpft, die heutzutage gegen den extremen Naturalismus geltend gemacht werden.

War denn dieser französische Romantizismus nicht einfach ein leicht verkappter Naturalismus? Was Hugo im Namen des jungen Geschlechts forderte, war ja doch nur Natur, wahrheitsgetreue |27| Wiedergabe, Lokalfarbe und historische Farbe. George Sand ist ja nur die Tochter Rousseaus, des Verkünders eines Naturevangeliums; Mérimée und Stendhal sind halb brutale, halbwegs elegante Naturanbeter; Balzac wird heutzutage sogar als Haupt der naturalistischen Schule verehrt.

Die Antwort ist nicht schwer. Hugos Losung war zwar Natur und Wahrheit, was er suchte war aber zugleich und vor Allem Kontrastwirkung, malerischer Gegensatz, Antithese auf der Grundlage des mittelalterlichen Dualismus von Leib und Seele und einer dualistischen Romantik. »Der Salamander verschönert die Undine, der Gnom die Sylphide,« sagt er. Er wünschte Naturwahrheit, aber meinte sie durch Zusammenzwingen der äußersten Endpunkte des Natürlichen erringen zu können; er brachte das Tier und die Schönheit, Quasimodo und Esmeralda in einem Werke, Courtisanentum und reine Liebe, die Mordsucht Lucretia Borgias und zärtliches Muttergefühl in einem Herzen zusammen. Die Natur war ihm – echt romantisch – der große Ariel-Caliban, die Summe einer übermenschlichen Idealität und eines unnatürlich tierischen Wesens, die Summe zweier Unnatürlichkeiten. Es war der Naturbegriff der deutsch-nordischen Romantik, der doch bei Hugo allmählich dem großartigen Pantheismus wich, der seinen entscheidenden Ausdruck in dem schönen und tiefsinnigen Gedicht »Le Satyre« in der »Legende der Jahrhunderte« fand.

Aber diese Vereinigung von Liebe zur Natur und von Schwärmerei für das Unnatürliche läßt sich weit hinein in die jetzt erblühende Litteratur verfolgen. Alle diese Schriftsteller preisen die Natur. Was sie aber unter den Namen des Gewöhnlichen, des Alltäglichen, des Prosaischen, des nur Wirklichen schmähen und fliehen, das ist eben die einfache, nahe liegende Natur. Nur die romantische ist ihnen lieb. Aus dem Lande der harten Wirklichkeit entflieht George Sand in das Reich der schönen Träume; Théophile Gaustier in das Reich der schönen Kunst. George Sand ließ in »Lélia« |28| Balzac in »Père Goriot« den idealen oder allmächtigen Galeerensklaven die Gesellschaft richten; ja Balzac schrieb phantastische Legenden in Hoffmanns Art. Und wie sie in ihren Gestalten das Gewöhnliche, einfach Natürliche scheuen, so noch weit mehr in dem sprachlichen Ausdruck. Es entwickelte sich eine pompöse Rhetorik, welche diejenige der klassischen Zeiten weit hinter sich ließ. Man steckte ebenso gern dem Substantiv wie dem Helden einen Federbusch an den Hut. Malende, schwärmerische Adjektive, die in überschwänglicher Zahl wie Juwelen in den Prosastil eingefügt wurden, eröffneten jeden Augenblick eine unendliche Perspektive. Insofern kann man sagen, daß die Diktion wie die Ideale dieser Jugend romantisch waren. Aber auch nur insofern.

