Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[398]| XXXIII

Während »Antony« der romantische Paroxismus war, brachte »Chatterton«, der einzige große dramatische Erfolg Alfred de Vignys die romantische Elegie auf die Bühne. Diese beiden Lieblingsdramen der Generation von 1880 entsprachen einander, wie der Kultus des Genies demjenigen der Leidenschaft, wie das Mitgefühl mit dem Leidenden der Begeisterung für den Handelnden entspricht, oder fassen wir es tiefer: wie im Doppelgesicht des Romantismus die germanische Seite der romanischen entspricht.

Alfred de Vigny (geboren 1799) hatte mit seinem tüchtigen historischen Drama »La maréchale d’Ancre« (ausgeführt 1884) keinen Beifall errungen. Dies lag wohl darin, daß er hier im wesentlichen dieselben Typen behandelte, mit welchen das Publikum schon durch andere romantisch-historische Trauerspiele vertraut war. Der Liebhaber Borgia ist z. B. ganz von derselben Art wie diejenigen Hugo’s, ja nicht einmal sonderlich verschieden von dem Liebhaber bei Dumas, trotz des scharf entgegengesetzten Naturells beider Dichter. Man gewahrt hier deutlich, wie energisch eine Schule sogar den verschiedenartigsten Individualitäten ihr Gepräge auszudrücken vermag.*)*

*) Man lese nur in dem Personenverzeichnis die für den Schauspieler bestimmte Charakteristik zu Borgia. Hier findet man die Lieblingsbe: zeichnungen des Romantismus wie in einem Signalement vereinigt, Und mit Leichtigkeit erkennt man, wie dasselbe in allem wesentlichen auch auf Victor Hugo’s junge Helden, ja selbst auf Antony paßt: Montagnard brusque et bon. Vindicatif et animé par la vendetta, comme par une seconde âme; conduit par elle comme par la destinée. Caractère vigoureux, triste, et profondément sensib1e. Haïssant et aimant avee violence. Sauvage par nature, et civilisé comme malgré lui par la cour et la politesse de son temps.

|399| »Chatterton« (aufgeführt 1835 ist weit charakteristischer für de Vigny. Das Stück enthält eine Idee, welche er schon zwei Jahre früher in seinem Novellencyklus »Stello« in drei verschiededenen Variationen behandelt hatte: die Idee von der unglücklichen, verlassenen Stellung des wahren Dichters in der Gesellschaft. de Vigny ging von der romantischen Vorstellung aus, den Dichter als ein höheres Wesen, ja als das erhabenste auf Erden zu betrachten – eine Vorstellung, von welcher auch Deutschlands Romantiker tief durchdrungen waren. So erfiillte ihn des Dichters Los mit Mitleid, besonders das des jungen Dichters, der als Jüngling die Hülfe und die Anerkennung am meisten ersehnt, aber selten Herzen findet, die ihn verstehen, noch weniger Beschützer, die ihm ein sorgenloses Leben bereiten. Das Schöne an de Vigny’s immer wiederkehrender Aufforderung, dem Dichter Brot zu geben, ist, daß er nicht seine eigene Sache verficht; denn er ftammte aus altem gräflichen Geschlecht und war von seiner frühesten Jugend an unabhängig geftellt. Nach seiner Auffassung ist der Dichter ein armer Kranker, der ganz in der Gewalt seiner Einbildungskraft steht. Er ist »unfähig zu Allem, was nicht mit feiner göttlichen Sendung zusammenhängt«, namentlich nicht imstande, Geld zu verdienen; er könnte sicher als Schriftsteller feinen Unterhalt erwerben, aber wenn er das thut, tötet er häufig das Beste in sich, entwickelt die Urteilskraft auf Kosten der Phantasie – und der himmlische Funke in seinem Innern erlischt. Man darf also nicht zugeben, daß der Gottgesandte sich zu irdischer Arbeit herabläßt; sein Haupt ist ein Vulkan, von welchem nur »harmonische Lava« ausftrömen kann, wenn er in der Lage ist, nach Belieben müßig zu gehen.*)*

*) Man sehe die typische Einleitung zu »Chatterton«: Dernière nuit de travail, du 29 an 30 juin 1834.

