Wenn man eine Litteratur überschaut, einige Zeit nachdem ein starker Durchbruch stattgefunden, in dem Augenblick, da das Heer der neuen Epoche den Sieg errungen hat, so wird Einem zumute, als Überblickte man ein Schlachtfeld. In den Triumphzug der Siegenden mischen sich vor unserm Ohr gedämpfte Klagelaute Ich gedenke nicht der Weherufe der Geschlagenen auf dem Rückzuge; sie haben ihre Niederlage verdient, und ihre gebläuten Rücken flößen mir kein Mitgefühl ein; aber ich denke an die Verwundeten und Vergessenen des Siegers Denn auch die litterarischen Kämpfe haben ihre Vermißten und Getöteten. Es ist von Interesse einen Rundgang über das Schlachtfeld zu unternehmen und einen Blick auf diejenigen aus der Generation von 1830 zu werfen, welche in der Kraft ihrer Jugend hinweggerafft oder doch so verwundet wurden, daß sie seitdem, geknickt und stumm, nur noch eine gebrochene Existenz dahinschleppten.
Das litterarische Leben ist ja so beschaffen, daß von hundert, welche die Rennbahn betreten und ihren Lan beginnen, kaum zwei oder drei das Ziel erreichen. Die Anderen bleiben ermattet längs des Weges liegen. Zuerst unterliegen die Ärmsten, deren Fähigkeit direkt nicht ausreichte, die fragmentarischen Talente, welche, durch die Hoffnung auf Ruhm und Erfolg in diefe Bahn getrieben, in einem Nebel leuchtender Jllusionen solange vorwärts laufen, bis die Beine unter ihnen zufammenbrechen und sie im Hospital erwachen. Demnächst stürzen alle die oft ausgezeichnet Be|488|gabten, denen die eigenartige Komplikation von Fähigkeiten fehlt, welche erforderlich ist, um sich in der Gesellschaft, der sie angehören, geltend zu machen, denen es nicht möglich ist, sich den gegebenen Verhältnissen anzupassen und die noch weniger die weit größere Kraft besitzen, die Gesellschaft zuzustutzen und umzubilden, bis dieselbe für sie paßt. Sie werden regelmäßig Von den mehr oder weniger geschickten Mittelmäßigkeiten besiegt, in welchen das große Publikum Fleisch von seinem Fleisch, Blut von seinem Blut erkennt.
Schon die Art der Arbeit vernichtet viele: eine Arbeit, die « ihrer Natur gemäß von keinem Sonntag weiß; die das Nervensystem aufreibt; die nicht mit Bequemlichkeit betrieben werden kann, weil nur das, was nicht bequem hervorgebracht worden ist, den Leser etwas von der Kraft der Gemütsbewegung empfinden läßt, welche der Schreibende fühlte, und dazu eine Arbeit, die in der Regel zu den am wenigsten einträglichen gehört – eine Arbeit rein geistiger Art, welche das Sinnen- und Gefühlsleben, die Empfänglichkeit und Empfindlichkeit des Schaffenden weit über den Zustand der Umgebung hinaus verfeinert, und welche ihn doch dieser Umgebung einverleibt und mit denselben Regeln und Konvenienzen wie die anderen bindet. Daher ein Durst nach Leben, nach reichen und feinen Eindrücken, der nicht gestillt wird, der die Lungen oder das Mark verzehrt, und den die Welt alsdann Schwindsucht, Auszehrung oder Tollheit nennt. –
Andere werden von den Schwierigkeiten vernichtet, die von der Stellung des Schriftstellers unzertrennlich sind. Das Gleichgewicht der Gesellschaft beruht in jedem gegebenen Augenblick auf dem stillschweigenden Übereinkommen, daß die ganze und volle Wahrheit nicht« ausgeschrieen wird. Wenn es nun aberinnerhalb der Gesellschaft durch eine Anomalie ein Wesen giebt, dessen einziges Amt es ist, die- ganze volle Wahrheit zu sagen, wenn der Dichter, der Schriftsteller überhaupt, der bei Strafe, jegliche Bedeutung zu |439| verlieren, ein angenehmer Mann, ein unschuldiges Schaf zu werden, die Wahrheit sagen muß, so sieht dieser Mann sich immer dem Dilemma gegenübergestellt, entweder das zu verleugnen, was er sagen sollte – und dies Verlangen stumpft ihn ab und macht ihn unnütz – oder den offenen Ausspruch zu wagen, der ihm leicht äußerst gefährlich werden kann, indem er ihm die fürchterlichen Feindschaften einträgt, die nur in der Litteratur möglich sind, Feindschaften, die hundert Sprachrohre zu ihrer Verfügung haben, wenn sie reden, hundert Knebel, wenn sie seinen Namen tot« schweigen wollen« Für denjenigen aber, dessen Leben auf dem Bekanntsein beruht, ist keine Gefahr größer als die, der heuchlerischen und lautlosen Ermordung mit der Windbüchse des Schweigens zu unterliegen.
Doch alle Anftrengungen, Gefahren und Schwierigkeiten mußten sich notwendigerweise verdoppeln in einer Periode, wie derjenigen nach 1880, in welcher wie durch einen Zauberschlag gleichzeitig eine ganze Gruppe reicher Talente entstand und alles, was Geist und Phantasie besaß, sich zur Poesie und Kunst hingezogen fühlte. Denn während der Ruhm, der sich durch künstlerische Leistungen gewinnen ließ, vor den Augen der Jugend so reizend .strahlte, wie zur Zeit Napoleons »die kriegerische Ehre, war es schwieriger « als je, nicht überstrahlt zu werden, und da der Haß gegen die gebahnten Wege und das ruhige, bürgerliche Leben als die Bedingung, etwas in der Kunst auszurichten, betrachtet wurde, verschmähten nur allzuviele begabte und begeisterte Jünglinge einen bürgerlichen Beruf, um der romantischen Losung zu folgen, die da war, mit verzehrender Leidenschaft zu lieben und geliebt zu werden, ein Meisterwerk zu schreiben, das Menschengeschlecht zu erretten oder zu verachten, und- sodann zu sterben.
