Die romantische Schule in Frankreich (1883)

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Man kann die Arbeit, welche von einer großen litterarischen Schule –– wie es die romantische in Frankreich war – vollbracht wird, mit dem Aufbau einer ganzen Stadt vergleichen; nur daß die Litteratur auf einen Grund baut, der bloß durch schwache, lockere Dämme gegen die Flut der Vergessenheit geschützt ist. Bald gewahrt man, daß Wasser in den Grund eingedrungen; allmählich steigt es höher und höher; zuletzt verschwinden alle niedrigeren Gebäude, und nur die höchsten Monumente ragen noch sichtbar über dem Wasserspiegel des Lethestromes empor.

Was diesen höchsten litterarischen Denkmälern ihre feste Haltung verleiht, ist teils die Tiefe des Fundaments von Ideen, welches sie trägt, teils die genaue Übereinstimmung zwischen einer vollkommenen Kunstform und der Idee; doch in letzter Instanz handelt es sich darum, daß der Dichter bewußt oder unbewußt, voll und ganz von dem Geiste seiner Zeit durchdrungen gewesen; denn der Geist ist es, der lebendig macht und vor dem Untergang bewahrt. Man kann in Frankreich drei Hauptrichtungen des Romantismus verfolgen:

Das Bestreben nach treuer Darstellung des Wirklichen, gleichviel ob die Treue die historische Vergangenheit oder das moderne Leben betraf, d. h. den Trieb nach Wahrheit,

das Streben nach vollendeter Form, einerlei ob dieselbe als das Plastische und Malerische im Ausdruck, als streng metrische |410| Harmonie oder als knappe Einfachheit eines unvergänglichen Prosastils aufgefaßtswurde, d. h. die Liebe zum Schönen,

endlich die resormatorische Begeisterung für große religiöse oder politische Ideen, das ethische Streben innerhalb der Kunst, d. h. den Sinn für das Gute.

Diese drei Grundrichtungen bestimmten das Wesen dieser lebensvollen, kunstreichen Schule, wie die drei Dimensionen den Raum bestimmen; und diese verschiedenen Bestrebungen, jede in ihrer Art, haben in jener Zeit Werke von hohem und bleibendem Werte hervorgebracht.

Sie besitzen jedoch nicht alle in gleichem Grade die Gabe, die Erinnerung an die Schöpfer derselben lebendig zu erhalten Es zählen ja alle Künste Werke auf, welche die Erinnerung an ihren Urheber überleben, weil das Werk trotz seiner Vollkommenheit keine Sympathie für den zu erwecken vermag, dem es seine Entstehung verdankt; und umgekehrt giebt es auch Schriftsteller, deren Persönlichkeit lebendig vor der Nachwelt dasteht und deren man mit Dankbarkeit und Bewunderung gedenkt, selbst wenn die meisten ihrer Werke schon in Vergessenheit geraten sind.

Die romantische Schule weist Geister und Werke von beiden « Arten auf. Sie hat Schriftsteller wie Balzac, Mérimée und Gautier, die eine natürliche oder künstliche Gefühlslosigkeit gegenüber dem sozialen und politischen Streben des Zeitalters an den Tag legten, und sie besitzt Dichter, die mit tiefer Bewegung und inniger Teilnahme den Vers suchen zusahen, welche die Zukunft ihres Vaterlandes wie die der ganzen Menschheit reformieren und organisieren wollten. Die Poesie hat ja zwei Grundformen. Sie hat entweder den Charakter einer auf psychologischerForschung beruhenden Darstellung – in dieser Gestalt nähert sie sich der Wissenschaft – oder sie hat das Gepräge einer Verkündigung, einer begeisterten Mitteilung – und in dieser Form nähert sie sich der Religion. Es gab im Geschlechte von 1830 eine ganze Gruppe von Geistern, |411| welche die Poesie in letzterer Weise ausfaßten.v Man hat ihnen Unrecht gethan, wenn man ihre Produkte mit dem Namen Tendenzpoesie herabsetzte. Denn was man hier als Tendenz verdammte, ist nichts anderes,· als der Geist des Jahrhunderts, dessen Ideen; und diese sind auf die Länge das Lebensblut jeder wahren Poesie. Was man im eigenen Interesse der Poesie fordern muß, ist nur, daß die Adern, in denen dieses Lebensblut rollt, und die man gerne bläulich durch die Haut schimmern sieht, nicht angeschwollen . oder dunkel hervortreten, wie bei einem Zornmütigen oder Kranken.

Schon im Laufe der dreißiger Jahre brechen von allen Seiten reformatorische Ideen über die romantische Schule herein. Geht man bis zu ihrer Quelle zurück, so kann man nicht früher stehen bleiben, als bei Saint-Simon. In Graf Samt-Simon (geb, 1760) – der Enkel und einzige Abkömmling des berühmten-Herzogs gleichen Namens, welcher geheimer Geschichtschreiber des Hofes unter Ludwig X1V. Regierung war – hatte Frankreich, das der Faustdichtung so wenig Interesse widmete, im achtzehnten Jahrhundert einen wirklichen Faust hervorgebracht, einen Faust Von unruhiger Genialität, mit dem unwiderstehlichen Verlangen, das Universum theoretisch und praktisch kennen zu lernen. Er ist weniger klar und rationell als der Held in Goethe’s berühmter Dichtung, aber sein Blick ist weiter,- sein Ziel größer und sein Streben höherer Natur. Er beginnt seine Laufbahn so, wie Faust dieselbe beschließt Seine Pläne – ein Durchbruch der Landenge von Panama, eine großartige Kanalanlage in Spanien –– erinnern an die Wirksamkeit, mit welcher Faust sein Leben endigt. Samt-Simon war nacheinander Offizier, Weltmann, Ingenieur, Projektenmacher, Philosoph, Gelehrter, Nationalökonom, zuletzt Religionsstifter – ein hochbegabter Polyhistor mit etlichen Zügen eines Universalgenies. Er brachte in der Jugend sein Vermögen durch, da ihm die Titel und Rechte eines Pairs von Frankreich und eines Granden von Spanien samt einer Summe von 500 000 Francs als Erbe ge|412|sichert schienen. Aber fein Vater überwarf sich mit dem Herzog von Samt-Simon und aus der Erbschaft wurde nichts. Der Sohn versank in die tiefste Armut, arbeitete als Kopist im Leihhaus täglich neun Stunden für ein Jahresgehalt von 1000 Francs und war im Jahre 1812 genötigt, von Wasser und Brot zu leben. Eines Tages machte er in Verzweiflung einen Selbstmordverfuch Er schoß sich ein Auge aus, wurde aber wieder hergestellt. Sogar der Selbstmordversuch ift ein faustischer Zug.

Es sammelten sich Schüler um ihn, bei denen er Unterstützung fand. Sie nahmen seine Lehren mit Begierde auf und gründeten eine Zeitschrift nach der anderen, um feine Ideen zu verbreiten.

Als er fünf Jahre vor der Julirevolution starb, waren diese Ideen nur von einem kleinen Kreis gekannt und kultiviert. Doch unter der Regierung Ludwig Philipps verbreiteten sie sich immer mehr, während fie zugleich in mancher Hinsicht eine Umgestaltung erfuhren. Es formte sich daraus die Lehre einer Sekte, welche sich mit einem Hohenpriester an der Spitze gebildet hatte, eine Sekte, welche die hervorragendsten Männer aus allen Fächern zu ihren Anhängern zählte, Finanzmänner wie Jsaac Pereire, Komponisten wie Felicien David. So kam es, daß die Saint-Simonistischen Ideen überall durchdrangen: Michel Chevalier nahm sie als Elemente in feine Nationalökonomie auf; Frankreichs größter Historiker in damaliger Zeit, Augustin Thierry, fühlte sich durch dieselben infpiriert; der bedeutendste französische Denker in diesem Jahrhundert, Auguste Comte, schöpfte seine Grundgedanken aus ihnen; sie fanden endlich vielfach modifiziert in Pierre Leron und Lamennais einflußreiche philosophische und religiöse Apostel, und gleichzeitig beeinflußten sie die Poesie. An und für sich war dies kein Wunder; hatte doch Samt-Simon trotz allen feinen Schwärmereien etwas von dem Seherblick großer Dichter.