|400| Wie der moderne Leser sieht,. liegt dieser Anschauung etwas Wahres, aber noch viel mehr Überspanntes zu Grunde. Das Drama, welches sich darauf aufbaut und Ströme von Thränen hervorgerufen hat, appelliert so stark ans Mitleid, daß es die tragische Wirkung verfehlt. Es nimmt allzu lyrisch Partei für seinen Helden, als daß ihm jenes innereGleichgewicht innewohnen könnte, ohne welches ein Drama haltle wird. Chatterton und die junge Quäkerin, welche er bewundert, haben in diesem Stück allen geistigen Adel, alle Seelengröße für sichs allein gepachtet; rings um sie herrscht nur Prosa, Herzenskälte, Rohheit und Dummheit Die Handlung zeigt uns, wie ein spiritualistisches Genie von der materialistischen Umgebung unterdrückt wird; diese Lebensauffassung nähert sich jener, welche wir in Deutschland bei Novalis, in Dänemark bei Andersen Und Ingemann finden; für Dichter dieser Art hat Goethe seinen »Tasso« vergebens geschrieben. Unsre Zeit ist dieser Künstlerdramen müde, welche Oehlenschläger in Dänemark mit seinem » Eorreggio« einführte, und die in Deutschland durch Holtei’s »Lorbeerbaum und Bettelstab« und andre ähnliche Schauspiele vertreten sind. Wir können nicht mehr mit-Chatterton fühlen, wenn er, der »geschaffen, in den Sternen den Weg zu lesen, welchen der Finger des Herrn uns zeigt,« lieber den Opiumbecher ergreift, als daß er eine unpoetische Stellung einnähme, die ihm 100 Pfund jährlich einbringen würde. Auch in diesem Falle ruft das, was vor fünfzig ·Jahren alle Herzen rührte, jetzt höchstens ein Lächeln oder ein A selzucken hervor. –

Der Romantismus war in seinem Kern zu lyrisch, um dramatische-- Werke von bleibendemWert hervorzubringen

Das zeigt sich vielleicht am deutlichsten, wenn man einen Blick auf die Schauspiele von dessen größtem Lyriker wirft. Victor Hugo’s Dramen geben in mancher Beziehung eine Parallele zu Oehlenschlägers Tragödien. Sowohl bei Hugo, wie bei Oehlenschläger werden die Gestalten nur im Umriß gezeichnet Es fehlt |401| denselben bei beiden vieles, um für ganze, wirkliche Menschencharaktere gelten zu können; aber sie werden getragen von einer mächtigen Lyrik und einem begeisterten Pathos. Gewiß stehen bei Hugo die Personen dem realen Leben etwas näher, soweit Thaten, gleich den in seinen Dramen behandelten, in Frankreich vor nicht langer Zeit geschehen waren. Hernani erinnert an die Freischarenfiihrer, welche in der Vendee der Staatsordnung Trotz boten; Gilbert, der sich zum Schaffot meldet, um seine Geliebte zu rächen, thut nicht mehr, als manches von den edlen Opfern der Guillotine gethan; und wenn Ruh Blas vom Lakaien bis zum Staatsminister emporsteigt, so ist der Sprung kaum größer als der, welchen Rousseau aus derselben niedrigen Stellung zum berühmten Schriftsteller machte. Aber das alles ist nicht von Belang; denn Hugo’s Vorliebe für das Ueberschwängliche, ja Ungeheure drängt alles in den Hintergrund, was uns an Parallelen aus der Wirklichkeit erinnern könnte. Er bringt nur zu häufig Ungeheuerlichkeiten hervor, welche ihmselbst zwar erhaben, uns Andern aber abschreckend vorkommen. Seine Anlage zur lyrischen Exaltation war so stark, daß das, was ihm als groß galt, uns als ungeheuer erscheint.