Wenn man das Auge üben dieses Schlachtfeld, wo die Unberühmten ausgeatmet haben, gleiten läßt, so liegen dort die armen vergessenen Talente in dichten Reihen. |440| Da sind reiche, kräftig entwickelte Begabungen wie Eusebe de Salles (geboren in Marseille 1801) ,Graf, Arzt, Orientreisender, Professor der arabischen Sprache und Litteratur, der, obwohl sein Roman »Saconta1a à Paris« (1833) eine der originellsten und besten psychologischen Schilderungen der Epoche ist, nie mit irgend einem seiner Bücher eine zweite Auflage, geschweige denn Ansehen und Ruhm erreichte. Und doch hatte er unter seinen Jugenderinnerungen einen Sonntag bei Nodier, wo« er und Victor Hugo in gleich hohem Grade die Helden des Tages waren.
Da findet sich Regnier-Destourbet, dessen Roman »Louise«, der Janin gewidmet ist und Vielleicht ihm etwas verdankt, einen peinlichen Stoff mit Geistesüberlegenheit und Feinheit behandelt
Da ist Charles Dovalle, der, nur zwanzig Jahre alt, in einem Duelle fiel, dessen Gedichtsammlung »Le Sy1phe« aber ein Talent verrät, das Victor Hugo mit Wärme anerkannte und nach dem Tode des Dichters pries.
Da ist Eugène Hugo, der ältere, schwermütige Bruder von Victor, dessen treuer Kamerad und Freund, der mit verwandten, wenn auch· viel geringeren lyrischen Anlagen ausgerüstet, den ersten romantischen Feldzug an seiner Seite mitmachte, aber schon 1837 im Wahnsinn starb.
Da sind so distinguierte und adlige Talente, wie das spurlos vergessene Fontaney’s. Der Dichter war einer von Hugo’s Getreuen, eine Zeitlang Gesandtschaftssekretär in Madrid, eine stolze, diskrete und feine Natur. In seiner Novelle »Adieu« (Revue des deux mondes 1832) hat er eines der schmerzlichen, romantischen Abenteuer seines Lebens erzählt; in der Selbstbiographie George Sands ist das Herzeleid angedeutet, das im Jahre 1837 seinen Tod verursachte
Da giebt es feine, zarte, lyrische Begabungen wie Felix Arvers, dessen Name sich jetzt nur an ein anmutiges Sonett knüpft, oder wie Labenski, von dem man sich nur einer Ode erinnert, oder wie |441| Ernest Fouinet, der das Ssonett »À deux heureux« an den Rand der Ausgabe von Ronsard schrieb, welche sämtliche Dichter der. Schule auf Sainte-Beuve’s Veranlassung Victor Hugo schenkten und zu deren poetischer Ausstattung sie alle Beiträge lieferten. Jst er auch heutzutage ganz vergessen, so sollte doch die folgende Zeile von ihm der Vergessenheit entrissen werden:
denn daß der Weihrauch glühen muß, um duften zu können, das ist in einem Satz die ganze Poetik des Romantismus.
Man findet arme Saint-Simonistische Lyriker wie Pohat, Satiriker wie Théophile Ferriere, welcher im Stile von Gautiers »Les Jeunes-France« die jungromantischen Ausschreitungen verspottete, und in seinem »Lord Chatterton« dem Drama de Vigny’s eine parodierende Fortsetzung gab.
Man begegnet endlichNamen wie Ulrie Guttinger, der jetzt allein deshalb nicht ganz vergessen ist, weil Alfred de Musset in seinen ersten Poesien ihm ein jugendliches bewunderndes Gedicht zugeeignet hat.
Um indessen einen einigermaßen lebendigen Eindruck von diesen Stiefkindern des Schicksals zu geben, will ich bei einzelnen von ihnen so lange verweilen, wie notwendig ist, um ihre Physiognomie und dadurch von einer neuen Seite diejenige des Zeitalters zu zeichnen; denn der Zeitcharakter prägt sich oft mit merkwürdiger Schärfe eben in den Persönlichkeiten ab, die wegen Extravaganz oder Bizarrität nicht durchzudringen vermochten.
Der erste, den ich nennen möchte, ist Ymbert Galloix, nicht weil er eine Größe, sondern weil er ein Typus ist. Er war ein armer Jüngling aus Genf, Sohn eines Schullehrers, vorzüglich gebildet und außergewöhnlich beanlagt, der, ohne genug Geld in der Tasche zu haben, um einen Monat davon leben zu können, von seiner Vaterstadt nach Paris reifte, von dem Siegesruf der Romantiker angezogen, voll Sehnsucht all’ die Männer in der Nähe zu sehen, |442| für die er in der Entfernung geschwärmt hatte, und wenn möglichals ihres Gleichen anerkannt zu werden.