Er war seiner Zeit voraus; denn fein Ideenleben ist eines der Symptome der großen Reaktion gegen das achtzehnte Jahr|413|hundert, welches er als einen nur kritischen, auflöfenden Zeitraum betrachtete, während er das neunzehnte Jahrhundert eine organische positiv hervorbringende Epoche nannte. Er wandte sich ebenso unbedingt gegen diejenigen, welche sich einbildeten, das Glück der Menschheit ließe sich durch eine bloße Umänderung der Staatsform sichern, wie auch gegen jene, welche, wie die kirchliche Partei, die Vergangenheit verteidigten, um dieselbe zurückzurufen Er war nicht der Wortfiihrer der Vergangenheit, sondern der Zukunft; und in den Bestrebungen der Reaktion glomm für ihn nur der eine Funke von Wahrheit: daß die Menschheit nicht durch bloße Verstandesbegriffe civilifiert werden könne, sondern daß es dazu der Religion bedürfe; allerdings einer solchen, welche die alten Überlieferungen, das Äußerliche der Religionen ausgeschieden hatte. Da ihm in seinem Reformeifer nicht damit gedient war, nur Halbes zu erringen, so bedeutete die negative Freiheit, die bloße Befreiung von hindernden Schranken, ihm nur wenig, wenn sie nicht durch die wahre Freiheit, das heißt ein immer größeres und reicheres positives Können, vervollständigt wurde. Die letzten kritischen Jahrhunderte waren damit vorangegangen, die theokratischen und militärischen Systeme des Mittelalters umzustürzenz nun galt es, das wissenschaftliche und industrielle System auszubauen. Die Bestimmung der Wissenschaft war es, den Platz des Glaubens einzunehmen, die Aufgabe der Industrie, an Stelle des Krieges zu treten.

Vorläufig handelte es sich darum, die Wissenschaft und die Industrie zu »organifieren«.

Bezüglich des ersteren Punktes kann man in Saint-Simon’s »Briefe von einem Genfer Bürger« fein Projekt nachlefen, das darin besteht, an Newton’s Grab eine Subskription zu eröffnen, zum Besten der hervorragendsten Gelehrten und Künstler, vermittels deren sie ohne Nahrungssorgen ausschließlich in ihrem Fache thätig fein könnten und reichlichen Lohn für ihre Arbeit erhielten – ein Pro|414|jekt, das der Verfasser des »Chatterton« sicher mit Begeisterung aufgenommen hat, wofern er es gelesen. Mehr Verwunderung dürfte es bei ihm erregt haben, wenn man ihm sagte, daß zum Entgelt diese Genies die Verwaltung des geistigen Bedarfes der Menschheit nach einem bestimmt detaillierten Reformplan übernehmen sollten.

Hinsichtlich der Organisation der Industrie ist Saint-Simon’s »Parabel« ein hoch interessantes Aktenstück. Da die Parabel wahrscheinlich unter seinen Schriften die einzige ist, welche man in Zukunft noch lesen wird, weil sie ausnahmsweise in kurzem, bündigen Stil geschrieben ist und überdies ein Witz darin ausblitzt, der sich sonst nirgends bei Samt-Simon findet, gebe ich sie in gedrängter Form hier wieder.

Gesetzt, sagt er, Frankreich verlöre von seinen Physikern, Physiologen, Dichtern, Malern, Mechanikern, Ärzten u. s. w. die 50 ersten jeden Fachs, im Ganzen 8000 seiner ersten Gelehrten, Künstler, Handwerker – was dann?

Da diese Männer wesentlich die produktiven Kräfte des Landes sind, die Blüte des französischen Volkes darstellen, so würde es mindestens einer ganzen Generation bedürfen, um die Folgen dieses Unglücks gut zu machen. Denn solche Menschen, deren Wirksamkeit positiven Nutzen bringt, sind Ausnahmen, und die Natur ist mit Ausnahmen nicht verschwenderisch.

Stellen wir den Fall anders: angenommen, Frankreich behält alle seine genialen Männer der Wissenschaft, Kunst, Industrie und des Handwerks, hat aber das Unglück, Seine Königliche Hoheit, den Bruder des Königs, ferner Ihre Königlichen Hoheiten die Herzöge von Berry, von Orleans und von Bourbon, die Herzogin von Angouleme, die Herzogin von Bourbon und die junge Herzogin von Conde zu verlieren. Gleichzeitig verliert das Land alle die höchsten Würdenträger der Krone, alle Staatsminister, Kammerherren, Jagdjunker, Marschälle, Kardinäle, Erzbischöfe, Bischöfe, |415| Groß-Vikare und Domdechanten, alle Präfekten und Unterpräfekten, alle Richter und Überdies 10000 Gutsbesitzer, die ein großes Haus führen.

Ein solches Ereignis möchte gewiß die Franzosen tief betrüben, weil sie gutherzig sind und das Verschwinden einer so großen Anzahl ihrer Mitbürger keineswegs mit Gleichgültigkeit ansehen würden. Aber dieser Verlust von nicht weniger als 30 000 Judividuen, welche als die ersten im Staate gelten, würde sie doch nur aus rein sentimentalen Gründen bekümmern. Denn für den Staat als Staat entstünde daraus kein ernstliches Ungemach; in erster Linie schon deshalb nicht, weil es sehr leicht wäre, die freigewordenen Plätze wieder auszufüllen. Es existiert eine große Anzahl von Franzosen, welche imstande wären, die Funktionen von Seiner Majestät Bruder ebenso gut zu versehen wie Hochderselbe; viele sind der Stellung eines Prinzen von Geblüt gewachsen u. s. w. In den Vorzimmern des Hofes giebt es genug Beamte und Bedienstete, die sofort bereit wären, die höchsten Würdenträger der Krone zu ersetzen u. s. w. Die Armee besitzt eine große Anzahl Offiziere, die ebenso gute Generäle abgeben würden wie unsre nunmehrigen Marschälle, und wie viele Handlungsreisende sind nicht bessere Köpfe als unsre Minister, wie viele Geistliche sind ebenso gläubig und tauglich wie unsre Kardinäle, Erzbischöfe, Bischöfe u. s. w. Was endlich die 10000 Gutsbesitzer betrifft, so würden ihre Erben nicht einmal eine Lehrzeitfnötig haben, um in Gesellschaftssälen mit ebenso feinem Anstand wie jene die Honneurs zu machen.