Bei Hugo, dem Stifter der Schule, war diese Doppelliebe zur Natur und Unnatur durch eine individuelle Eigentümlichkeit bedingt. Sein Auge war darauf angelegt, Kontraste zu sehen und zu finden, sein Geist so geartet, daß er in der rhetorischen Antithese seine Grundform hatte. Schon in seinem im Knabenalter geschriebenen Melodrama »Inez de Castro« findet man, wie später in seinem »Marie Tudor« auf der einen Seite der Bühne den Thron, auf der andern das Schafott – Monarch und Scharfrichter einander Angesicht zu Angesicht gegenüber. Kurz bevor die Vorrede zu »Cromwell« geschrieben wurde, spazierte Hugo, wie seine Frau erzählt, häufig auf einem der äußeren Boulevards, Boulevard Montparnasse. »Dem Kirchhofe gegenüber hatten damals Seiltänzer und Gaukler ihre Baracke aufgeschlagen. Diese Antithese von Marktschreierei und Begräbnis bestärkte ihn in seiner Idee von einer Art Schauspiel, in welchem die Extreme sich berührten, und dort war es, daß der dritte Akt von »Marion de Lorme« ihm einfiel, wo der sorgenvolle und vergebliche Versuch des Marquis von Nangis, seinen Brudersohn vom Schafotte zu retten, das Gegenstück zu den Fratzen des Hofnarren bildet.« In der Vorrede zu Cromwell heißt es ebenso bezeichnend, wo Hugo die Notwendig|29|keit verficht, die Handlung in ihrer wahren Lokalität darzustellen: »Sollte der Dichter wagen, Rizzio anderswo ermorden zu lassen als in der Kammer Maria Stuarts […] oder Carl I. und Ludwig XVI. anderswo hinzurichten, als an jenen traurigen Plätzen, von wo aus man White-Hall und die Tuilerien sieht, als sei ihr Schafott ausersehen gewesen, das Gegenstück ihrer Paläste zu bilden.« Der Dichter sieht, seinen Behauptungen zum Trotz, die äußere Umgebung nicht verständnisvoll an. Er sieht sie nicht so, wie sie die Entwickelung der menschlichen Seele beeinflussen; er nimmt sie nur als Symbole der Schicksalswandlungen, stellt sie wie Kulissen eines Melodramas gegen einander auf.

Genau betrachtet – was ergiebt sich hieraus? Eine Eigentümlichkeit, die bis zu einem gewissen Grade für große Gruppen von Werken des französischen Romantismus bestimmend ist, und die sich am kürzesten so ausdrücken läßt: Der Romantismus auf französischem Grund und Boden ist, trotz seiner vielen gemeinsam europäischen romantischen Elemente, in vielen Punkten eine klassische Erscheinung, ein Erzeugnis klassisch-französischer Rhetorik.

Es gilt jedoch vor allem festzustellen, was man mit den Worten »klassisch« und »romantisch« meint. Der Gebrauch der Worte wechselt sonderbar. Als das Wort »romantisch« in Deutschland aufkam, hatte es ursprünglich einen ähnlichen Sinn wie »romanisch«; die Romantiker schwärmten für romanischen Katholizismus, romanische Schnörkel und Concetti, Sonette und Canzonen und für den großen romanischen Dichtergenius, Calderon, den sie entdeckten. Als die Romantik ein Menschenalter später Frankreich erreichte, bedeutete das Wort »romantisch« fast das Entgegengesetzte, den deutsch-englischen Geist im Gegensatz zum griechisch-lateinisch-romanischen, das germanisch-angelsächsische Gepräge. Dies beruhte einfach darauf, daß das Fremde überhaupt romantisch wirkt. Ein Volk mit einheitlicher Kultur, wie die alten Hellenen, erhält eine klassische Kunst und Poesie; sobald aber ein Volk von seiner Kultur |30| aus eine andere entdeckt, die ihm fremd und abenteuerlich vorkommt, so wird diese Kultur ihm romantisch erscheinen, d. h. sie wirkt wie eine durch ein farbiges Glas gesehene Gegend. Die Romantiker in Frankreich schätzten ihre nationalen Vorzüge, die Klarheit, die Verstandesdurchsichtigkeit ihrer Litteratur gering und priesen Goethe und Shakespeare, weil sie nicht wie Racine (und zum Theil Corneille) das Menschenleben in seine abstrakten Elemente sonderten, nicht isolierte und simplifizierte Gefühle darstellten, die dramatische Antithesen bildeten, sondern das Leben en bloc, in seinem ganzen Komplex auf die Bühne warfen. Sie wollten diesem großen Beispiel folgen.

Aber was geschah? Die Wirklichkeit des Lebens wurde unter ihren Händen (bei Lamartine, de Vigny, George Sand, Sainte-Beuve u. s. w.) aufs neue analysirt; bei Victor Hugo und Alexander Dumas bildeten, wie in der klassischen Tragödie, die Extreme symmetrische Kontraste. Ordnung, Maß, aristokratische Feinheit, eine durchsichtige und bildlose Sprache bestimmte bei Nodier, Beyle, Mérimée, ganz wie bei den Klassikern des achtzehnten Jahrhunderts, die poetische Form.