Seine ersten Wege in Paris waren nach dem Arsenal zu Charles Nodier, dem Patriarchen der neuen Schule, zu Hugo,. ihrem Häuptling, zu Sainte-Beuve, deren BannerträgerH Hugo hat Galloix’ ersten Besuch bei ihm beschrieben. Ich gebe die Schilderung in gedrängter Fassung:
»Es war im Oktober 1827, an einem kalten Morgen, als ein hoher junger Mann zu mir hereintrat. Er trug einen weißen, ziemlich neuen Überzieher und einen alten Hut. Er sprach mit mir von Poesie; er hatte eine Rolle Papier unter dem Arm. Jch bemerkte, daß er mit einer gewissen Verlegenheit- seine Füße unter dem Stuhl verbarg. Er hustete ein wenig. – Am folgenden Tag regnete es in Strömen; der junge Mann kam wieder. Er blieb drei Stunden und sprach äußerst aufgeräumt über die englischen Dichter, die er besser kannte als ich; er schwärmte für die Seeschule. Er hustete viel. Er verbarg die ganze Zeit seine Füße unter dem Stuhl. Zuletzt merkte ich, daß seine Stiefel große Löcher hatten und gegen das Wasser keinen Schutz gewährten. Ich wagte nicht, darüber mit ihm zu reden. Er ging seines Weges, ohne von etwasAnderem als den englischen Dichtern gesprochen zu haben.«
Er eilte also zu den ersten Schriftstellern Frankreichs. Seine Worte, seine Verse offenbarten, daß etwas in ihm steckte; er wurde gut aufgenommen, man half ihm sogar, und seine Briefe nach Genf verrieten die Befriedigung der unschuldigen Eitelkeit, mitteilen zu können, welche Geister ihn als ihres-gleichen empfingen und welche berühmte Freunde er sich erworben habe. Aber gleichzeitig wurde er durch hartnäckige Melancholie zerrüttet: er paßte nicht in die Gesellschaft, auf welche er angewiesen war. Die Trauer seines Lebens war die sonderbar klingende aber wahre, die wie Manie, wie eine fixe Idee bei ihm immer -wiederkehrte, die Trauer nicht als Engländer geboren zu sein. Er fühlte, daß seine Gemütsrichtung |443| in die englische Litteratur hinein paßte, nicht in die französische; er las vom Morgen bis zum Abend Englisch und träumte nur davon, so viel Geld zu sammeln, daß er nach London reisen und in der englischen Sprache Dichter werden könne. Als man ein Jahr nach seiner Ankunft in Paris den Von Not und Verzweiflung Untergrabenen tot auf dem Bette in seinem unwohnlichen Zimmer fand, hielt er eine englische Grammatik in der Hand.
Man höre den Ton in seinen Briefen: »O mein einziger Freund! wie sind die unglücklich, die unglücklich geboren sind! […] ich hatte gestern Abend einen Fieberanfall […] seit ich hier bin, hat meine Qual fünf bis sechs Formen angenommen, aber der Mittelpunkt meines Unglücks ist der, nicht in England geboren zu sein. Ich bitte Dich, lache nicht, ich bin so unglücklich. Ich bin zwar jetzt in freundschaftliche Verhältnisse zu den ausgezeichnetften Schriftstellern getreten und empfinde in Gesellschaft bisweilen einige Augenblicke oberflächlicher Freude, wenn ich mit meinen Versen Erfolg habe. Ich kann über diese kleinen Triumphe eines Abends, eines Augenblicks wie berauscht sein; aber doch ist der Grund meiner Seele nicht nur Unglück, fondern ein trockener Krebsschaden. Es läuft geschmolzenes Blei in meinen Adern. Wenn man in meine Seele hinein sehen könnte, würde man Mitleid mit mir haben. Sieh, England hat Alles, fünfzig Dichter, die ein abenteuerliches Leben geführt haben und deren Bücher voll Phantasie sind; in Frankreich giebt’s nicht drei solcher Art. Und dann würde ich ein Vaterland gehabt haben, das ich sogar mit seinen Vorurteilen geliebt hätte; es liegt so viel Poesie in Englands alten Sitten […] Eine englische Dame, die mir Unterricht giebt, sagt mir, daß ich in zwei Jahren sehr gut Englisch schreiben könne.«
Es ist eine rührende Illusion. Der arme Bursche, der seine · eigene Sprache noch nicht völlig beherrschte, dessen Oden leicht kurzatmig-wurdens, dessen Versen, so künstlerisch sie auch zugeschliffen waren, der Duft fehlte, träumte davon, in ein paar Jahren weit |444| genug zu sein, um eine fremde Sprache mit Farbe und Glanz schreiben zu können. Bald verlor er jedoch das Vertrauen zu seiner Begabung und beurteilte selbst seine Poesie weit strenger, als sie von Andern beurteilt wurde. Er zog sich in sich selbst zurück, wollte niemand mehr sehen, nicht mehr von der umgebenden Welt reden hören. Er war mit Interesse für Alles und Alle, mit begeistertem Selbstvertrauen aus Genf gekommen. In Paris fing er an sein Talent in Gesprächen, in Disputen zu verschwenden, bis er zuletzt kaum noch eine unberührte, jungfräuliche Idee in seinem Kopfe hatte. Dann führte er Arbeiten für Verleger aus, schrieb Recensionen, Biographien u. s. w., bis es ihn anekelte. Als er in seinem 22. Jahre verschied, hatte er schon lange in der tiefsten Gleichgültigkeit für die Umgebung und ohne Glauben an sein eignes Talent gelebt. Er ließ sich sterben.*)*
Ich gehe zu gediegneren und bedeutenderen Geistern über. Jch erwähle drei: Louis Bertrand, Petrus Borel, Théophile Dondey. Es sind Namen, die, als ihre Träger noch lebten, im Publikum unbekannt geblieben, die aber jetzt von manch’ einem Litteraturfreund in Frankreich gekannt sind. Ihre Bücher werden in Luxusausgaben auf holländischem Papier neu gedruckt-und die Originalausgaben sind, besonders seit Eharles Asselineau das Interesse für sie wieder erweckt hat, fast als Wertpapiere zu betrachten, deren Preise immer steigen. Während sie lebtenF, konnten diese armen Teufel nach wenig Jahren keinen Verleger mehr finden; jetzt ahmt man sogar Titelblatt und Signet ihrer ersten Schriften, die in den Verkaufskatalogen mit dem Zusatz »selten und kostbar« figurieren, gewissenhaft nach.