Seine Auffassung des menschlichen Wesens ist also auch in seinen Schauspielen vollständig lyrisch; sie erinnert in allem wesentlichen an die Psychologie seines im übrigen so verschieden angelegten Rivalen, des Lyrikers Lamartine. Der Unterschied ist nur der: Lamartine mit seinem unmittelbar harmonischen Wesen schildert gerne eine vollkommen reine und liebliche Natur, an welche plötzlich Versuchungen herantreten, denen sie einen Augenblick erliegt; aber diese eine schwache Stunde sühnt eine lange Zeit der Reue und Buße (Jocelyn, Cedar in »La Chute d’un ange«). Hugo hingegen behandelt in seinen Dramen mit Vorliebe die Menschenseele, welche, entwürdigt durch schlechte Leidenschaften, durch Elend und Demütigungen aller Art, durch Laster, Knechtschast, Gebrechlichkeit, |402| dennoch einen Funken in sich bewahrt hat, der bei gegebenem Anlaß zum Guten angefacht wird, und welche alsdann, von besseren Regungen erfüllt, gegen die schreckliche Vergangenheit, die sie abgeschworen, ankämpft. Die Seele strebt empor zu dem Schönen, sie hat sogar Verständnis für die höchste Zartheit und Anmut, aber sie fühlt sichs selbst unwürdig der edlen Gefühle, die sich in ihr regen; sie kann sich nicht aufschwingen zu jenen unbekannten Gefilden – erschöpft und überwunden sinkt sie in ihren früheren entwürdigenden Zustand zurück.

Ein paar Beispiele werden dies bei Hugo konstante Verhältnis erhellen: Triboulet (»Le roi s’amuse«) wurde dadurch verderbt, daß er teils den Gegenstand, teils das gewissenlose Organ des Spottes abgab. Er liebt seine Tochter mit reinster väterlicher Zärtlichkeit «- da wird sie ihm genommen, und er fällt dem Haß und der Rachgier anheim. – Marion (»Marion Delorme«) ist eine Courtisane, die sich hundertmal verkauft hat; sie wird von Liebe zu einem kühnen jungen Mann ergriffen, und dies Gefühl bringt eine tiefe Läuterung in ihr hervor. Doch als man Didier zum Tode verurteilt hat, wird sie in der Schreckensstunde von neuem Marion. Sie giebt sich dem Richter hin, um den Geliebten zu retten, nicht ahnend, daß Didier weit lieber sterben würde, als sich auf diese Weise gerettet zu sehen. – Lucretia Borgia ist in Schuld gezeugt, und hat in lauter Verbrechen gelebt. Aber diese« ausschweifende Giftmischerin hat einen Sohn, den sie liebt; für einen Blick von ihm ist sie bereit, ihr ganzes vergangenes Leben aufzugeben. Doch man kränkt sie tödlich, und in ihrem Zorn greift sie zu dem alten Mittel; sie ladet ihre Feinde ein, reicht ihnen Gift und tötet gegen ihren Willen den eigenen Sohn zugleich mit jenen. – Ruy Blas hat, durch Armut dazu gezwungen, bei einem Edelmann in Dienst treten müssen. Die Liebe einer Königin macht den Lakaien – zum Minister. Er ist dem Posten gewachsen, führt große, schöne Pläne aus und ist nahe daran, der Retter seines Vaterlandes zu |403| werden. Doch die Vergangenheit erhebt sich gegen ihn, und da er seine Hoffnungen zerschellen sieht, rächt er sich als Der, welcher er gewesen« Er verweigert es, sich mit seinem Herrn in einen Zweikampf einzulassen, entreißt ihm den Degen und tötet den Wehrlosen damit.*)*

*) Vergleiche Madame de Girardin: Lettres parisiennes. II. p. 31.

Es ist, wie man sieht, immer eine und dieselbe Auffassung des Tragischen, welche hier zu Grunde liegt. Die Hauptsache in allen diesen Dramen ist für Hugo der Born des lyrischen Pathos, welcher quillt, sobald die erniedrigte Menschenseele von einer edlen Leidenschaft aus dem Schlamm gezogen wird, der Hymnus des Gefühls, unter dessen Klängen die schuldbeladene Seele sich reinigt.