Wie man sieht, liegt diesem Scherz, welcher Samt-Simon vor ’ den Richterstuhl führte, der Gedanke zu Grunde, daß nur die produktive Klasse von Staatsbürgern wirklich nützlich ist: Vor der Revolution bestand der Kampf zwischen dem Adel und dem Bürgerstand; in der neuen Zeit, da letzterer zum Teil den Platz des früheren Adels und mit demselben dessen Rechte eingenommen hat, |416| herrscht der Zwiespalt zwischen dem unproduktiven und dem produktiven Stand; die Zukunft gehört dem Gewerbesleiß, der Arbeit, den Werken des Friedens, nützlicher Thätigkeit Doch während die zeitgenössischen französischen Nationalökonomen nur dem Einzelnen die möglichst freie Entwickelung seiner Fähigkeiten zu sichern wünschtenforderte Samt-Simon das Eingreifen des Staates. Dieser sollte die Arbeit und die Produktion organisieren; er allein wäre imstande es durchzusetzen, daß in Zukunft nicht mehr ein Mensch vom andern, sondern daß nur noch die Natur durch den Menschen ausgenutzt würde. Der Staat sollte endlich, bei aller Anerkennung der natürlichen Ungleichheit zwischen den Menschen, das Seine dazu beitragen, die künstliche aufzuheben, und darum jedes Privilegium der Geburt, hauptsächlich das Erbrecht, abschaffen oder einschränken

Wir begegnen also bei Samt-Simon zuerst dem Grundge. danken des modernen Sozialismus, dem Mißtrauen gegen die Folgen der freien Konkurrenz mit dem Anspruch, daß die produktive Arbeit zu ihrer Ehre und ihrem Rechte komme. Folgerichtig gelangte er zu der berühmten Forderung, daß Jeder in der Gesellschaft in das richtige Verhältnis zu seinen Fähigkeiten und Leistungen gestellt werde (ä ohacun selon sa oapacitå!). – Demnächst taucht – zum erstenmal auf französischem Boden – die Lehre auf von der vollständigen Gleichstellung der Frau und des Mannes. Endlich folgt in religiöser Hinsicht die Berwerfung der ganzen Dogmenlehre, nicht in der Absicht, die Religion umzustürzen, sondern damit aus dem Grabe der Orthodoxie das eine Prinzip erstehe: Liebet einander! ein neues Christentum, das Samt-Simon in seiner letzten Hauptschrift: »Le nouveau Christianisme« entwickelte, und dessen einziger Grundsatz der ist: Die Aufgabe der Religion besteht darin, die Gesellschaft zu dem großen Ziele hinzuführen, das Schicksal der ärmsten und gleichzeitig zahlreichsten Klasse möglichst rasch zu verbessern.

Es war in Saint-Simons Persönlichkeit etwas, was den |417| naiveren unter den Romantikern verwandt vorkommen mußte. Er hatte das unbegrenzte Selbstvertrauen, welches auch Anderen Glauben einflößt, dagegen besaß er nichts von der vorsichtigen Selbstkritik des Philosophen – er war dogmatisch, war Prophet. Außerdem hatte er den romantischen Durst Alles durchzuleben und zu empfinden. Wenn man die Ansprüche an den Denker liest, welche er als Bedingungen für den Fortschritt in der Philosophie aufstellt, so wird man sehen, daß sie nur wenig verschieden von denen find, welche ein junger romantischer Dichter für die Produktion notwendig finden würde. Sie sind: Man soll 1. in den Jahren der Kraft ein so thätiges und originelles Leben wie möglich führen, 2. jede Art der Praxis und Theorie kennen lernen, Z. alle Gesellschaftsklassen studieren und sich selbst in die verschiedensten sozialen Stellungen bringen, |4|. endlich soll man seine Beobachtungen zusammenfassen und das Resultat davon ziehen.

Ein Hauptpunkt in Saint-Simons Lehre, welcher in der Regel die romantischen Schriftsteller abstieß, war die Begeisterung für den Industrialismus, der als ausschließlich nützlich den meisten von ihnen zuwider war. Doch die Lehre entbehrte deshalb nicht romantischer Elemente; sie mußte auf den Romantiker sowohl durch ihr revolutionäres als durch ihr phantastisches und utopisches Element, durch ihre Betonung der natürlichen Ungleichheit, durch ihren bis ins Extrem getriebenen Kultus des Genius und durch ihre religiösen Aspirationen anziehend wirken. Allgemein poetisch war sie endlich durch ihre Fürsorge für die Frau und durch die Menschenliebe, mit welcher sie die schlecht gestellten Klassen der Gesellschaft umfaßte.

Erst nach 1830 begann Saint-Simons Lehre eine Gesellschaftsmacht zu werden. Er selbst war, wie Religionsstifter pflegen, zugleich Verkündiger und Vorbild gewesen; er hatte es verstanden, ein förmliches Apostolat ins Leben zu rufen; seine

Schüler betrachteten ihn in vollem Ernst als den Messias der |418| neuen Zeit und zogen als dessen Jünger hinaus in die Welt. Durch seine Schüler und deren Geistesverwandte lernte man darum eigentlich erst unter der Julimonarchie den Saint-Simonismus kennen, obwohl einzelne rege Geister schon früher den Meister selbst studiert hatten. So finde ich in Victor Hugo’s Tagebuch von 1830 (Littérature et Philosophie mêlées I.) eine Notiz, welche beweist, daß er Samt-Simon damals bereits gelesen hatte.

Zwar mußte das Organ Saint-Simons, »Le Producteur«, nur ein Jahr nach-seinem Tode eingehen; aber gerade dieser Umstand brachte seine Schüler mehr in persönliche und intime Berührung mit ihren Anhängern. Von dem Zeitpunkt an als Ensantin, der Paulus der jungen Lehre, ein schöner Mann von mächtiger Persönlichkeit und ein Prediger ersten Ranges, der etwas von dem Herrscher- und Führertalente eines Vrigham-Young in sich hatte, das saktische Oberhaupt der Sekte geworden war, gewann diese eine nicht geringe Anzahl hochbegabter Jünglinge und gebildeter, lebhafter Frauen für sich. Beträchtliche Gaben flossen der SaintSimonistischen »Familie« freiwillig zu, im Jahre 1831 allein 330,000 Francs Man gründete ein neues Organ, die Wochenschrift »L’Organisateur«, und von 1831 ab übernahm Pierre Leroux, wie schon früher erwähnt, »Le Globe«. Indes verlor die Lehre immer mehr ihr ursprüngliches Gepräge Während Samt-Simon in seinem Organisationsplan den Kapitalisten einen hervorragenden Platz zugedacht hatte – eine von den drei Kammern, die er errichtet haben wollte, sollte ausschließlich aus Kapitalisten bestehen – griff man nun das Kapital an; und während Samt-Simon jedem Kommunismus abgeneigt war, hatte die »Familie« faktische Gütergemeinschaft eingeführt und verlangte das gleiche sogar vom Staat. Doch eine einzelne bestimmte Konsequenz, die man aus der Lehre zog, führte deren Untergang und die Auflösung der ganzen Sekte herbei. Samt-Simon hatte gelehrt: da das alte Christentum Geist und Fleisch von einander geschieden habe, so gelte es nun, diesen |419| Zwiespalt wieder auszugleichen Das alte Christentum habe Selbstverleugnung und die Kasteiung des Fleisches als Ziel ausgestellt, das neue sollte Wohlsein und allgemeines Glück als Endzweck betrachten. Mit anderen Worten läßt sich sein Gedanke folgendermaßen wiedergeben: Das Christentum der Askese war eine strenge, gewaltsame Kur gegen das üppige Schwelgen des Römerreiches, welches Befriedigung aller Begierden suchte; jedoch die Kur hat sich als völlig so gefährlich wie die Krankheit erwiesen. Der Krankheit sind wir ledig geworden; aber wer befreit uns vom Heilmittel, ohne daß ein Rückfall folgt? Keine andere Macht als das neue Christentum.