Louis Bertrand, geboren 1807 in Dijon, der Stadt, die er |445| so schön besungen hat, am besten unter demv Pseudonym Gaspard de la Nuit gekannt, vertritt innerhalb der romantischen Gruppe vollständiger und ausgeprägter als irgend ein Anderer eine Hauptseite der Bestrebungen der Schule, die Erneuerung des Profastils. Während seine Festgenossen der stürmischen Leidenschaft poetischen Ausdruck verliehen, entwickelte er in seiner Vaterstadt die Kunst eines Bildschnitzers oder Goldschmiedes in der Behandlung der Sprache. Niemand hatte einen Haß wie er gegen die abgetragene Wendung, den abgedroschenen Ausdruck. Er hat, bevor er schrieb, alle Worte der Sprache gleichsam durch ein Sieb geschüttelt und alle die, deren Klang dumpf, deren Farbe matt, deren Gepräge abgenutzt war, entfernt, um nur diejenigen darunter anzuwenden, die malerischen Wert und musikalische Valuta hatten. In einem Gedicht müssen dem Reim und Rhythmus zu Lieb immer einige Flick- und Füllworte – so wenig wie möglich – sich finden; die Kunst Bertrands beruht darauf, daß jedes ausfüllende oder schmarotzende Wort aus seinem Stil verbannt ist. Das Werk seines Lebens gehört einem Genre an, das er erfand und das mit ihm gestorben ist; er hat in Prosa ganz kurze, nie mehr als ein paar Seiten einnehmende Schilderungen in den verschiedenen Manieren Reinbrandts, Callots, des SamtBreughels, Gerard Dows und Salvator Rosas geliefert, und die besten dieser kleinen Prosagemälde sind vollendet wie ein Bild dieser Meister.
Im Jahre 1828, in der ersten rein unpolitischen Periode-der romantischen Bewegung, trug er zur Gründung eines litterarischen Organs in seiner Geburtsstadt bei. Die Beiträge Bertrands zu »Le Provincial« machten die großen Pariser, Chateaubriand, Nodier, Vietor Hugo, auf ihn aufmerksam, und bald fühlte er sich so stark nach der Hauptstadt gezogen, daß er unaufhörlich auf der Reise zwischenlDijon und Paris lag. Er hielt seinen Einzug, nur 21 Jahre alt, eines Sonntags Abends bei Charles Nodier, wo es ihm erlaubt wurde, eine Ballade vorzulesen. Hier machte er die |446| Bekanntschaft des ganzen Kreises, nahm jedoch seine besondere Zuflucht zu Sainte-Beuve, der sein Ratgeber wurde ; bei diesem wohnte er, so oft er sich in Paris aufhielt, und ihm gab er seine Manuskripte in Verwahrung. Er war linkisch wie ein Provinziale und exaltiert wie ein Dilettant, aber man ahnte den Dichter, wenn man das Feuer in dem Blick der kleinen schwarzen, umherschweifenden Augen sah.
Gleich nach der Julirevolution stürzte sich Bertrand in die Politik und schloß sich der am weitesten gehenden Opposition an. Als wahrer Sohn eines alten Offiziers der Republik und dessKaiserreichs gab er dem kriegerischen Enthusiasmus, dem er vorher Schweigen geboten hatte, in einer Polemik gegen dielgroßbürgerliche Herrschaft Luft. Er war nur 23 Jahre alt, und ein Blatt der Gegenpartei hatte aus dieser seiner Jugend Anlaß genommen ihn doppelt höhnisch zu behandeln. Er zwang den Redakteur, in seinem Blatt einerlAntwort Raum zu geben. »Ich ziehe Euern Hohn Euerm Lob vor. Euer Lob würde für mich von sehr geringer Bedeutung sein nach dem Beifall, mit welchem Victor Hugo, Sainte-Beuve, Ferdinand Denis u. a. m. mein Talent ermuntert haben. Da Ihr mich dazu zwingt, will ich Eurer Unverschämtheit gegenüber einige Worte citieren, deren das Genie selbst mich gewürdigt hat. Victor Hugo schreibt mir: Ich lese Ihre Verse in einem Freundeskreise vor, wie ich diejenigen André Chénier’s, Lamartine’s oder- de Vigny’s vorlese; es ist unmöglich, in höherem Grade im Besitz der Geheimnisse der Form zu sein u. s. w. So schreibt Hugo dem Manne, den ihr einen Commis zu nennen wagt. Es ist wahr, daß ich nicht die Ehre habe, von irgend einem adligen Speichellecker abzu«stammen, und daß ich weder wählbar noch Wähler bin [d. h. den Höchstbefteuerten nicht angehöre]; mein Vater war nur ein Patriot von 1789, ein Glücksritter, der, achtzehn Jahr alt, sein Blut am Rhein vergoß, und der, fünfzig Jahr alt, dreißig Dienstjahre, neun Feldzüge und sechs |447| Wunden aufzuweisen hatte. Es ist auch wahr, daß ich arm bin; mein Vater hat mir nur die Ehre vererbt und seinen Degen, den Sie nicht den Mut haben, gezogen zu sehen.«
Dieses ist französischer Journalistenstil von 1832, gewiß nicht bescheiden, aber nicht verzagt. Bertrand gehört der schon erwähnten Gruppe von jungen Leuten an, als deren Häuptling Godefroy Cavignac betrachtet werden kann und die in dem Jargon der damaligen Zeit den Namen »Les bousingots« führten. Bei Bertrand war die republikanische Derbheit mit der höchsten romantischen Überverseinerung merkwürdig gemischt.