Die leichte, freie, lustige Phantasie, die alle Gegensätze der poetischen Erfindung vermischt, die Wirkliches und Unmögliches, Nahes und Fernes, Gegenwart und graues Altertum durch einander vorführt, die Blumen aller Weltgegenden in ein Bouquet bindet, Göttliches und Menschliches, volkstümliche Legenden und tiefsinnige Allegorien zu einem symbolischen Ganzen vereinigt, diese eigentlich romantische Poesie war ihnen verweigert. Den Tanz der Elfen sahen sie nie und hörten nie die zarte Melodie ihrer Reigen. Sie waren Lateiner, sie fühlten wie Lateiner, sie dichteten wie Lateiner; und wer lateinisch sagt, der sagt klassisch.

Versteht man also unter Romantik, wie man zu thun pflegt, einen Überschuß des Inhalts über die Form, einen von regelmäßigen Formen unbeherrschten Inhalt (wie bei Jean Paul und Tieck, ja |31| wie bei Shakespeare und Goethe, wie in dem »Sommernachtstraum« und im zweiten Theil von »Faust«), so sind alle die französischen Romantiker Klassiker. Mérimée, Gautier, George Sand, Lamartine, Nodier, sie alle sind in diesem Sinne klassisch; ja sogar Victor Hugo ist klassisch. Das romantische Drama Hugos war abstrahierend, regelmäßig geordnet, überschaulich, rhetorisch wie eine Tragödie von Corneille.

Und indem ich diesen Namen nenne, macht mein Gedanke unwillkürlich und notwendig den Übergang von dem Gepräge des Zeitalters zu demjenigen der Rasse. In Hugo, der Corneille zu bekämpfen scheint, lebt Corneille wieder auf.

Durch den französischen Volkscharakter gehen viele Adern, eine Ader des Zweifels, des Scherzes und des Spottes, die Linie Montaigne – La Fontaine – Molière – Mathurin Régnier – Pierre Bayle u. s. w., eine vollblütig gallische: Rabelais – Diderot – Balzac, und unter anderem auch eine Ader des Heldenmutes und der Begeisterung; die ist es, welche bei Corneille so reichlich strömt und welche bei Hugo wieder hervorbricht. Man vergleiche die ganze pathetische Haltung Hugos mit derjenigen anderer Dichter, und man wird kaum in der Weltlitteratur jemand finden, an den seine Grandezza lebhafter erinnert, als an den alten Corneille. Es findet sich etwas Spanisches in der französischen Rhetorik bei ihnen beiden; lateinische Rassenzüge sind ihnen gemeinsam. Zu Corneilles Zeit war die spanische Literatur die herrschende in Europa, und das Drama, dem Corneille seinen Ruhm verdankt, ist »Cid«, in dem ein spanischer Stoff in spanischem Geiste behandelt ist. Hugo, der seine Kindheit in Spanien verbrachte, hatte tiefe Eindrücke von Volk und Land empfangen, und das Drama, mit welchem er durchdrang, ist »Hernani«, spanisch durch »den Stoff und denan Calderon erinnernden Kultus der Ehre. Was in beiden Dramen gelehrt und getrieben wird, ist der reine Heroismus; sie sind Schulen für Helden. Nicht das Menschenleben in seiner Allseitigkeit, son |32|dern das heroische Menschenwesen ist bei Corneille dargestellt; bei Hugo nur durch die Menschennatur in ihrer wilden Leidenschaftlichkeit symmetrisch vervollständigt.