Aus dieser relativ gesunden Grundidee wollte Enfantin Zustände herleiten und unverzüglich verwirklichen, die an jene erinnern, welche Johann von Lehden in früherer Zeit bei den Wiedertäufern eingeführt hatte. Von Anfang an hatte der Samt-Simonismus verkündet, an Stelle des Individuum Mann solle in der neuen Ära das Individuum Mann-Frau treten mit gleichen Rechten und mit voller Freiheit, eine eingegangene, nicht befriedigende Ehe aufzulösen, denn in dem Paare, nicht in dem einzelnen Menschen, sei die wahre Menschlichkeit verwirklicht Enfantin zog hieraus die Konsequenz, zwei Arten von Ehe anzunehmen, die monogame und die im Lauf der Zeiten (nicht gleichzeitig) polygame, das heißt, die dauernde und die äußerst flüchtige, während wirkliche, gleichzeitige Polygamie nur zum Besten der männlichen und weiblichen Priester eingeführt werden sollte. Wiewohl man weder in der öffentlichen Diskussion, noch später während der Gerichtsverhandlungen etwas von Belang einwenden konnte gegen das Argumentder Saint-Simonisten, daß diese Ordnung in der Hauptsache keine andre Folge haben würde als Verhältnisse zu regulieren und zu legitimisieren, welche man als ungesetzlich schon ringsum in derGesellschaft vorfinde – so zeigt doch die gezogene Konsequenz zur Genüge, wie gänzlich den jungen Schwärmern der Blick für das |420| mangelte, was unter den gegebenen Gesellschaftsverhältnissen sich verwirklichen ließe und was nicht, und wie befangen sie in dem Glauben waren, historische Zustände durch einen Federstrich umformen zu können. Was ihnen zur Entschuldigung gereicht, ist der Umstand, daß, mit Ausnahme von Enfantin und Bazard, im Jahre 1830 sämtliche Samt-Simonisten (wie auch alle Anhänger von Lamennais) erst ungefähr 20 Jahre zählten. Das Lachen machte ihrer Propaganda ein Ende. Im Sommer 1832 wurden die Häupter der »Familie« verurteilt: Enfantin zu einem Jahr Gefängnis, Michel Chevalier und Duveyrier zu einer unbedeutenden Geldstrafe Die jungen Enthusiasten, aus denen die kleine Sekte bestand, zerstreuten sich nach allen vier Winden, aber nur, um als reife Männer (fast ohne Ausnahme) sich auf industriellem, wissenschaftlichem oder künstlerischem Gebiete rühmlichst auszuzeichnen. Ihre Übertreibungen der Lehren Saint-Simons waren ebenso wie Fouriers gleichzeitige Utopien ohne irgendwelche Einwirkung auf die schöne Litteratur. Diese wurde nur durch die ursprünglichen Grundgedanken des Meisters beeinflußt.

Denn bald schwirrten die Saint-Simonistischen Ideen in der Luft der damaligen Zeit, befruchteten sie mit ihrem Samen und wirkten ansteckend auf die Gemüterz sie ergriffen bisweilen ein weiches Gemüt, und dieses weiche bekehrte dann ein kräftigesz sie bemächtigten sich einer Frau durch einen Mann oder umgekehrt, eines Dichters durch einen Prediger oder eines jungen Polytechnikers durch einen Dichter. Und sie riefen, wie Ideen zu thun pflegen, verwandte Ideen hervor, einige, welche seit Ende des vorigen Jahrhunderts geschlafen hatten, wie z. B. Louis Blancs demokratisch-fozialistische, andre, philosophisch-historisch-humanitäre, die an Schelling erinnerten und zugleich der Plutokratie drohten, wie diejenigen des Pierre Leron in feiner zweiten Periode, wieder andre, welche, wie diejenigen Lamennais’, Gedanken und Gefühle erweckten, ähnlich denen, mit welchen Priester, die während der |421| Bauernaufstände des Mittelalters den Empörern das Kreuz vortrugen, das Proletariat so hingerissen hatten, daß es ohne Bedenken das Leben einsetzte.

Lamartine, der während der Restauration die bedeutendste dichterische Kapazität der konservativen Partei gewesen, beginnt schon zu Anfang der dreißiger Jahre zu schwanken. Man spürt seine Sympathie und die Neubildungen seiner Überzeugung bereits in seinem »Jocelyn« (1886), so mild und fromm dieser versifizierte Roman auch ist« In der Vorrede weicht er der Frage nach seinem Glauben mit der Wendung aus, daß, welcher Art dieser auch sei, er doch nicht die Ehrfurcht seiner Jugend vor der Kirche vergessen habe. Dennoch konnte es nicht der Aufmerksamkeit entgehen, daß die Handlung des Gedichtes als ein Angrifs auf den unvermählten Stand der Geistlichen, also aus einen Hauptpunkt der Kirchenlehre, zu betrachten war; in Jocelyn’s Tagebuchaufzeichnung vom 21. September 1800 fand sich außerdem diese vielsagende Stelle:

»Die menschliche Karawane hatte sich eines Tages in einem Walde gelagert, dessen Saum von dem steilen Ufer eines Flusses begrenzt war; es war nicht möglich weiter vorzudringen. Hohe, mächtige Bäume gewährten ihr Schutz gegen Sonne und Wind. Die Zelte, deren Stricke sich um »die Äste der Bäume schlangen, bildeten gleichsam Dörfer rings um die Stämme, und die Menschen, welche auf dem Rasen zerstreut lagen, aßen ihr Brot im Schatten und sprachen friedlich mit einander. Doch plötzlich – wie von Wahnwitz erfaßt – erhoben sich die Männer, samt und fonders von einem Gedanken ergriffen, hieben ihre Äxte in die Stämme und fällten alle die grünen Wölbungen, in denen Vögel sich Nester gebaut. Und die Tiere des Waldes kamen aus ihren Höhlen und sahen gleich den flüchtigen Vögeln entsetzt, was geschehen, und verwünschten diese Rasse, welche so eifrig zu ihrem eignen Schaden arbeitete und das Dach niederriß, das ihr Schutz gab. Doch während die unvernünftigen Geschöpfe des Waldes den Herrn der |422| Natur bedauerten, fuhr er in seinem gewaltigen Zerstörungswerk fort und warf die Stämme als Brücken über den Abgrund, bis der Fluß bedeckt und wegsam war. Und friedlich setzte die Karawane ihre unaufhaltsame Reise fort und eroberte das andre Ufer.«

Hierbei blieb es nicht. »La Chute d’un ange« zeigte trotz aller Fehler, daß der Dichter selbst seinen früheren seraphischen Stil verworfen hatte. Zugleich verrieten die ersten Parlamentsreden Lamartine’s, daß die Saint-Simonistischen Ideen allmählich seine Orthodoxie verdrängt hatten. Er, der geborene Aristokrat, trat in der Politik als«»d6moorate conservateuriE auf, wollte die konstitutionelle Monarchie mit allen Freiheiten und Fortschritten der modernen Zeit umgeben. Und selbst hierbei blieb es nicht. Seine 1847 herausgegebene »Geschichte der Girondisten«, wertlos als historisches Werk, aber von einer hinreißenden dichterischen Beredtsamkeit, trug mehr als irgend ein andres Buch dazu bei, die Gemüter revolutionär zu stimmen und die kommende Umwälzung vorzubereiten. Im Jahre 1848 finden wir den ehemaligen Hofpoeten der Legitimität als den wirklichen Chef der Republik, wie er auf der Altane des Stadthauses mit der entschiedenen Beredtsamkeit . eines Volkstribuns auftritt und den Gewehrläufen, die auf seine Brust gerichtet sind, die vornehme Gleichgültigkeit des Edelmannes entgegensetzt Sein Leben feierte eine große, eine ewige Minute an jenem Tag, als er durch ein paar ebenso poetische wie männliche Worte, die er ohne nur mit der Wimper zuzucken sprach, das Leben seiner Kollegen rettete und den Bürgerkrieg abwandte.