Louis Bertrand gelangte nie dazu, Ruhm zu gewinnen. Er hatte zu gewaltsam begonnen, seine Kraft nicht aufgespart Arm und überanstrengt durch die Arbeit, mit welcher er seine Mutter und Schwester ernährte, starb er schon 1841 in einem Spital zu Paris. David d’Angers, der große romantische Bildhauer, der treu andem Bette des Kranken ausgeharrt hatte, ließ aus seiner Wohnung ein seines weißes Leintuch holen, um die Leiche darein zu hüllenz er war der einzige, der Bertrand das letzte Geleit gab.*)*
David setzte ihm ein Denkmal; Sainte-Beuve und Victor Pavie gaben seinen »Gaspard de la Nuit« heraus. Im Jahre 1842 wurden mit genauer Not zwanzig Exemplare verkauft, aber 1868 hat der romantische Bibliophile Charles Asselineau eine LuxusAusgabe veranstaltetMan lese als Probe der Erzählungsweise Bertrands das Stück »Madame de Montbazon«, dessen Motto, aus den Memoiren Saint-Simons entnommen, so lautet: Madame de Montbazon war· seine wunderschöne Dame, die in dem vorigen [d. h. dem sechzehnten] Jahrhundert vor Liebe zum Ritter de la Rue starb, derihre Liebe nicht erwiderte: |448| »Die Zofe stellte auf den lackierten Tisch eine Vase mit Blumen und Armleuchter mit Wachslichtern, deren Widerschein als rote und gelbe Glanzflecken auf die blauseidnen Gardinen am Kopfkissen der Kranken fiel.
Glaubst Du, Mariette, daß er kommen wird? – O schlafen Sie doch ein, gnädige Frau, schlafen Sie doch ein wenig! – Ja, ich werde bald in Schlaf fallen, um die ganze Ewigkeit von ihm zu träumen. –
Man hörte Jemand die Treppe hinaus steigen. O, wenn er es wäre! flüsterte die Sterbende schwach lächelnd, während der Schmetterling des Lebens schon im Begriff war, von ihren Lippen zu flattern.
Es war ein kleiner Page, welcher von der Königin der Frau Herzogin Eingemachtes, Backwerk und Elixire auf einer silbernen Schüssel brachte.
Ach, er kommt nicht, sagte sie mit versagender Stimme, er kommt nicht! – Mariette, gieb mir eine der Blumen da, daß ich den Duft einatmen kann und die Blätter vor Liebe zu ihm küsse!
Dann lag Madame de Montbazou unbeweglich mit geschlossenen Augen, sie war vor Liebe gestorben; sie gab ihren Geist in dem Duft einer Hyacinthe auf.«
Es sieht oft aus, als würden die, welche in der Litteratur zu früh fortgehen, ein wenig früher oder später ersetzt. In strengerem Sinn ersetzt aber nie eine Individualität eine andere. So wird das Werkzeug, das Louis Bertrand aus den Händen fällt, ganz gewiß von Théophile Gautier ergriffen, der mit seinem weit umfangreicheren Talent Bertrand vergessen ließ; aber dem Blick keines Kenners wird es entgehen, daß bei Bertrand etwas Ausgesuchtes, unendlich Seelenvolles war, das Gautier mit seiner kälteren Plastik nicht zu erreichen vermochte.
Wir haben schon öfter Petrus Borel genannt, dessen einfache Häuslichkeit eine Zeit lang das Hauptquartier für Hugo’s junge |449| Freunde abgab. Er war zugleich Künstler und Dichter, arbeitete als Maler in Deveria’s Atelier und schrieb unter dem Namen Le Lycanthrope (der Werwolf) herausfordernde Poesien. Er flößte den Andern großen Respekt ein« Er war einem Spanier oder Araber des 15. Jahrhunderts ähnlich, und wenn seine Kameraden vom Theater nach Hause gingen, wo sie den in den Rollen Delavigne’s und Scribe’s gebildeten Schauspieler Firmin als Hernan gesehen hatten, wie oft bedauerten sie dann, daß man es nicht Petrus überlassen hatte, den idealen Banditen zu spielen. Wie ein Königsweih würde er auf die Bühne niedergeschossen fein. Und wie schön würde er sich nicht mit dem roten Tuch um den Kopf und in dem Lederküraß mit den grünen Ärmeln ausgenommen haben! Kein Wunder, denn er war ja in seinem ganzen Gefühlsleben das Original der Rolle.