Werfen wir einen Blick auf dieses Drama »Hernani«, das zu dem großen Entscheidungskampf zwischen der Generation von 1830 und der älteren Anlaß gab. Die äußeren Umstände bei der ersten Aufführung sind oft erzählt worden: daß gegen das noch ungespielte Drama Intrigue auf Intrigue geschmiedet wurde; daß Anhänger der alten Schule während der Probe an den Thüren horchten und noch bevor »Hernani« gespielt war, eine Parodie aufführen ließen; daß der Dichter mit der Censur um sein Stück Vers für Vers kämpfen mußte und die eine Zeile »Feiger, thörichter und schlechter König!« zu einer ganzen Korrespondenz Anlaß gab; daß endlich Schauspieler und Schauspielerinnen gleich feindlich gesinnt waren, so daß nur Einzelne mit gutem Willen an ihre Rolle gingen. Bekanntlich hatte Hugo auf die bezahlte Claque Verzicht geleistet und sich an ihrer Stelle 800 Plätze für die drei ersten Abende ausbedungen. Die Treuesten unter seinen Getreuen, junge Männer, die nach eigenem Geständnis, in der unreinen Absicht, den guten Bürger zu ärgern, ihre Nächte damit verbrachten, »Es lebe Victor Hugo!« an die Bogengänge der Rue Tivoli zu schreiben, warben die jungen Maler, Architekten, Poeten, Bildhauer, Musiker, Buchdrucker, die nach ihrer ihnen von Hugo gegebenen und den Billets aufgestempelten Devise »Hierro« (Eisen) bereit waren, dem Feinde unerschütterlich zu stehen. Bei dem Aufgehen des Vorhangs brach der Sturm los und jeden Abend, wo das Stück aufgeführt wurde, war im Theater ein solcher Höllenlärm, daß es nur mit Mühe zu Ende gespielt wurde. Hundert Abende nach einander wurde »Hernani« ausgezischt, und von jungen Enthusiasten, die nicht müde wurden, um ihres Häuptlings willen jeden Abend dieselben Verse zu hören und zu applaudieren, Zeile für Zeile gegen den Haß, die Wut, die Übermacht der Gegner verteidigt und stürmisch zum Siege |33| geführt. Es scheint eine geringe Sache, und doch hat man nur in Frankreich einen solchen Korpsgeist ohne äußere Korpsverbindung, eine solche Uneigennützigkeit und Ergebenheit für die Sache und die Ehre eines Anderen gefunden.

Die Gegner mieteten Logen und ließen sie mit Bedacht leer stehen, damit die Zeitungen mitteilen könnten, daß sie leer standen; einige kehrten der Bühne den Rücken, andere schnitten verzweifelte Gesichter, als ob sie die Langeweile des Stücks nicht ertragen – könnten, vertieften sich in Zeitungslesen, schlugen Logenthüren aus und zu, erhoben ein Hohngelächter, schrieen, zischten derart, daß eine entschlossene Verteidigung notwendig war.

Es giebt in »Hernani« kein Gefühl, das nicht zum Bersten gespannt ist. Der Held ist genial und edel, wie man sich bei zwanzig Jahren Genialität und Edelmut denkt. Er ist so genial, daß er als Räuberhäuptling lebt, und er verachtet in dem Grade schlau zu handeln, daß er aus lauter Seelenhoheit jeden Augenblick die unverständigsten Handlungen begeht, sich selbst verrät, seinen Todfeind entschlüpfen läßt. Er übt als Häuptling eine unbedingte Herrschaft über andere Männer aus, doch einzig und allein durch seinen Mut, wie es scheint; denn alle seine Handlungen sind naiv wie die eines Kindes. Er ist Hugos Karl Moor. Er bedeutet romantisch den Krieg gegen die Gesellschaft, er ist der Flammenmensch, der vom Schicksal gezeichnet, seinen verhängnisvollen Weg gehen muß.

Aber dieser politische und ideale Bandit, der an der Spitze einer treuen und begeisterten Bande steht – er erinnert zugleich an den Dichter selbst, der in der Litteratur vogelfrei war, wie jener im Leben, und der Parquet und Gallerie an eine Schaar junger Männer verteilt hatte, deren Aussehen und Kostüme kaum weniger irregulär waren, als die seines Räuberhaufens. Frau Hugo beschreibt die Zuschauerschaar, die sich auf Hugos Einladung den ersten Abend einfand, als »eine Bande wilder und sonderbarer Wesen, mit Vollbart und langen Haaren, auf jegliche Weise, nur |34| nicht nach der Mode gekleidet, welche spanische Mäntel zu wollenen Jacken, Robespierre-Westen zu Baretten aus Heinrichs III. Zeit trugen, und die mitten in Paris bei helllichtem Tage durch ihre Bekleidung und Kopfbedeckung die verschiedensten Jahrhunderte und Länder repräsentierten.« Ihr Fanatismus für Hugo war reichlich so groß wie derjenige der Räuber für Hernani. Sie wußten, daß man in einem anonymen Briefe Hugo mit dem Tode gedroht hatte, »wenn er sein schmutziges Stück nicht zurücknehme«, und so unwahrscheinlich es auch war, daß die Drohung buchstäblich auszufassen sei, begleiteten zwei von ihnen ihn jeden Abend zu und von dem Theater, trotzdem er und sie an den entgegengesetzten Enden von Paris wohnten.

