Das größte zusammenhängende Werk, welches Sainte-Beuve geschrieben, ist »Port-Royal« (1840––59). Es steht in seiner Art einzig da. Bei der Unlust Sainte-Beuve’s sich auf den großen Heerstraßen der Forschung zu bewegen, und bei seinem schon frühzeitig hervortretenden romantischen Hang zu religiöser Schwärmerei, wählte er sich die Geschichte des Jansenismus in Frankreich zu seinem Hauptthema. Der Jansenismus war eine begeisterte, regsame und feurige Form der Religiosität; obschon auf dem Grund des Katholizismus fußend, hatte er doch eine persönliche, das heißt ketzerische Leidenschaft für Wahrheit. Während seine Freimütigkeit die Vernunft anzieht, wirkt er zugleich auf das Mitgefühl durch den Heldenmut, womit er der Verfolgung und dem Zwang trotzte. Der Jansenismus und dessen Geschichte, die in »Port-Royal« dargestellt wird, erreichen beide ihren Höhepunkt in Pascal, dessen magere, kränkliche Erscheinung denselben repräsentiert gegenüber dem vollblütigen, gesünderen, begeisterten Deutschen, der im Nachbarlande mehr als ein Jahrhundert früher und mit glücklicherem Erfolg einen ähnlichen Kampf gegen Rom geführt.
Sainte-Beuve besaß alle Vorbedingungen, die Geschichte des Jansenismus zu schreiben. Er war kein Gläubiger, aber er war es gewesen, oder hatte doch gemeint, es zu sein. Eine Anschauung, in welcher wir selbst befangen sind, vermögen wir selten zu überblicken; eine solche, welche uns immer ganz fremd war, können wir nicht begreifen; am besten versteht man diejenige An|375|schauungsweise, welche man einmal gehegt hat und nun nicht mehr teilt. – Zweifelt man, ob Sainte-Beuve auch diese mittelalterlichen Gefühle, diesen Drang, die Welt zu fliehen, diesen Streit, den die zerknirschte Seele auskämpft, welche bald der Stimme der Natur lauscht, bald bei der ewigen Gnade Zuflucht sucht, verstehe; ob er auch richtig wisse, was für ein Geist sich regt bei diesen Predigten und theologischen Abhandlungen und was für Herzen unter diesen Dutzenden von Nonnengewändern pochen, welche Begeisterung, welche Andacht, welch Hoffen und Sehnen, welche mystische Schwärmerei und heilige Ekstase auf diesem eng begrenzten geweihten Boden sich entzündet – dann lese man nur die beiden ersten Bände durch bis zu dem Abschnitt über Pascal, für welchen das Verständnis ihm schon leichter wurde, weil seine Gestalt größer und bekannter ist. Man mache sich nur vertraut mit den beiden meisterhaft ausgeführten Porträts, die Sainte-Beuve uns von Francois de Sales und Saint-Cyran giebt, und beobachte, wie er aus mündlichen und brieflichen Äußerungen, aus ein paar Abhandlungen und Predigtstücken zwei Gestalten zu bilden vermocht hat, so naturgetreu und menschlich, daß man förmlich mit ihnen lebt. Überall fühlt man, daß Sainte-Beuve zuerst als Romanschriftsteller begonnen. Wie viele Szenen zwischen den schuldfreien Bewohnerinnen dieses Taubenschlages«, dieses Nonnenklosters, sind nicht so lebendig geschrieben wie in einem Roman! Und doch gebraucht Sainte-Beuve seine Phantasie nur um zu schildern, niemals um zu erfinden oder zu entstellen.
Ein Fehler des Werkes ist, daß die ersten Teile, welche die unterhaltendsten sind, historischen Stil vermissen lassen. Hier macht sich der frühere Belletrist in unangenehmer Weise fühlbar. Sainte-Beuve benützt Port-Royal nur als Ausgangspunkt. Das alte Kloster ist beinahe nichts weiter als das Kastell, von dem aus er einen Ausfall nach den andern unternimmt; er zieht Parallelen und weist Analogien auf, bald der Litteratur, |376| bald dem wirklichen Leben entnommen, lehrreich zwar, aber oft bei den Haaren herbeigezogen. So erörtert er im Vorbeigehen nicht nur Corneille, Racine, Molière, Vauvenargues, sondern sogar ganz moderne Schriftsteller wie Lamartine und George Sand. Die späteren Bände, wo die Darstellung mehr historisch und nüchterner ist, lassen hinwider die Anziehungskraft jener Episoden vermissen, und der Stoff ist, trotz der liebevollen Sorgfalt, womit er behandelt wird, etwas gar zu speziell, um auf die Länge zu interessieren. Weit höher als in diesem seinem angeblichen Hauptwerk steht Sainte-Veuve in der langen Reihe von Bänden, die unter dem Titel »Causeries du lundi« und »Nouveaux lundis« erschienen sind und die kürzeren Artikel aus der besten Periode seines Schriftstellertums enthalten. Diese Artikel werden schwerlich so bald in Vergessenheit geraten. Ulbach schrieb über dieselben gleich nach dem Tode Sainte-Beuve’s: »Ich weiß nicht, was die Zeit von der Litteratur, auf welche wir jetzt stolz sind, bewahren wird. Ein paar Gedichte von Lamartine und Victor Hugo, einige Romane von Balzac? Doch soviel ist gewiß, daß es unmöglich sein wird, Geschichte zu schreiben, ohne Sainte-Beuve hervorzusuchen und ihn von Anfang bis zu Ende durchzulesen.«