Borels Gedichtsammlung »Les Rapsodies« ist ein sehr jugendliches und unreifes Buch; es enthält unter wertvollen Gedichten kindische Proteste und Verdammungenz aber es zeigt so viel: daß es in der ganzen romantischen Gruppe kein stolzeres Herz gab als das des Jünglings, der es geschrieben hat. Es tritt etwas von der Verzweiflung der Armut, etwas von dem Einsamkeitsgefühl der Künstlerfeele, von brennender Liebe zur Freiheit und quälendem Durst nach Gerechtigkeit in diesen Versen zu Tage.*)*
Hier trifft man in der, wirklichen Welt dasselbe Gefühlsleben, das in »Antony« auf die Bühne gebracht wurde. Schon die Ausstattung des Buches ist bezeichnend. Der Titelkupferstich zeigt Borel selbst an einem Tische sitzend, mit der phrygischen Mütze auf dem Kopf; Hals und Arme sind entblößt; in der Hand hält er einen Dolch mit breitem Blatt, |450| den er, in tiefe Gedanken versunken, betrachtet. Die Vorrede des Buchs giebt einen lebhaften Eindruck von dem Ton in der republikanischen Fraktion der romantischen Jugend im Jahre 1832. Es heißt darin:»Wenn Jemand fragen sollte, ob ich Republikaner sei, so antworte ich frei: Ich bin es. Aber möge er lieber den Herzog von Orleans Iden König] fragen, ob er sich der Stimme erinnert, die ihn am 9. August, als er sich zu Pferde in die Ex-Kammer begab, um den Eid abzulegen, mitten unter dem Jubelgeschrei eines betrogenen Volkes mitdem Ruf »Freiheit und Republik! Freiheit und Republik!« unablässig verfolgte. Wenn ich von der Republik rede, so ist es · nur, weil dieses Wort die möglichst weite Unabhängigkeit bezeichnet, welche Assoziation und Civilisation gestatten. Ich bin Republikaner, weil ich nicht Caraibe sein kann. Ich bedarf eines ungeheuren Maßes von Freiheit, und wenn man so gestellt ist wie ich, so arm wie ich, so gequält von Unglück jeder Art wie ich, so würde man, selbst wenn man von absoluter Gleichheit träumte, selbst wenn man ein argrarisches Gesetz verlangte, keinen Tadel verdienen […] Denen, die mein Buch plump finden, antworte ich, daß der Verfasser in der That nicht das Bett des Königs macht. Aber sollte er sich nicht trotzdem auf der Höhe eines Zeitalters befinden, wo man von dummen Banquiers regiert wird und zum Monarchen einen Mann hat, dessen Wahlspruch lautet: »Dieu soit loué et mes boutiques aussi!«.
Es bedarf keiner weitläufigen Erklärung, daß ein junger Mann, der so schrieb, keine Carriere machte. Er litt Not, hungerte oft, hatte bisweilen kein Dach über dem Kopfe, mußte sich manchmal ein Nachtlager in einem Neubau suchen. Sein jugendlicher Haß gegen alles Unrecht schadete ihm indessen auch als Dichter. In seinem großen zweibändigen Roman »Madame Putiphar« ist der Charakter der Heldin, Madame Pompadour, durch die republikanische Entrüstung des Verfassers entstellt. Die leicht|451|fertige, kunstliebende Muse der Roccocozeit, die. eine kleine leichtsinnige Vorliebe für die Freiheit des Gedankens hatte, die Enchklopädiften beschützte und unter Bouchers Anleitung radierte, ist hier eine Megäre geworden, die sich an den Hals eines fremden Mannes wirft, der von ihr nichts wissen will, und die ihn für seine Kälte mit unterirdischem Gefängnis in der Bastille straft. Das Buch gewinnt erst gegen den Schluß. Die Einnahme der Bastille, ein Gegenstand, der so recht für Borel lag, ist in einem lebhaften, feurigen Stil, der nach Pulver riecht, geschildert.
Das dritte seiner Werke ist »Champavert, contes immoraux« (1838). Das Buch machte nicht das geringste Aufsehen oder Glück, brachte nicht einmal seinem Verfasser ein dürftiges Honorar ein, und diese Ungerechtigkeit des Schicksals läßt sich verstehen; denn mehrere dieser Novellen sind durch den frühsten zähnefletschenden Stil Borels verderbt. Doch in den besten derselben ist der Zorn beherrscht und künstlerisch behandelt, wie man Lava künstlerisch verwertet, wenn man Kameen daraus schneidet. Es sind immer Abscheulichkeiten, um welche es sich in diesen Erzählungen handelt, Scheußlichkeiten so abstoßender, so unnennbarer Art, daß sie eben nur dadurch begangen werden können; denn niemand ist leichter straffrei, als derjenige, welcher ein Verbrechen begeht, an das kein Mensch glauben will. Es sind Abscheulichkeiten, welche die Dichtkunst selten berührt; denn Poesien sollen ja vor allem verkauft werden, aber dann muß man sie in einem Familienkreise vorlesen können.
»Dina, la belle Juive« spielt in Lyon im Jahre 1661. Ein junger männlicher und vorurteilsfreier Edelmann hat sich in eine junge schöne Jüdin verliebt und reist zu seinem Vater, um dessen Einwilligung zu der Verbindung zu holen. Dieser verflucht ihn und feuert seine Arkebuse auf den Sohn ab, doch ohne ihn zu treffen. Während Aymar fort ist, wandert Dina eines Tages am Ufer der Saöne Sie bekommt Lust zu segeln, ruft einen Bootsführer an und legt sich träumend zur Ruhe unter das Dach der Gondel. Der |452| Bootsführer beraubt die schöne Jüdin ihrer Ringe und Schmucksachen, bindet ihr die Arme, knebelt und schändet sie, wirft sie in den Fluß, und als der Knebel im Fallen aus ihrem Munde hinausgleitet, stößt er mit der Harpune nach ihr, so oft sie auf dem Wasserspiegel wieder emportaucht. Dann zieht er die Tote heraus und geht zum Rathaus, um die zwei Dukaten zu erhalten, die jedem gegeben werden, der eine Leiche aus dem Fluß herausgefischt hat.
Jst die Leiche wiedererkannt worden? fragt der Ratsherr.
Ja, Messire. Es ist ein junges Mädchen, Namens Dina, Tochter eines gewissen Jfrael Judas, eines Juweliers
Eine Jüdin?
Ja, Messire, eine Ketzerin oder Hugenottin oder Jüdin, so was.
Du fischest also Juden auf, Du Schlingel, und bist frech genug, dafür noch eine Belohnung zu fordern? Holla Martin, holla Lefabre kommt herein und werft den Kerl hinaus!
Die Szenen im Judenviertel und die Szenen im Boot sind in ihrer schneidenden Wahrheit untadelhast. Heine hat kein besseres Bild von jüdischem Leben im Mittelalter geliefert als hier Borel.