Unter den Papieren Hugos aus jener Zeit findet sich ein hübsches Billet von dem Maler Charlet, das die Stimmung der jungen Leute dokumentiert:

»Vier meiner Janitscharen bieten mir ihre Arme an, ich lege sie Ihnen zu Füßen und bitte Sie um vier Plätze für heute Abend, wenn es nicht zu spät ist. Ich bürge für meine Mannen. Es sind Leute, die gern die Köpfe abschnitten, um die Perücke zu erobern. Ich ermuntere sie, in diesen edlen Gefühlen zu beharren, und lasse sie nicht gehen, ohne ihnen meinen väterlichen Segen gegeben zu haben. Sie knieen – ich strecke meine Hände aus und sage: Junge Leute! Gott behüte Euch. Die Sache ist gut, thut Eure Pflicht! Sie stehen auf und ich füge hinzu: Und jetzt, Kinder, paßt gut auf Victor Hugo; denn der liebe Herrgott ist zwar ein guter Mann, aber er hat so viel zu thun, daß unser Freund vor allem auf uns rechnen muß. Gehet denn und macht dem, welchem Ihr dienet, keine Schande. Amen.

Ihr mit Leib und Seele ergebenerCharlet.«

Von einer so schwärmerischen Anhänglichkeit getragen, im Kampfe mit einem so fanatischen Widerstande stürmte die roman|35|tische Kunst die erste, feindliche Schanze und gewann ihren ersten, entscheidenden Sieg.

Diese Jünglinge hörten von der Bühne ihren eigenen Trotz und Unabhängigkeitstrieb, ihren Mut und ihre Hingebung, ihre ideale und erotische Sehnsucht einige Töne höher gestimmt, und ihre Herzen schmolzen bei dem, was sie hörten.

Es war ja im Februar 1830, fünf Monate vor der Julirevolution. Frankreich war wie die Gänge des Versailler Gartens reguliert, von Greifen regiert, die keine anderen jungen Männer beschützten als die, welche in der Schule lateinische Verse zur Vollkommenheit geschrieben und sich später durch untadelhafte Korrektheit zu Ämtern und Stellungen würdig gemacht hatten. Da saßen sie korrekt, wohlgekleidet und rasiert, mit ihren Binden und Vatermördern.

Und nun als Gegensatz zu dieser Jugend in dem Parkett, Einer mit Haaren, die bis zum Gürtel herabhingen, Einer mit einem Rubenshut und bloßen Händen, Einer in einer Jacke von hellrotem Atlas. Sie haßten das große bürgerliche Philisterium, wie Hernani die Tyrannei Karls V. haßt. Sie fühlten sich; auch sie waren freie Räuber in den Bergen, arm, stolz, Einer mit republikanischen Träumen im Herzen, die meisten mit einem wahren Kultus der Kunst; da standen sie, fast lauter Genies, Balzae, Berlioz, Gautier, Gerard de Nerval, Petrus Borel, Préault und maßen mit den Augen ihre Gegner von derselben Generation. Das fühlten sie, sie wenigstens waren nicht Stellenjäger, nicht protegierte Bettler, wie jene anderen. Sie waren das Geschlecht, das wenige Monate nachher die Julirevolution machte und in den nächstfolgenden zehn Jahren Frankreich eine Litteratur und Kunst ersten Ranges gab.

