Die romantische Schule in Frankreich (1883)

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So war diese Schule, so waren ihre Triumphatoren und ihre Unglücklichen, ihre menschlich und künstlerisch Begeisterten. So entstand sie, so wurde sie groß durch eine mächtige Summe von Genie und Talent. So löste sie sich als Schule auf, um ihr geistiges Leben in reich begabten verschiedenen Persönlichkeiten fortzuführen, die, selbst wenn sie sich am meisten Von dem Ausgangspunkt zu entfernen schienen, dennoch dem Wesen der Schule treu blieben; denn wir behalten alle lange an der Schulter das Merkmal der Fahne, die wir zuerst trugen. Die romantische Schule wurde zerstreut und zersplittert, aber bevor sie starb, hatte der Romantismus den poetischen Stil auf allen Gebieten erneuert, die Stoffwelt der Kunst bis zu einem vorher nie gesehenen Umfang erweitert, sich von dem ganzen sozialen und religiösen Ideenleben der Zeit befruchten lassen, die Lyrik, das Drama, den Roman, die Novelle, die Kritik umgeschaffen, die historischen Wissenschaften neu belebt, und war beseelend in die Politik eingedrungen

Die vollständige Geschichte des Romantismus zu geben, war mir nicht möglich; dazu ist sie allzu reich. Ich habe hier wie immer in diesem Werk nur die Hauptströmung aufweisen wollen. Ich habe deshalb vorgezogen, lange und umständlich bei den Hauptpersonen zu verweilen, anstatt zahlreiche Nebenpersonen einzuführen, die trotz ihrer Bedeutung und des Interesses, das sich mit ihnen verknüpft, die Konzentration, die ich erreichen wollte, verhindert hätten. Ich |459| habe lieber Einzelheiten aus dem Leben einer wichtigen Persönlichkeit mitgeteilt, als den Platz dazu benutzt, das Leben einer weniger bedeutenden Persönlichkeit im bloßen Umriß zu geben; ausnahmsweise habe ich endlich die Geschichte einiger Hauptpersonen Über die Grenzen der Periode hinaus verfolgt, wenn sie nämlich erst nach 1848 ihre volle Originalität entfaltet haben.

Viele eigentümliche Physiognomien sind hier nur skizziert, so Alexander Dumas, den man wohl den Ariost des französischen Romantismus nennen kann, oder de Vigny, der sich selbst gezeichnet hat in dem Satz: »Die Ehre – das ist die Poesie der Pflicht.« Andere hab’ ich nur nennen können, wie Jules Janin »den Fürsten des Feuilletons«, dessen Roman »L’âne mort et la femme guillotinée« ein so merkwürdiger Vorläufer des späteren Naturalismus ist, oder wie Gerard de Nerval, den Euphorion des Romantismus, den geistigen Abkömmling Nodiers, dessen dustige Frauengestalten eine gewichtlose Leichtigkeit haben, dessen Übernatiirliche Phantasien orientalisch märchenhast sind, und dessen Sonette aus der Periode seines Wahnsinns zu den schönsten und sinnreichsten gehören, welche das Zeitalter hervorgebracht hat. An vielen Talenten zweiten und dritten Ranges habe ich ganz vorbeigehen müssen, an Antoni Deschamps, der als Dichter dem entspricht, was Leopold Robert in der Malerkunst ist, an Auguste Vacquerie, einem Epigonen Victor Hugos, interessant durch seinen Köhlerglauben an den Romantismus und seine unbeschreibliche Zuversicht, der in seinem Drama »Traga-1dabas« der französisch-romantischen Extravaganz eines ihrer kühnsten Denkmäler setzte. In der Regel konnte und wollte ich nur die typischen Hauptgestalten hervortreten lassen. Die große Frauengestalt der Periode, George Sand, muß allein als Vertreterin der Frauen des Zeitalters stehen, wie unterhaltend es auch hätte sein können, mehrere andere, wie die geistreiche Madame de Girardin, die elegische Madame Desbordes-Valmore, oder die zwei sreilebenden Schriftstellerinnen Madame d’Agoult und Madame Allart, zu schil|460|dern. So hat auch Sainte-Beuve allein die Kritik repräsentieren müssen mit Übergehung von Philarete Chasles und Jules Janin, wie Valzac allein das Wirklichkeitsstudium im Roman vertreten mußte ohne Rücksicht auf weniger tiefgehende Begabungen wie Alphonse Karr oder Charles de Bernard. Es giebt in der Generation von 1830 zwei Gruppen von Schriftstellern, eine kleine, die für die ganze Erde geschrieben hat, und eine größere, die für Frankreich schrieb, und nur die erstere habe ich hier in volles Licht stellen wollen.