Im Jahre 1846 half Théophile Gautier durch die einflußreiche Frau von- Girardin Borel für kurze Zeit aus seinem Elend heraus. Er wurde zum Kolonifationsinfpektor tief hinten in Algier in der Nähe Von Mostaganem ernannt. Aus diesem kleinen schlechten Amt, in welchem er mit der Menschenscheu seiner Werwolfsnatur sich zufrieden fühlte, wurde er jedoch bald entlassen, weil er mit seinem eifrigen Rechtssinn einen höher stehenden Beamten des Betrugs gegen den Staat geziehen hatte. Er sah Frankreich nie wieder; er starb in Afrika, einige sagen am Sonnenstich, andere vor Hunger.
Es ist schon erwähnt, daß Mérimée das Geme, welches Borel sich gewählt hotte, aufnahm und in seinen Meisternovellen grelle Stoffe mit festerer Hand behandelte. Doch bei Mérimée verschlang |453| die weltmännische Jronie und die hofmännische Eleganz jene Leidenschaft, welche die Stärke Borels war. Vei Mérimée finden wir einige der Herausforderungen, die Borel der Gesellschaft feiner Zeit zugeschleudert hatte, in einer solchen Sprache umschrieben, daß sie auf einem Salontisch möglich wurden. Die Flamme, die bei Borel in dem Allerheiligsten der Seele brannte, vererbte sich nicht.*)*
Der letzte dieser jungen, früh zu Grunde gegangenen Dichter, auf den ich die Aufmerksamkeit hinleiten möchte, it Théophile Dondey, genannt Philothee O’Neddy.
O’Neddy wurde 1811 geboren und debiitierte 1883 mit der Gedichtfammlung »Feu et Flamme«, die das Publikum, welches eben zu jener Zeit in einem Überfluß vorzüglicher Poesien schwelgte, so Vollständig Überfah, daß der arme Dichter, der seine Mutter durch eine kleine Stellung im Finanzminifterium ernähren mußte und das Buch auf seine Kosten hatte drucken lassen, den Mut und die Möglichkeit verlor, jemals wieder an die Offentlichkeit zu treten. Er zog sich wie ein verwundetes Tier in seine Höhle zurück. Als Th. Gautier ihn dreißig Jahre später ergraut wiedersah und ihn mit der Frage begrüßte: »Wann kommt die nächste Gedichtfammlung?« antwortete der alte O’Neddy seufzend: »Wenn es keine Spießbürger mehr giebt.« Man könnte glauben, daß seine Produktivität erloschen war. Nach seinem Tode fand man aber einen großen Haufen lyrischer Gedichte in seinem Nachlaß vor; Ernest Havet gab alles heraus, und die Folge war, daß Exem. plare feiner ersten Gedichtfammlung jetzt mit 800 Franken bezahlt . werden, ohne Zweifel eine größere Summe, als dem Dichter seine ganze Produktion jemals eingebracht hat.
Théophile Dondey begann nicht weniger unreif und herausfordernd als Petrus Borel. In der Vorrede zu »Feu et Flamme« |454| bittet er seine größeren Kampfgenossen, ihn unter sich aufzunehmen, denn wie sie »verachtet er von ganzer Seele die gesellschaftliche Ordnung und die politische, welche als das Exkrement(!) von jener zu betrachten ist, wie sie verachtet er das Anciennitätsprinzip in der Litteratur und der Akademie; wie sie hört er ungläubig und kalt die großen Worte der Religionen, und wie sie fühlt er frommes Entzücken über die Poesie, die Zwillingsschwester Gottes(!)«. Alles ist hier unruhig und gespannt, häufig überspannt, es sind Krankheitsäußerungen, Selbstmordgedankenz aber alles ist in Versen ausgesprochen, die von einer Künstlerhand gehämmert worden. Ein besonderer Ausbruch der Neigung zum Selbstmord ist sehr bezeichnend. Durch Festhalten des Dreieinigkeitsdogmas, an welches er übrigens sonst nicht glaubt, findet er in dem Opfertod Christi das Vorbild des Serbstmordes. Es heißt bei ihm:
Wie ächt romantisch, wie tief eigentümlich für die Periode ein solcher kleiner Zug ist, beweist der Umstand, daß man bei George Sand in den »Lettres d’un voyageur« kaum einige Jahre später (Januar 1835) denselben Gedanken findet. Sie schreibt: Jésus, en souffrant le martyre, a donné un grand exemple de suicide. Merkwürdig, daß deutsche Romantiker, daß Novalis und Tieck nicht darauf verfallen sind!
Diejenigen unter den Gedichten O’Neddy’s, die nicht seine eigene Persönlichkeit behandeln, sind alle einem Kultus des freien Gedankens und der künftigen Republik gewidmet; die meisten sind jedoch tief persönlich, sieben Achtel wohl erotischer Natur. Eine feine, hochvornehme Dame hatte ihn, den namenlosen, armen Ple-. bejer, mit ihrer Liebe ausgezeichnet, und die Gedichte strömen über von wehmütigem Entzücken über die angebetete Geliebte; aber krank wie er ist und sich fühlt, und überzeugt, daß das Glück nicht für |455| ihn existiert, giebt er dem Gedanken an die Liebe unaufhörlich den Gedanken an den Tod zum Hintergrund.
Die poetische Form, die er als Jüngling suchte und fand, war eine, die ihn selbst befriedigte, weil sie sich seinen Gefühlen und Gedanken genau anschloß, aber er verstand nicht wie die glücklicheren und begabteren Dichter die Form zugleich für die große Leserwelt durchsichtig und anziehend zu machen. So wandte denn die große Leserwelt ihm den Rücken zu. Er fühlt sich immer mehr wie vom Leben vergessen, wie verurteilt mit ungebrauchten Kräften zu sterben; immer wieder nennt er sich in seinen hinterlassenen Gedichten eine lebendige Leiche.