So sahen sie den Helden Hernani an. Und was sahen sie in der anderen Hauptgestalt, in König Karl V.? Er ist anfangs odiös. Die Liebe des kalten, klugen Herrschers zu Donna Sol widert den Zuschauer an, weil er es nicht verschmäht, rohe Gewalt |36| anzuwenden, um die Geliebte zu erobern. Aber der Dichter hat es verstanden, ihn steigen zu lassen. Wir fühlten stets bestimmter, wie ein großer Ehrgeiz seine Brust erfüllt.

Es war der Riesenmonolog Karls V. an der Gruft des großen Karls, der jenen ersten Abend das Schicksal des Dramas entschied, und dieser unendlich lange, oft kritisierte und verspottete Monolog ist in Wirklichkeit das Werk eines jungen Meisters. Es ist, selbst wenn man es nicht wüßte, leicht zu sehen, wie unhistorisch dieser Monolog ist, wie unmöglich Karl V. so denken konnte. Er ist aber interessant durch die Treue, mit welcher er die politischen Gedanken und Träume der dreißiger Jahre abspiegelt und durch den politischen Blick, der sich in ihm verrät. Es ist diese Art von historisch-politischem Genieblick, der uns bei den Dichtern manchmal in Erstaunen setzt; der einundzwanzigjährige Schiller hat ihn in »Fiesco«. Man höre die Schilderung, die Carlos von Europa giebt: Ein Gebäude mit zwei Menschen auf seinen Zinnen, zwei erkorenen Häuptlingen, denen jeder geborene König sich unterwerfen muß, dem Kaiser und dem Papst. Fast alle Staaten sind erblich und die Herrschermacht insofern dem Zufall preisgegeben, aber das Volk hat durch die Wahl bisweilen seinen Papst oder seinen Kaiser und das Gleichgewicht ist wieder hergestellt. Die Kurfürsten in ihrem Goldstoff, die Kardinäle in ihrem Scharlach sind die Mittel, deren Gott sich bedient, um den Völkern zu helfen.

»Mag eine Idee, die von dem Bedürfnis der Zeit empfangen ist, einen Tag das Licht sehen, so wächst sie, mischt sich in Alles hinein, wird Mensch, ergreift die Herzen. Manch ein Fürst knebelt sie und tritt sie mit Füßen; mag sie aber eines Tags Eintritt in den Kurfürstenrat oder das Konklave erhalten, so sehen die Könige plötzlich die Idee, die kürzlich Sklavin war, hoch über ihren königlichen Häuptern sich erheben, mit der Weltkugel in der Hand oder der dreifachen Krone um die Stirn; sie tritt auf ihre Nacken, sie wischt ihre Sandalen ab an ihren Köpfen.«

|37| Gewiß ist Karl V. nicht der Herrscher, an den der Dichter hier gedacht hat; er dachte augenscheinlich an einen in der Zeit ihm näher stehenden Kaiser, Napoleon, von dem Hugo eben kurz zuvor in der Ode an die Vendômesäule geschrieben hatte, seine Sporen wögen die Sandalen Karls des Großen auf. Man darf nicht vergessen, daß die während der Restauration und des Julikönigtums in der Litteratur epidemische Schwärmerei für Napoleon nicht eben Bonapartismus bedeutete, fast nur das Zeichen, daß man zur Opposition gehörte, war. Der Napoleon, den man vergötterte, war nicht der Despot Frankreichs, sondern der Demütiger der Könige und der Königsmacht. Der Kaiser wurde im Gegensatz zu den Königen als das personifizierte Volk betrachtet und deshalb hörte jenes junge Geschlecht nicht ohne Erregung der Gemüter die Stelle des Monologs, wo Karl ausruft:

»Ihr Könige! seht hinab! da ist das Volk, ein Ozean, der oft einen Thron zerstört, ein Spiegel, in welchem ein König selten sein Bild verschönert sieht.«

Es sind, wie man sieht, revolutionäre, rein moderne Reminiszenzen und Gleichnisse, die jeden Augenblick das Gemüt Karls V. durchkreuzen. Er reift der Gruft gegenüber zu einem Volkskaiser der Art, von welcher die neuere Zeit so oft geträumt hat, und die heftigen Leidenschaften seiner Seele werden durch die Sehnsucht geläutert, ungeheure Aufgaben zu lösen und unerhörte Thaten zu vollbringen. Er, der zuerst so tief unter Hernani und Donna Sol zu stehen schien, endigt als Kaiser damit, zu entsagen und zu schonen, und mit einem Schlage werden die beiden Liebenden neben ihm klein und unbedeutend in ihrem Glück.