Pierre Leron war es, welcher George Sand in die gärenden sozialen Ideen einweihte; mit weiblicher Wärme und ohne Bedenken ging sie ganz in der neuen Ideenwelt auf. Pierre Leroux, ein Metaphysiker mit einem edlen Herzen, aber ein unklarer Kopf, der in Schellingschen Dreiheiten dachte, verfocht als sozialer Reformator die Ideen der Gleichheit und des Fortschritts, denn jeder Fortschritt war für ihn ein Steigen in Gleichheit. Er ging aus von einer |423| entrüsteten Kritik der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse, unter denen die Gleichheit nur eine Gleichheit vor dem Gesetze war, welche nicht ausschloß, daß der Reiche befreit blieb vom Militärdienst und frei von Strafe, wenn er sich vergangen; Verhältnisse, Unter denen die Freiheit einzig in der freien Konkurrenz bestand, das heißt, in dem gesetzlichen Recht des Reichen, den Armen auszubeuten. An Stelle der bestehenden Gesellschaft konstruierte Leroux eine neue.- Sie beruhte auf der dreifachen Natur des Menschen. Die« menschliche Natur bestehe aus: sinnlicher Wahrnehmung, Gefühl (innere Anschauung) und Erkenntnis Dem entsprachen drei Stände: Gewerbtreibende, Künstler und Gelehrte; doch diese drei Stände sollten nicht wie bei Samt-Simon Kasten bilden, sondern gemeinsam handeln und wirken; Individuen aus den drei Ständen machten je zu dreien ein sociales Individuum aus und sollten zusammen eine Werkstatt bilden; die Werkstatt war von drei verschiedenen Arten, je nachdem die eine oder die andere Wirksamkeit vorherrschte u. s. w.

Wirst man einen Blick auf alle diese Utopien, so kann man nicht umhin zu bewundern, wie gesund und groß die Dichter, welche sich von einzelnen Grundgedanken mit fortreißen ließen, sich den Systemen selbst gegenüber verhielten Sie ließen Alles, oder fast Alles, liegen, was erkünstelt, phantastisch oder parodistisch war. Sie begnügten sich damit, ihre poetische Fackel an dem Altarfeuer an. zuzünden, welches diese herzensreinen Schwärmer unterhielten, sie ließen sich inspirieren durch die Menschenliebe, durch den Eifer, womit jene sich der Unbemittelten und Unterdrückten annah,men, durch ihren glühenden Glauben an das Volk und ihre lebhaste Begeisterung für den Fortschritt.

Auf George Sand’s Seelenleben hat der Saint-Simonismus, was man auch immer gesagt haben mag, eine heilsame Wirkung ausgeübt. Er gab ihr nach dem Paroxismus der Verzweiflung in »Lélia « innere Ruhe, einen Glauben, eine Sache, für die sie wirken |424| und kämpfen konnte. Offenen Blickes betrachtete sie, was um fie herum in Frankreich vorging. Gegen Ende der dreißiger Jahre waren die arbeitenden Klassen in heftiger gärender Bewegung. Zu dieser Zeit hatte sich die langsame Umwandlung Frankreichs von einem fast ausschließlich ackerbauenden Land zu einem Hauptland der Industrie vollzogen. Während vorher nur die Landbevölkerung die äußerste Armut gekannt hatte, waren jetzt in den Städten durch das Fabrikleben, das die Großindustrie mit sich führte, die Armut und die Unruhe des immer wachsenden Stadtproletariats eingetreten.

Wie fast alle demokratischen Schriftsteller Frankreichs wandte George Sand ihre Aufmerksamkeit der Arbeiterbevölkerung der Städte zu; sie fing an, sich mit ihrem harten Kampf ums Leben, ihrer lebhaften Intelligenz, ihren politischen und sozialen Idealen zu beschäftigen. Der Saint-Simonismus hatte sie anfänglich durch feine Kritik des Verhältnisses zwischen Mann und Weib in der bestehenden Gesellschaft interessiert und begeistert; sie hatte in der neuen Lehre die Gedanken, die ihr am teuerften waren, – daß die Ehe nur als freiwillige Verbindung Schönheit und Würde habe, daß der Maire, die Zeugen und der Sakristan ihr keinen heiligeren Charakter zu geben vermöchte, als ihr durch die Liebe und das Gewissen erteilt worden –– als Wahrheiten anerkannt gesehen, die gepredigt und verfochten werden sollten. Jetzt gab der Saint-Simonismus auch ihrer Liebe zum gemeinen Mann ein geistvolleres und bestimmteres Gepräge; sie fand bei den Männern des Volkes größere Uneigenniitzigkeit, mehr Männlichkeit als bei denjenigen der Bourgeoisie; es kam ihr vor, als ob die Laster, die sie in ihren ersten Romanen als Lafter des männlichen Geschlechts so bitter kritisiert hatte, in Wirklichkeit mehr die Gebrechen einer Klasse, als die des ganzen Geschlechtes seien, unddie Liebe, mit welcher sie den Arbeiterstand erfaßte, gab ihr, mit ihrem Idealismus vereint, das Motiv, Arbeitercharaktere von der ideellen Seite· aufzufassen und darzu|425|stellen. Hieraus entstand eine Reihe von Romanen, in welchen der frühere Gegensatz zwischen einem egoistisch verhärteten und einem uneigennützigen Männertypus dem Kontraste wich zwischen dem idealisierten und überlegenen Vertreter des vierten Standes und einem mehr oder weniger egoistischen und von der gesellschaftlichen Meinung abhängigen Repräsentanten des Bürger- und Adelsstandes.

Am interessantesten unter diesen Büchern sind zwei, die ungefähr im Jahre 1840 entstanden sind, »Horace«, der den Bruch der Verfasserin mit der Revue des deux mondes veranlaßte, weil diese Zeitschrift sich weigerte, den Roman aufzunehmen, und »Le Compagnon du Tour de France«, der eigentliche Arbeiterroman, der in seiner Unschuld und Sonntagssauberkeit ein bezeichnendes Gegenstück zu Eugene Sue’s nur wenig später erschienenen, grellen sozialistisch-demokratischen Tendenzromanen abgiebt.

Ich betrachte »Horace« als eines der besten Bücher, die George Sand geschrieben. In dem Helden hat sie mit feinerem und tieferem Studium als je zuvor oder später den typischen jungen Bourgeois des Julikönigstums dargestellt. Hier offenbart sie den seltensten Scharfblick und eine psychologische Einsicht, die derjenigen Balzacs nicht im geringsten nachsteht. Eine tiefe Antipathie, die jedoch durchaus nicht die gute Laune der Nachsicht ausschließt, hat sie inspiriert. Horace gegenüber spielt der Proletarier Arsene eine sehr schöne Rolle. Arsene ist Maler gewesen und hat aus Armut einen Dienst als Kellner in einem Cafe annehmen müssen; die abhängige Stellung konnte ihn aber nicht erniedrigen. Seine einfache Güte, seine prunklose Seelenschönheit macht ihn zu einer der anziehendsten Gestalten der Dichterin. Man glaubt an seine Realität. Arsene ist mit den Bousingots liiert, d. h. mit dem Kreise junger Studenten, die in den dreißiger Jahren den Stil und das Auftreten der romantischen Schule in das politische Leben einführten. Man findet sie auf Lithographien aus der damaligen Zeit häufig |426| mit ihren Robespierrewesten, dicken Stöcken, Wachstuchhüten oder roten Samtmützen abgebildet. Sie sahen äußerlich deutschen Burschenschaftlern ähnlich und nahmen an allem Unfug teil, der einen gegen das Juste-milieu-Regiment feindlichen Charakter hatte. George Sand ergreift mit Wärme ihre Partei. »Keiner dieser Männer, sagt sie, die zu jener Zeit die öffentliche Ordnung störten, hat jetzt nötig, darüber zu erröten, daß er einige hitzige Jugendtage hatte. Wenn die Jugend «das Große und Stolze, das ihr am Herzen liegt, nur durch Angriffe auf die gesellschaftliche Ordnung zeigen kann, so muß eben diese Ordnung sehr schlecht sein.« Arsene kämpft heldenmütig und wird schwer verwundet in dem Arbeiteraufstand am 5. Juni 1832, welcher mit voller Sympathie geschildert wird. Er schwingt sich in den folgenden Jahren zu einer nicht ganz niedrigen politischen Bildungsstufe auf. Seine Lehrjahre haben für uns insofern Interesse, als sie der Verfasserin Anlaß geben, ihre Sympathien unverblümt an den Tag zu legen. Der Mann, den Arsene besonders bewundert, ist Godefroy Cavaignac. George Sand charakterisiert den letzteren und seine Freunde, die Gesellschaft »Les Amis du peuple«. »Ihre Ideen, sagt sie, bezeichneten wenigstens einen großen Fortschritt über den Liberalismus der Restaurationszeit hinaus. Die anderen Republikaner dachten allzuviel daran, das Königtum zu stürzen, und nicht genug an die Grundlegung der Republik, Godefroy Cavaignac dagegen dachte an die Befreiung des Volkes, an unentgeltlichen öffentlichen Unterricht, an allgemeines Stimmrecht, progressive Umänderung der Eigentumsverhältnisseu. s. w.« Die Herzenskälte und die Borniertheit des Horace verrät sich u. a. durch seine höhnischen, wegwerfenden Urteile über den Samt-Simonismus, den er als bloße Charlatanerie ansieht; er versteht nichts von dem, was in der Saint-Simonistischen Auffassung der Stellung beider Geschlechter zu einander Wert hat, und muß sich deshalb darein finden, von einer jungen Nähterin, die mit seinem Freunde, einem vortrefflichen jungen Arzte, zusammenlebt und dies sihr Zu|427|sammenleben als »die in Wahrheit religiöse Ehe« betrachtet, mit sicherer Überlegenheit zurückgewiesen zu werden.*)*