Hugo hat in einem seiner berühmtesten Gedichte (Les Chants du Crépuscule XXXII) ein Gleichnis vorgeführt, das einem in den Sinn kommt, wenn man sich in diese Dramen vertieft. Hoch im Kirchturm, sagt er, hängt eine alte Glocke; anfangs war ihr Metall blank und rein; nur das Wort Gott stand darauf, mit einer Krone darunter. Doch der Turm wurde viel besucht, und jeder, der erschien, kratzte – der eine mit einem stumper Messer, der andere mit einem rostigen Nagel – bald seinen profanen Namen, bald ein gemeines Wort, bald eine Dummheit, bald eine Albernheit in das Erz der Glocke. Staub und Spinngewebe bedecken sie nun, der Rost hat sich besudelnd und zerstörend in die Ritzen gelegt. Aber was thut das der Glocke! Selbst wenn alles schläft, durchs Dunkel der Nacht seufzt die Glocke, wie der Vulkan allzeit raucht; ein klagendes Gebet findet den Weg durch das Erz. – Auch in meine Seele, schließt er, die von Anfang an nur das Gepräge ihres edlen Ursprunges trug, haben flüchtige Gäste, die Leidenschaften, profane Namen eingeritzt und fast den göttlichen Stempel vermischt Aber das thut meiner Seele so wenig, wie es der Glocke schadet. Wenn sie in Schwingung kommt, wenn eine unsichtbare Hand sie berührt und ihr befiehlt: Singe, dann tönt |404| plötzlich aus des Erzes bebendem Innern durch die befleckte Oberfläche der mächtige, ergreifende Klang der Hymne – und Staub, Rost, Narben, Alles muß mitklingen in der großen Harmonie.

Obgleich Hugo hier nur den Zustand seiner eigenen Dichterseele schildern wollte, wenn sie sang, hat er mehr gethan; er hat in einem Sinnbild treffend die Lyrik illustriert, welche den unglücklichen, schuldvollen Geistern entströmt, die seinen Dramen Interesse verleihen.

Doch überströmende Lyrik und volltönendes Pathos sind keine ausreichenden Elemente zur Ausführung eines dramatischen Baues. Dieser erfordert ein tiefes Fundament von Vernunft und von Gleichmaß der Seele, oder in Ermangelung dessen doch wenigstens eine Grundmauer von gesundem Verstand und sicherem Geschmack.

Dies aber fehlte Hugo, und unwillkürlich traten seine Mängel als Dramatiker im Laufe der Jahre immer mehr hervor. Es ging ihm wie so vielen anderen Künstlern: was von Anfang an Stil bei ihm war, wurde nach und nach zur Manier. Bald war er auf dem Wege, gleichsam nur sein eigner bester Schüler zu werden; und er endete als Theaterdichter damit, eine Selbstparodie zu liefern – die stärkste und gefährlichste Art von Parodie, die es giebt.

Der Sinn für Komik ging ihm stets ab; er war immer geneigt, in dem Kolossalen das Erhabene zu sehen. In einem Grade wie nie zuvor gab er sich dieser Eigentümlichkeit hin, als er »Les Burgraves« schrieb. Schon beim Durchlefen des Personenverzeichnifses muß man lächeln: Job, Burggraf von Heppenheff, 100 Jahre alt. Magnus, dessen Sohn, 80 Jahre alt. Hatto, Magnus’ Sohn, 60 Jahre alt. Gorlois, Hatto’s Sohn, 30 Jahre alt. Ich entsinne mich einer gleichzeitigen Pariser Karikatur der Burggraer, worauf man sie sämtlich, vom Großvater bis herab zum Urenkel in einer Reihe dargestellt sieht, in gleichmäßig abnehmender Größe und mit gleichmäßig spärlicher werdendem Bart.

Der hundertjährige Burggraf ist der rührigste von ihnen allen; er |405| repräsentiert die gute alte Zeit. Wenn er seinen 80jährigen Sohn anspricht, sagt er: »Junger Menschl« und Hugo lächelt dabei nicht. Alle diese alten Herren deklamieren um die Wette mit einem Bettler von 92 Jahren, der, wie sich herausstellt, kein geringerer ist als Friedrich Barbarossa, welcher 20 Jahre hindurch vor der Welt verborgen lebte, aber an dem ältesten Burggrafen, der als Jüngling seinem Leben nachgestellt, Rache nehmen will. Es wimmelt von Unwahrscheinlichkeiten und Absurditäten. Um eine Wiedererkennungsszene herbeizuführen, läßt Hugo z. B. einen Krieger in der Schlacht mit einem glühendem Eisen kämpfen; er drückt damit seinem Gegner, den er im Dunkel nur undeutlich erblicken kann, ein Brandmal auf, um den so Gezeichneten bei Gelegenheit wieder zu erkennen.