Mit der Hand auf der Brust sagt er still zu sich selbst:

»So erlisch denn, du mein flammendes Herz!
Laß den Kopf herrschen, den du immer störtest!
Deine Gebieterinnen, deine Geliebten, ach! das sind von jetzt an Deutschland und Spanien und Flandern.«

|38| Und mit einem Blick auf das Reichsbanner fügt er hinzu: »Der Kaiser ist seinem Begleiter, dem Adler, ähnlich; an der Stelle des Herzens hat er ein Wappenschild.«

Eine solche Replik schlug in jene ehrgeizige Jugend ein. Das Drama des Ehrgeizes, die Tragödie des Ehrgeizes ergriff sie ebenso stark wie das Schauspiel des Unabhängigkeitskampfes. Sie wußten als Künstler, als Geister, daß der männliche, auf große Ziele und historische Aufgaben gerichtete Wille nur dadurch sich das Leben erhält, daß er mit den feinsten Gefühlen und Genüssen, der feinsten Sehnsucht der Seele genährt wird, die auf dem Altar des Zweckes geopfert werden und in Flammen ausgehen – und so wurde auch Carlos verstanden.

Doch der fünfte Akt war durch seinen rein lyrischen Charakter, durch den Wechselgesang zwischen den beiden Liebenden, das Juwel des Stückes. Hier kam die Liebe zu Worte, wie die romantische Jugend sie dargestellt zu sehen wünschte. Keine Galanterie wie im achtzehnten Jahrhundert, kein seraphisches Gefühl wie bei Lamartine, eine Leidenschaft, die zugleich erhaben und tigerartig wild war.

Dieses Gespräch aus der Schwelle der Brautkammer, welche die Liebenden nie betreten werden; diese Mischung von allem Entsetzen der Vernichtung und von einem Glück, das so groß, so ernst ist, daß es, wie Hernani sagt, Bronzeherzen erfordert, um sich hineingraben zu können; diese Sinnlichkeit, die in ihr so keusch und musikalisch, in ihm so rein und glühend, in Beiden selig ist; diese überirdische Schwärmerei bei Donna Sol, und dies Bedürfnis, die Vorzeit über dem Frieden des Augenblicks zu vergessen, bei Hernan – das war Romantik, wie die Jugend von damals sie forderte und sie mit donnerndem Beifall begrüßte.

»Hernani« ist als Drama höchst unvollkommen, es ist ein lyrisch-rhetorisches Werk mit viel Überspanntheit. Aber es hat den Vorzug, der der entscheidende ist: eine Menschenseele, die |39| selbständig und bedeutend war, hat sich hier rücksichtslos ausgesprochen. Es ist möglich, aus einem solchen Werke einen wesentlichen Teil der Psychologie seines Verfassers herzuleiten. Wir haben hier seine Ideen über Freiheit und Macht, über Ehre und Hoheit, über Liebe und Tod. Das Werk enthält ferner nicht nur Victor Hugo und ein Stück Spanien von 1519, sondern die zeitgenössische junge Generation und ein großes Stück Frankreich von 1830. Hernani ist in einer Essenz französische Jugend aus der Zeit der Julirevolution, ein Bild von Frankreich, das, in einem romantischen Licht gesehen, sich zu einem geträumten und gedichteten Weltbilde erweitert. Vertieft man sich nun – statt in ein einzelnes Werk – in eine ganze Litteratur, so sieht man auf diese Weise Scharen von Stimmungsbildern, Gedankenbildern, Porträts und Weltbildern an dem Auge vorbeigleiten. Man kann sie gegen einander halten, untersuchen, inwiefern sie sich decken – so stellt man zuvörderst den Charakter des Zeitalters fest; man kann sie dann vorbeiziehen lassen, wie sie sich historisch folgen, um durch die Verschiedenheiten, die zwischen ihnen sich finden, dem Gesetz ihrer Veränderung nachzuspüren – so sieht man gleichsam die Pfeile fliegen, welche den Lauf der geistigen Strömungen bezeichnen.

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