*) Man sehe die Kapitel VI, X, XIV, XX.

Gewiß sind hier weit mehr Probleme berührt als die Verfasserin hat lösen können; aber schon die Beschäftigung mit den Aufgaben und Gedanken des Zeitalters hat ihrem Roman eine kräftige und anziehende historische Farbe verliehen. Es war ja auch nicht ihre Sache als Romanschriftstellerin, soziale Probleme zu lösen, sondern zu zeigen, wie sie die Herzen und die Gedanken selbst bei verliebten jungen Frauen und selbstzufriedenen oder wahrheitssuchenden jungen Männern erregten.

Was ich in »Le Compagnon du Tour de France«, der als Roman dem »Horace« nachsteht, bewunderungswürdig finde, ist die Frische des Gefühls, aus dem er hervorgegangen ist. Vor Mitgefühl mit den Unglücklichen der Gesellschaft sein Herz schwellen und brennen zu fühlen, von jeglicher Begünstigung, die das Schicksal Einem im voraus geschenkt hat, gedrückt und gedemütigt zu sein, das sind innere Erfahrungen, die manch ein Zwanzigjähriger kennt. Aber noch in dem Alter von vierzig Jahren nach Gerechtigkeit für Andere zu hungern und zu dürsten, sich außer Stande zu fühlen, mit Ruhe das Joch zu sehen, das auf unschuldigen Nacken lastet, es als unmöglich zu empfinden, mit Grübeln über eine andere Ordnung, eine andere Moral als die, mit welcher sich die umgebende Gesellschaft begnügt, nachzulassen, und« zwar in dem Grade, daß sie sich schämt zu schlafen, Zerstreuung zu suchen, sich, wenn auch nur für Augenblicke, glücklich zu fühlen – das ift das wahrhaft Seltene, und doch ist es dieses Gefühl, das George Sand gezwungen hat, ihr Buch zu schreiben. Von Liebe zum »Volk« ist dieser Roman getragen, zum Volke, wie es ist, zu dem Volke, das trinkt und Gewaltthaten begeht, nicht weniger als zu demjenigen, das arbeitet und geistige Fortschritte macht, und zwar ist diese Liebe |428| so groß, daß es der Verfafferin unmöglich geworden, in ihrer Schilderung bei den Lastern zu verweilen, für deren Existenz siesonft so wenig blind ist, daß sie dieselben einräumt und nennt (man sehe den Dialog im Kap. XXV). Der Gedanke, der dem ganzen Buche zu Grunde liegt, läßt sich vielleicht am kürzeften mit einer Wendung ausdrücken, die irgendwo darin vorkommt: Ein Adliger, welcher der alten Losung huldigt: Alles für das Volk, Nichts durch das Volk! weil die Unbemittelten sonst zugleich Partei und Richter sein würden, erhält von seiner jungen Tochter die Antwort: »Und sind wir denn nicht in demselben Fall?«

Kurz nachdem George Sand dieses Buch geschrieben hatte, stürzte sie sich in die praktische Politik. Sie hatte seit ihrem Bruch mit der »Revue des deux mondes« in Verein mit Pierre Leroux, Viardot, Lamennais und dem polnischen Dichter Mickiewicz die »Revue indépendante« herausgegeben; jetzt gründete sie im Jahre 1843 mit einigen Freunden in ihrer Gegend das republikanische Provinzblatt »L’éc1aireur de 1’Indre«, an dem sich auch Lamartine beteiligte. Hierin verfocht sie bald die Sache der hauptstädtischen, bald diejenige der ländlichen Arbeiter (der Artikel über die Bäckergesellen in Paris, die Briefe von einem schwarzwälder Bauern). 1844 erklärte sie sich in dem großen Aufsatz »Politik und Sozialimus« unbedingt als Sozialistin. Als die Revolution 1848 ausbrach, war sie vollständig reif, an derselben Teil zu nehmen; sie gab eine kurze Zeit das Wochenblatt »La cause du peuple« heraus, schrieb »Ein Wort an die Mittelklasfen« und die berühmten «Briefe an das Volk«, endlich die Bulletins für die provisorische Regierung. Im Laufe des Jahres nahm unter sdem Eindruck der nahenden Gefahren ihr republikanischer Sozialismus eine fast fanatische Form an. In dem Artikel »La majorité et 1’unanimité«, in welchem sie unmittelbar vor den Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung die Leser zum freisinnigen Wählen ausforderte, schließt fie – trotz mancherlei Umschweife und Umschreibungen – mit der Drohung, |429| daß, wenn die aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgehenden Wahlen nicht den volkstümlichen Interessen gemäß ausfallen sollten,. alsdann noch immer der Appell an die Waffen bleibe.*)*

*) Man genieße die köstliche, weiblich nach Heuchelei in dem folgenden Passus: »Elle se sent, elle se connaît maintenant, la voix unanime du peuple. Elle vous réduira tous au silence, elle passera sur vos têtes comme le souffle de Dieu, elle ira entourer votre représentation nationale, et voici ce qu’elle lui dira: Jusqu’ici tu n’étais pas inviolable, mais nous voici avec des armes parées de fleurs et nous te déclarons inviolable. Travaille, fonctionne, nous t’entourons de quatre cent mille baïonnettes, d’un million de volontés. Aueun parti, aucune intrigue n’arrivera jusqu’à toi. Receuille-toi et agis!«
Es ist lehrreich, sie bei ihrer Bewunderung der Volkssouveränität zu diesem despotischen Resultat gelangen zu sehen; es zeigt, welche wilde und männliche Energie in diesem genialen Weibe wohnte. Dieselbe unbeugsame Kraft, die hundert Romane nach einander ins Leben rief, äußerte sich hier in der praktischen Allianz mit Männern wie Ledru-Rollin und Louis Blanc, die sich damit begnügten, das zu denken, was sie ohne Vorbehalt in Worten zum Ausdruck brachte.