Als diese gigantische Mißgeburt einer überspannten Phantasie im Jahre 1848 auf die Bühne kam, machte sie Fiasko. Gleich bei der ersten Ausführung begann man, während des Spieles zu pfeifen. Einer von Hugo’s Getreuen eilte zu ihm und teilte ihm das Geschehene mit. Hugo, gleich Napoleon gewohnt, stets auf seine Garde bauen zu können, antwortete wie gewöhnlich: »Schafft nur einige junge Leute herbei.« Es wird erzählt, daß der Andere verzagt und gesenkten Blickes antwortete: »Es giebt keine jungen Leute mehr.« Die Generation, an welche der Romantismus dreizehn Jahre früher appelliert hatte, war nicht mehr jung, und, was schlimmer, sie war aufgebraucht; mehr als einer von ihren Dichtern hatte zu große Wechsel auf sie gezogen.

Die Reaktion war unvermeidlich, und noch in demselben Jahre trat sie ein. Sie fand ihren Dichter und sie fand ihre Muse.

Ein junger, unbekannter, grundbraver Mann, nicht mit starker Phantasie begabt, aber ausgestattet mit Seelenadel, Ernst, Zartgefühl Und Geschmack, reiste von der Provinzialstadt, wo er aufgewachsen war, nach Paris, ein Manuskript in der Tasche. Sein Name war Frangois Ponsard und der Titel des Manuscriptes »Lucrece«. Es war eine Tragödie, deren Stoff dem Altertum ent|406|nommen war, es war die alte Sage von Lucretias Keuschheit und Tod. Der Stil war nüchtern und streng; er erinnerte an denjenigen Racine’s. Man war der Diktion der Romantik müde; Wenn Hugo schrieb: »Die Töne rieselten aus der Orgel wie das Wasser aus einem Schwamm«, oder »Das Tafeltuch war das Leichenlaken des bleichen Kummers-« oder »Das alte Weib ging mit gebeugtem und langsamem Rücken«, so hatte darüber mancher ruhige Bürger schon längst das Haupt geschüttelt. Aber es war nun einmal kein ebenbürtiger Rival auf dem Platze. Hier fand sich einer. Auf den ersten Blick erschien Ponsards Stück wie eine Fortsetzung der alten klassischen Tragödie. In der ersten Begeisterung sah man nicht sogleich, wie modern dieser antike Stoff behandelt war, wie viel Ponsard von den Romantikern gelernt hatte, wie tief er Hugo verpflichtet war für das warme Kolorit seines Dramas, und wie schwach die Originalität des neu Erscheinenden in Wirklichkeit war.

Man merkte nur, dies Drama war gesund und einfach. Man sah, das war Lukretia – nicht Hugo’s schreckliche Lukretia, jenes Ungeheuer von Blutdurst und Sinnlichkeit, nein, hier erschien die altrömische Lukretia, das Symbol der Keuschheit und der weiblichen Reinheit. Sie war die Poesie der Ehe, der Familie, der Häuslichkeit, wie Antony und seine Geistesverwandten die Moral der Find-« linge und die brutale Wildheit vertraten Alles, was in Frankreich klassisch und katholisch war, Jeder, der in der Schweiz eine protestantisch-gläubige Feder führen konnte, sang Lobpsalmen. Selbst der kritische Vinet stimmte mit ein in das große Halleluja. Er gerieth in Ekstase über Ponsards Stil: »Dieser Dichter spinnt Gold wie seine Lukretia die Wolle« u. s. w.

Am 7. März 1843 waren die Burggrafen durchgefallen, am 22. April desselben Jahres wurde»LuorEI-ce« unter stürmischem Beifall zum ersten Male aufgeführt So enge hat die Geschichte die szenische Niederlage des Romantismus und den kurzwährenden Triumph von »L’Ecole du bon sens« zusammengekoppelt. Der ehrliche Ponsard |407| mußte sich einbilden, wenn er seinen Kritikern glaubte, Janin und den Anderen – nur Théophile Gautier und Théophile Dondey protestierten – sein Ruhm stehe nun fest begründet für alle Zeiten.