Ich übersetze beispielsweise einige Strophen aus dem Sonett »Die zwei Degen«.
»Ein Sohn der Gebirge hatte einen vorzüglichen Degen, den er in einer dunkeln Ecke verrosten ließ. Eines Tages sagte die Klinge ihm: Wie diese Ruhe mir hart ist! O Krieger, wenn du wolltest! mein Stahl ist so gut.
Ich bin wie jenes Schwert, und ich sage dem Schicksal: Weißt du denn nicht, wie meine Seele gehärtet ist und wie prachtvoll die Klinge blitzen könnte, wenn deine Rechte sie in der Sonne spielen lassen wollte! Sie ist aus edlem Stahl – o Schicksal, wenn du wolltest!«
Aber das Schicksal war, wie es die Gewohnheit und die Sache des Schicksals ist, unerbittlich. Wie der Schiffbrüchige, der im Meere auf einem Felsen steht und wartet, daß ein Schiff am Horizonte emportauchen und ihn mitnehmen werde, so wartete er die langen Jahre hindurch, aber das Schiff des Schicksals glitt vorbei und ließ ihn allein auf seinem Felsen. Seine Geliebte verließ ihn, und er hörte auf zu hoffen. Indessen nahm seine Dichtung ein immer tieferes und philosophischeres Gepräge an. In einem seiner Gedichte heißt es mit geistvoller Verdrehung des Eartesianischen Satzes: »Ich leide, also bin ich«, und in mehreren andern schönen Poesien tritt ein in der Lyrik des Romantismus wenig gewöhnlicher Pessimismus hervor. Man lese das Sonett, welches so anfängt:
Er versuchte sich eine Weile als Kritiker; aber der Zeitpunktwar ungünstig. Er fing an, Hugo als Dramatiker zu verherrlichen, eben als in den vierziger Jahren die Popularität desselben stark im Sinken war. Seine leidenschaftlich begeisterte Verteidigung des Dramas »Les bukgmves« ist schön durch die Frische des Gefühls. Sein Angriff aus die Kritiker, die wegen der »Lucrèce« von Ponsard Victor Hugo herabgesetzt hatten, war gegen Ponsard nicht ungerecht und von edler Pietät inspiriert. Als er aber aufs neue « als der Fürsprecher Hugo’s austreten wollte, war die Reduktion der »Patrie« umgeschlagen, und er erhielt seinen Artikel zurück. Er nahm seinen Abschied als Feuilletonist und schrieb nie mehr in einem Tageblatt. Er zog sich in seine innere Welt zurück, es war ihm zu Mute wie Don Quixote nach der Rückkunft oder wie Moliere’s Misanthrop, als er hinaus in die Einsamkeit flieht; er schrieb in seinem letzten Gedicht, daß er zwar nicht an eine persönliche Unsterblichkeit glaube, wenn aber seine Helden einmal siegreich über das Grab des armen Vergessenen reiten sollten, so würde er gewiß sein Herz klopfen fühlen im Takt mit dem Galopp ihrer Pferde:
Diese seine Helden, für welche er die entschiedenste Bewunderung hegte, waren unter den Männern der That Garibaldi, unter den Dichtern Hugo, unter den Schriftstellern Michelet und Quinet, später Renan. Seine letzten Jahre waren schwer; er verlor seine Mutter, nachdem er seine Geliebte verloren hatte; er war lange |457| krank, gegen sein Ende gelähmt. Eine einzige Freude hatte er in seinem Alter, die Freude, sich von Théophile Gautier rühmlich genannt zu sehen in einem Feuilleton, das später in »Hist0ire du romantisme« Platz gefunden hat. Er starb erst im Jahre 1875 nach einem 42jährigen Schweigen als Dichter.
Nicht wahr, es ist, als hörte man einen Trauermarsch auf florumwundenen Trommeln schlagen, wenn man diese Opfer der litterarischen Kämpfe und Siege aufsucht? Und wenn man bemerkt, wie zahlreich sie sind, kommt man unwillkürlich dazu, ein Buch wie de Vigny’s »stello« oder ein Drama wie »Chattert.on« in einem schöneren Lichte zu sehen. Jene Zeit war eine, welcher mehr als irgend einer anderen der Gedanke an den leidenden Dichter oder Künstler nahe gelegt war, und doch hat sie so Viele, welche ein besseres Los verdient hätten, verschmachten lassen. Es scheint dann, als hätte es für die Zeitgenossen immer große Schwierigkeit, den verdienstvollen und leidenden Künstler dort, wo er ist, zu entdecken.
Der Forscher, der nicht rühren, sondern verstehen will, zieht diese Hintergrundfiguren hervor, weil die Signatur des Zeitalters, die sich in den Werken der Genies vorfindet, bei ihnen in nicht weniger leserlichen und schlagenden Zügen geschrieben steht. Die Genies stellen den Romantismus in seiner Kraft, in seiner relativen Gesundheit dar; die Krankheitsgeschichte desselben kann an diesen armen Verzweifelten studiert werden, die bald so stark für eine fremde Litteratur schwärmen, daß sie die Behandlung ihrer eignen Sprache versäumen, bald in poetischem und politischem Streben flüchtig auflodern, bald als Wagehälse hervorstürmemum nach einigen Niederlagen den Mut für immer zu verlieren, bald von der Gleichgültigkeit des Publikums tödlich verletzt werden, bald ihre Begabung krampfhaft anspannen, bis sie zerberstet. Sie sind so gut wie die andern Glücklicheren echtgeborne Kinder des Romantismus der achtzehnhundertdreißiger Jahre. Sie sind seine echten enfants perdus.«
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