Zu Victor Hugo kam der demokratische Ideenstrom besonders durch Lamennais, in dessen Hauptwerk, »Essai sur l’indifference«, die Keime zur Auflösung jenes Autoritätsprinzips lagen, das dieser in seiner Jugend so begeistert verfochten hatte. Im August 1832 wurde Lamennais Lehre von dem Papste verurteilt. Schon seit dem Jünglingsalter hatte Hugo in dem innigsten Verhältnis zu Lamennais gestanden. Als Hugo in seiner frühesten Jugend sich einen Beichtvater suchte, war er auf Antrieb des Abbe de Rohan zuerst zu Frahssinous, dem einmal so unverzagten und aufopfernden Geistlichen, gegangen, der aber mit der Revolution zum Pariser Modepriester avanciert war. Als die weltlichen Ratschläge und Anweisungen dieses Mannes den gläubigen Jüngling anwiderten, fuhr der Abbe mit ihm zu einem kleinen, schwachen und |430| schmächtigen Manne mit gelbem Gesicht, einer Habichtsnase und einem Paar schöner, unruhiger Augen, den sie in grober, ärmlicher Kleidung, in baumwollenen Strümpfen und schweren Nagelschuhen in einer einfachen Wohnung antrafen Es war der berühmte Lamennais

Die klerikalen und konservativen Ideen der beiden änderten sich langsam im Lauf der Jahre, welche der Julirevolution vorausgingen. Eines Abends im September 1830 kam Lamennais zu Hugo und traf ihn schreibend. – Ich störe? sagte er. – Nein, aber was ich eben schreibe, wird Ihnen nicht gefallen. – Gleichviel, lassen Sie mich hören. – Hugo las ihm die folgenden Zeilen vor, die sich in seinem »Journa1 d'un révolutionaire de 1830« finden:

»Die Republik, die noch nicht reif ist, die aber in hundert Jahren ganz Europa umfassen wirdj bedeutet, daß die Gesellschaft ihr» eigner Souverän ist. Sie schützt sich selbst als Bürgerwehr, richtet sich selbst als Geschworenengericht, verwaltet sich selbst als Kommune, regiert sich selbst als Volksvertretung Die vier Glieder des Königtums: das stehende Heer, die Gerichte, die Büreaukratie und die vom König Erwählten sind für diese Republik nur vier hindernde Auswüchse, die schnell verwelken und sterben werden«

»Da ist ein Satz zu viel«, sagte Lamennais, »der, daß die Republik noch nicht reif ist. Sie versetzen sie in die Zukunft, ich meine, wir sollten sie sogleich haben.«

Wenige Jahre später war der Abfall Lamennais’ vom Papsttum eine vollendete Thatsache. Um zu zeigen, daß er mit dem Papst nicht aus Unglauben, sondern kraft einer neuen Ueberzeugung brach, gab er seinem berühmten Manifest den Titel: »Worte eines Gläubigen« (1838)

Es ist gesagt worden, daß seit Erfindung der Buchdruckerkunst kein Buch solches Aufsehen gemacht habe Es erschien in wenig Jahren in« hundert Auflagen, wurde in vielen Ländern nachgedruckt und in fast alle Sprachen übersetzt. Es war eine halb im alt|431|testamentarischen, halb im christlichen Stil gehaltene Verurteilung der Königsmacht in Europa, des Papstes und der Priester, derjenigen, die den Untergang Polens und die Knechtschaft Italiens herbeigeführt, und des eigennützigen Bourgeois-Regiments in Frankreich selbst. Es ist ein Werk echt priesterlicher Beredtsamkeit, ein Buch voller Pathos und arm an» Psychologie, das nur flucht und lobpreist, nur zwei Farben» Höllen-Schwar'z und Himmelreichs-Weiß zu seinen Schilderungen verwendet; aber die Wärme des Gefühls; die Reinheit und Schönheit des Gemüts haben dem Buche etwas von der geistigen Macht verliehen, die dem Autor innewohnte; es wirkt wie das Werk eines aus dem Grabe erstandenen Propheten des alten Judäa.

Im Jahre 1837 folgte »Le livre du peuple« in demselben Geiste geschrieben. Man warf den kühnen Abbe ins Gefängnis; aber von dem Gefängnisse aus sandte er ein Buch nach dem andern in die Welt hinaus-: »Une voix du prison«, »Du passé et de l'avenir du peuple«, »De l'esclavage moderne«, sämtlich in Saint-Pelagie verfaßt. Dann stirbt er – drei Jahre vor der Februarrevolution – von der heftigen Agitation aufgerieben.

Als Probe seines Stils führe ich einige Bruchstücke an:

»Laßt Euch nicht durch leere Worte betrügen. Viele werden versuchen, Euch zu überzeugen, daß Ihr wirklich frei seid, weil sie das Wort Freiheit auf ein Blatt Papier geschrieben und das Blatt , an den Straßenecken angeklebt haben. Aber die Freiheit ist nicht ein Plakat, das man an einer Ecke liest. Sie ist eine lebendige Macht, die wir in uns und um uns fühlen. Der Unterdrücker, der sich mit ihrem Namen deckt, ist der ärgste Unterdrücker, den es giebt. Er fügt Lüge zur Tyrannei und Entheiligung zum Unrecht; denn der Name der Freiheit ist heilig. Hütet Euch vor denen, die da sagen: Freiheit! Freiheit! und sie durch ihre Thaten unterdrücken!« […]

[…]

|432| »Der Bauer trägt die ganze Wucht des Tages, setzt sich dem Regen, der Sonne, dem Winde aus, um durch seine Arbeit die Ernte vorzubereiten, die im Spätherbst seine Scheune füllen soll.

Die Gerechtigkeit ist die Ernte der Völker.

Der Handwerker steht vor Tagesgrauen auf, zündet seine kleine Lampe an und plagt sich ohne Rast, um ein wenig Brot für sich und seine Kinder zu verdienen.

Die Gerechtigkeit ist das Brot der Völker.

Der Kaufmann scheut sich vor keiner Anstrengung, klagt über keine Mühe, nutzt seinen Körper ab und vergißt den Schlaf, um sich Reichtum zu sammeln.

Die Freiheit ist der Reichtum der Völker.

Der Seemann fährt über das Meer, setzt sich den Stürmen, den Klippen, der Kälte und der Hitze aus, um sich die Ruhe für seine alten Tage zu sichern.

Die Freiheit ist die Ruhe der Völker.

Der Soldat unterwirft sich den härtesten Entbehrungen, wacht und kämpft und giebt sein Blut für das, was er Ruhm nennt.

Die Freiheit ist der Ruhm der Völker.

Wenn es ein Volk giebt, das die Gerechtigkeit und Freiheit geringer schätzt als der Bauer seine Ernte, der Handwerker sein Brot, der Kaufmann seinen Reichtum und der Soldat seinen Ruhm, so bauet eine hohe Mauer um dieses Volk, damit nicht sein stinkender Atem die Luft in Europa verpeste.« […]

[…]

»Junger Soldat! wo gehst Du hin?

Jch gehe fort, um für die Gerechtigkeit, für die heilige Sache der Völker, für die ewigen Rechte des Menschengeschlechts, für die Freiheit gegen die Tyrannen zu kämpfen.

Mögen Deine Waffen gesegnet sein, junger Soldat!

Junger Soldat, wo gehst Du hin?

Ich gehe fort um die Schranken einzustürzen, welche die Völker |433| trennen und sie hindern sich gegenseitig in die Arme zu fallen als Brüder, die in liebevoller Eintracht leben sollten.

Mögen Deine Waffen gesegnet sein, junger Soldat!

Junger Soldat, wo gehst Du hin?

Ich gehe fort um den Gedanken, das Wort, das Gewissen von der Tyrannei der Menschen zu befreien.

Gesegnet, siebenfach gesegnet seien Deine Waffen, junger Soldat!«*)*

*) Paroles d’un Croyant. Kap. XX, XXXVI und XXXIX

Abstrakt und eintönig sind diese Aussprüche und Refrains ganz gewiß, aber von jener Beredtsamkeit geprägt, die einen ungeheuren Eindruck auf den gemeinen Mann macht. Man sieht, daß diesen revolutionären Stimmungsausbrüchen wenig fehlt, um Poesie zu sein. Sie wurden Poesie bei Victor Hugo.