«Wir sahen, wie die Restauration und das Julikönigtum den historischen Hintergrund bildeten, von welchem der Romantismus sich abhob und ohne welchen derselbe nicht verstanden werden kann; wir sahen, wie die romantische Schule sowohl fremde Anregungen empfing wie auch eine nicht ganz kurze Vorbereitungszeit in Frankreich selbst hatte. Die Restauration »startet« sie, dasJulikönigtum reizt sie, das Studium von Scott und Byron, Goethe und Hoffmann bereichert sie. Andre Chénier giebt ihr die lyrische Weihe, die Kämpfe im »Globe« entwickeln ihre Kritik. Charles Nodier bahnt mit seinen im allgemein europäischen Sinn romantischen Dichtungen den großen französischen Romantikern den Weg. Dann wirft sich Hugo zum Führer der Bewegung auf, zeigt sich dieser Stellung vollständig gewachsen und eilt von Sieg zu Sieg. de Vigny und er werden schnell neben Lamartine als Lyriker genannt, bis Hugo alle überstrahlt. Sainte-Beuve und Théophile Gautier haben beide eine lyrische Ader, aber Alfred de Musset erobert als lyrischer Dichter das Publikum den anderen Jüngeren, bald sogar Victor Hugo ab, und wird für lange Zeit der Abgott der Jugend.

Der Romantismus hatte von Anfang an einen historischen Hang gehabt; de Vigny, Hugo, Balzac, Mérimée wollten Frankreich den historischen Roman geben, auf welchen England stolz war; Vitet, Mérimée , Alexander Dumas, de Vigny, Hugo strebten das historische Drama an die Stelle der klassischen Tragödie zu |461| setzen. Der historische Roman wurde schnell von dem modernen Roman in seinen verschiedenen Formen bei George Sand, Balzac und Beyle verdrängt, und auch das historische Drama wurde bald zurückgedrängt; es war in der Regel zu trocken, wie bei Vitet und Mérimée , oder zu lyrisch-überspannt, wie bei Hugo. Meistens hatten die Dichter auf der Bühne·den größten Erfolg, nachdem die Leidenschaftlichkeit ihrer ersten Jugend ausgetobt hatte. Es kam in den vierziger Jahren ein gewisser Zeitpunkt, wo nicht nur außerhalb der romantischen Schule eine »Schule des gesunden Verstandes« bestand, sondern wo innerhalb des Romantismus in dem Leben der Dichter eine Periode des gesunden Verstandes eintrat. Es war zu dieser Zeit,. daß Alfred de Musset seine kleinen witzigen dramatischen Eingaben für die Vernunft und die Ehe verfaßte, und daß George Sand ihre friedlichen Romane und ihre Bauernnovellen schrieb. Während Hugo als lyrischer Dichter immer höher stieg, lenkte Gautier die Bahn des Romantismus in die Richtung der bildenden Kunst hinein. Balzac entwickelte ihn in physiologischer, Beyle in völkerpfychologischer und analytischer Richtung. Mérimée vermittelte den Übergang der romantischen Dichtung zur Geschichtschreibung, Sainte-Beuve zur naturalistischen Kritik. Aus all diesen Gebieten hat die Generation von 1830 Unvergängliches geleistet. Man kann sie denn auch ohne Übertreibung die größte litterarische Schule nennen, welche unser Jahrhundert gesehen hat.

In diesem Augenblick sind ihre Männer und Frauen von der Oberfläche der Erde verschwunden. Viele starben früh, und in dem Zeitraum 1869–76 allein verlor jenes Geschlecht von den berühmtesten seiner noch lebenden Vertretern nicht weniger als Sainte-Beuve, Mérimée , Alexander Dumas, Théophile Gautier, Vitet, George Sand. Nur ein einziger von den Großen, nur der Größte ist noch am Leben, derjenige, dessen Lebenslauf zu erzählen unnötig war, weil alle denselben kennen. Victor Hugo, welcher der Erste war, ist der Letzte geblieben. Sein reiches Leben, überschwänglich |462| im Glück der Jugend, würdevoll und groß im Unglück, Ehrfurcht einslößend im Greisenalter, ein pompöses und antithesenreiches Poem wie seine eigenen Gedichte, krönt seine Kunst.

Die Sonne der französischen Romantik ist untergegangen, aber solange Victor Hugo lebt, sieht man noch ihren roten Abendschimmer über dem Horizont.

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