Mit ihrem Dichter hatte die klassische Reaktion auch ihre Darstellerin gefunden. Im Jahre 1838 debütierte im Théâtre français ein junges, ganz ungebildetes Kind, ein Judenmädchen, welches auf den Straßen und in den Cafes zu seiner Harfe gesungen hatte – und in diesem geringen Mädchen lebte die Muse.

Rachel betrat die Bühne. Bald ergab es sich, daß dieses junge theatralische Genie, das größte, welches Frankreich je gesehen, eine entschiedene Antipathie gegen die Rollen der romantischen Dramen hatte. Das alte, klassische Repertoire dagegen faßte Rachel mit solcher Leidenschaft und solchem Ernst auf, daß sie – was Niemand für möglich gehalten hätte – jenen alten Tragödien ihre Anziehungskraft wieder gab, eben den Tragödien, welche die romantische Schule mit Spott und Hohn vom Theater vertrieben hatte. Was half es, daß Gautier die Hände rang! Iphigenia, Merope, Emilia, Chimene, Phädra wurden von neuem in Szene gesetzt, und durch Rachel mit solchem Adel Und solcher Wahrheit ausgeschmückt, daß das leicht bewegliche Publikum bisweilen von einer wahren Wut gegen diejenigen ergriffen wurde, welche gewagt hatten, sich über dies Nationalheiligtum spöttisch zu äußern. Eine Nation freut sich immer, wenn sie inne wird, daß sie nicht mit Unrecht ein paar Jahrhunderte hindurch zu ihren berühmten Männern und deren Werken voll Stolz emporgesehen.

Rachel hatte zuerst die Titelrolle von »Lucrèce« zurückgewiesen, obwohl dieselbe für sie geschrieben war. Als aber das Stück im Odeon Glück gemacht, übernahm sie dieselbe doch. Ein Augenzeuge hat mir die Stimmung, welche im Theater herrschte, als Rachel zum ersten Male die Lucretia spielte, mit folgenden Worten geschildert: »Alles saß in atemloser Erwartung, als der Vorhang aufgehen sollte. Er hob sich – und wir sahen Rachel als Lukretia |408| am Rocken mitten unter ihren Mägden sitzen. Schon vorher war es still gewesen; aber als sie nun das Haupt erhob und die Lippen öffnete, um die ersten Worte an ihre Sklavin zu richten: Leise-tax Laodicel herrschte eine solche Stille, daß wir die Fruchthändlerinnen draußen aus dem Markte ihre Apfelsinen seilbieten hörten«

In der Begeisterung für Rachel übersah man, daß die klassische Formel nicht dadurch wieder lebendig wurde, daß ein vereinzeltes Genie eine Zeitlang genialen Werken aus der Vorzeit neues Leben einhauchte; in der Freude über Ponsard mangelte dem Publikum der Blick dafür, wie vorübergehend dessen Triumph sein mußte. L’Ecole du bon sens entwickelte sich, wie schon die Benennung warnend andeutet, niemals zu einer lebenskräftigen poetischen Schule. Ponsard selbst war ein Talent zweiten Ranges; und sein begabter Nachfolger Emile Augier, der ihm seine Poesieen zueignete, und dessen Jugenddramen in verwandtem Geiste geschrieben sind, verließ mit den Jahren jenen nüchternen Stil.*)*

*) Augiers »Gabrielle« ist wohl das schönste Schauspiel, das L’ecole du bon sens hervorgebracht. Seine Dramen »La Jeunesse« und »La Pierre de touche« sind augenscheinlich durch Ponsards »L’honneur et l’argent« hervorgerufen.
Hat die Schule bei so rühmlichem Streben auch die höhnischen Angrisfe nicht verdient, zu deren Gegenstand sie seitens einiger unversöhnlicher jüngerer Romantiker wie Vacquerie und Theodore de Banville gemacht wurde, so ist doch ihre Bedeutung einzig die, daß sie den Zeitpunkt bezeichnet, wo das romantische Drama sich selbst überlebt hatte.

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