Liest man Hugo’s Gedichte aus den vierziger Jahren, so fühlt man, wie er mit seinem Dichterohr den Gang und den dumpfen Lärm der Revolution unter der Erde hört und es ahnt, daß sie ihren Krater in Paris öffnen werde. Schon in der Vorrede zu den »Feuilles d’automne« erklingt seine Klage über England, das Irland zu einem Kirchhof umwandle, über die Fürsten, die Jtalien zu einem Gefängnis für Galeerensklaven machen, über den Czar, der Sibirien mit den Polen bevölkere. Schon dort spricht er mit Hinblick auf den Saint-Simonismus von den alten Religionen, die sich häuten, und von den neuen, die ihre halbwegs gesunden, halbwegs unwahren Formeln hervorstammeln. Und von jenen Tagen ab tritt er in all seinen Werken auf als Fürsprecher der Völkerfreiheit, der Demokratie und der Religion der Humanität. Er hatte als Dramatiker mit einer Revolution der Kunstform angefangen Bald jedoch begann er damit, das Drama im Dienste seiner Ideen zu verwenden, ganz wie in dem vorigen Jahrhundert Voltaire die Tragödie zum Organ der seinigen umgebildet hatte. Eines |434| seiner Dramen (»Le Roi s’amuse«) ist ein Angriff auf die willkürliche Königsmacht, gegen den brutalsten der gekrönten Wüstlinge Frankreichs, Franz 1., gerichtet, ein zweites (»Angelo«), dessen Vorrede rein Saint-Simonistisch ist, stellt die Frau innerhalb und die Frau außerhalb der Gesellschaft gegen einander auf, giebt der herumziehenden Schauspielerin Tugenden, die der vornehmen Dame fehlen, und erteilt jeder Von ihnen ihre Idealität, ein drittes (Ruy Blas) ist die symbolische Thronbesteigung des niedrigsten Standes. In Moliere’s »Les Précieuses ridicules« wurde der Lakai noch als ein Tier oder eine Sache behandelt; dort wurde er, so gescheut er auch war, mit Stockschlägen regaliert, selbst wo er in seiner Verkleidung nur seinem Herrn gehorcht hatte; kurz vor der großen Revolution hatte Scapin sich sodann in Figaro verwandelt, der noch in der Livree die feinen Herrschaften nach seiner Pfeife tanzen läßt; in »Ruy Blas« hat der Bediente, das heißt das Volk, seine Livree abgeworfen, er-« greift die Macht und regiert. –– Wenn man auch für die großen Schwächen dieser Dramen ein offenes Augeshat, kann es Einen doch erfreuen, den Hauch großer Ideen einzuatmen, der sie durchweht.

Hugo ist von Natur ein so dogmatischer Geist, daß jeder Ideenkreis, in den er im Verlauf der Jahre eingetreten ist, sich in der Regel für ihn in ein System von Doktrinen kristallisiert hat Seinem Gesetzbuch der Humanität gehört seit fünfzig Jahren die Abschaffung der Todesstrafe an. Er hat sie mit dichterischen Waffen in »Le dernier jour d'un condamné« und »Claude Gueux« bekämpft; er hat ihre Berechtigung praktisch in zahlreichen Briefen und Manifesten bestritten; er hat persönlich für das Leben der zum Tode Verurteilten gebetenzer hat ihre Sache vor französischen Königen und fremden Geschwornengerichten plädiert. Sind die Ansichten auch noch sehr geteilt darüber, ob der rechte Zeitpunkt für Aufhebung der Bestrafung gemeiner Mörder mit dem Tode eingetreten ist, so kann doch das Streben Hugos, das Leben politischer Verbrecher zu erretten, auf ungeteilte Sympathie An|435|spruch machen. Mehr als ein Menschenleben hat er gerettet. Um nur das bekannteste Beispiel zu nennen, er war es, der durch seine in vier rührenden Verszeilen an Ludwig Philipp gerichtete Fürbitte den edelsten Revolutionär des Jahrhunderts, Armand Barbes, von dem Schafott befreite. Eine solche Handlung wiegt Viel weitschweifigen Pathos und etwas Doktrinarismus in seinen menschenfreundlichen Bestrebungen reichlich auf.

Den schönsten und allein angemessenen Ausdruck für das Ideenleben des größten französischen Lyrikers muß man jedoch selbstverständlich in seiner lyrischen Poesie suchen. Alles was er während seiner ersten Periode in dem dramatischen Fach, während seiner zweiten – die außerhalb unseres Rahmens liegt – im Romanfach hervorgebracht hat, ist als wenig bedeutend anzusehen im Vergleich mit den unsterblichen Poesien aus den dreißiger und vierziger Jahren, die er in den zwei Bänden Gedichte gesammelt hat, welche den Titel »Les C«0ntemplations« führen. Hier haben denn auch sein Fortschrittsglaube, seine politische Überzeugung, seine sozialen Hoffnungen, sein religiöses Gefühlsleben die Kunstform gesunden, welche die einzige ist, die für dieselben paßt. Diese Kunstform läßt sich nicht auflösen oder»umschreiben, man muß sich im Original an ihr erfreuen.

Mit voller Wahrheit konnte Hugo in dieser Gedichtsammlung sagen: »Ich habe in Büchern, durch Schauspiele, in Prosa und in Versen die Sache der Kleinen und der Unglücklichen verfochten; ich habe Milde gepredigt gegen alle die, welche die Menschheit verdammt; ich habe für das Weib und das Kind Rechte gefordert; ich habe gerufen: Gebt ihnen Kenntnisse, Worte, Schrift! ich wollte das Gefängnis durch die Schule aufsaugen.«*)*

*)
Marquis depuis vingt ans je n’ai comme aujourd’hui
Qu’une idée en esprit: servir la cause humaine.
La vie est une cour d’assises; on amène
Les faibles à la barre accouplés aux pervers.
J’ai dans le livre, avec le drame, en prose, en vers
Plaidé pour les petits et pour les misérables,
suppliant les heureux et les inexorables;
J'ai réhabilité le buffon, l'histrion
Tous les damnés humains, Triboulet, Marion,
Le 1aquais, le forçat et la prostituée.
[…]
J'ai réclamé des droits pour la femme et l’enfant
J'ai tâché d’éclairer 1’homme en le rechauffant.
J’allais criant: Science! écriture! parole!
Je voulais résorber le bagne dans l’éco1e.

|436| Aber, klagt er, immer begegnete mir das fürchterliche Gestern, welches das Morgen verschlingen will. Kaum hat man die schwärzesten der Schrecken hinter sichs kaum ist man einen Schritt vorwärts gekommen, nicht von dem Schlechten sondern von dem Ärgsten hinweg, da kehrt die alte Zeit zurück, beißt uns in die Hacken und ruft ihr »steht still!« uns zu.

Doch man stand nicht still. Das Jahr 1848 lief mit seinem lang rollenden, reinigenden Donner über Europa. Es kam, das Jahr 1848, das Jahr des Erdbebens, der Völkerbefreiung, der heldenmütigen Kämpfe, und ach! der romantischen Naivetäten Dichter und Schwärmer anstatt der Staatsmänner am Ruder Frankreichs: Saint-Simonistische, neuchristliche, poetische Ideen anstatt politischer Gedanken in Frankreichs Rat! Wie vielsagend ist nicht ein solch kleiner Zug, wie der, daß eine der ersten Handlungen der provisorischen Regierung war, auf Vorschlag Lamartine’s die Negersklaverei für aufgehoben zu erklären! In die Revolution von 1848 mündet der Ideenstrom des romantischen Frankreichs.

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