Sainte-Beuve hatte zwei verschiedene Manieren. Es war ihm in seiner Jugend, besonders durch das Studium des 16. Jahrhunderts, zur Gewohnheit geworden, den sprachlichen Ausdruck so sorgfältig abzuwägen und zu verfeinern, daß die Kritik seiner Ziererei berechtigt war, wenn auch nicht eine so gewaltsame und höhnische wie die, mit welcher Balzac, von Sainte-Beuve durch einige etwas spöttische Artikel gereizt, ihn überfiel. Diese Überfeinerung des Stils verlor sich indes, als Sainte-Beuve Journalist wurde. Littré sagte sehr treffend: »Es bleibt ihm, da er sich verpflichtet hat, wöchentlich ein Feuilleton zu liefern, keine Zeit mehr, seine Artikel zu verderben.« Es ist nicht leicht, diesen Stil, der, wie Stahl, zugleich scharf und geschmeidig ist, zu charakterisieren. Ein im Französischen nicht sehr erfahrener Leser wird ganz und gar nicht herausfinden, daß hier |377| etwas vorhanden ist, was man Stil nennen könnte. Die Sätze folgen, nicht gruppiert, unrhythmisch auf einander, nonchalant, wie die Zuaven marschieren. Nie ein pathetischer Satz, selten ein Ausruf, nur hie und da eine Apostrophe »o Dichter!« oder dergleichen. Die Rede fließt wie von einem Lufthauch sanft gekräuseltes Wasser. Aber der aufmerksame Leser wird entzückt von dem edeln Atticismus dieser Sprache. Der Ton ist nicht entschieden, sondern ruhig und leise skeptisch. Ich führe ein beliebig herausgegriffenes Beispiel an:
»Was also ist das Vorherrschende bei ihm, ist es die feste Grundlage, oder ist es die wogende? Du glaubst, es sei die wogende. Aber ist nicht unter dieser noch ein festeres Fundament? Du glaubst, es sei die feste. Aber ist unter dieser nicht noch ein wogender Grund?«
Bei wie vielen Persönlichkeiten sollte der Psychologe nicht so fragen, aber wie wenige verstehen, die Frage so sicher und fein zu stellen. Was man das Bizarre in seinem Stil genannt, ist nur das oft Überraschende, wie er das Bild anwendet, denn dieses selbst ist immer schlagend richtig. So schilderte er einmal einen berühmten, aber strengen Bußprediger aus dem 16. Jahrhundert und dessen wenig blumenreiche Art mit dem Zusatz, daß die Zeitgenossen ihn wegen seiner trockenen Strenge mit einem Dornbusch verglichen. Etwas später erzählt er von demselben Mann einen Zug edler und mächtiger Entrüstung und fügt alsdann bei: »Man hat ihn einen Dornbusch genannt und einen Busch ohne Blüten; man kann hinzufügen, daß er mitunter ein brennender Dornbusch war.« Will man hören, wie dieser biegsame Stil sich zu Spott und Satire formt? Sainte-Beuve schildert die Sprache, welche Nisard – eine Zeitlang sein Rivale in der Litteratur – gebraucht, und schaltet zwischen manches bittersüße Lob diesen kleinen Zug ein: »Ein Akademiker hat ihn kraftvoll gefunden; mehrere Gelehrten finden ihn graziös.« Von Cousin sagt er: »Es ist ein Hase mit einem Adlerblick.« Will man ein Beispiel von der Fähigkeit dieses |378| Stils zu charakterisieren, so lese man diesen Satz über Musset: »Das, wodurch er wirkt, sind nicht die Farbenschichten; er vergoldet ab und zu die Wirklichkeit, die er schildert, wie die Morgensonne das Stäubchen – und wie in einer göttlichen Transfiguration verwandelt sich ihr Bild vor unsern Augen« – Will man endlich eine Probe, wie dieser einfache, gleichmäßige Stil die Sprache der Entrüstung annimmt, so lese man folgendes Stück, das gleichzeitig den Mann schildert. Es ist hier die Rede von einem Werk, dem die Akademie in einer Plenarsitzung den Preis, welchen die ausgewählte Kommission von Kennern ihm zuerkannt, dennoch verweigert hatte, weil die Grundanschauung des Werkes im Streite stand mit der offiziellen eklektischen Staatsphilosophie. Saint-Beuve sagt hierüber: »Ja, es existiert wirklich eine sehr wenig zahlreiche Klasse von stillen, gemäßigten Philosophen, die von sehr wenigem leben, nicht intriguieren, einzig bestrebt gewissenhaft die Wahrheit zu suchen, indem sie ihren Geist kultivieren und sich von jeder anderen Leidenschaft fern halten; die, achtsam auf die allgemeinen Gesetze der Welt, sich damit beschäftigen, auf jeden Teil der Natur, in welchem die Weltseele und der Weltgedanke sich ihnen offenbart, zu lauschen und ihn zu erforschen; Männer, welche Stoiker in ihrem Herzen sind; welche sich bemühen, das Gute zu thun und so gut und bestimmt zu denken, wie sie es vermögen, ohne die anziehende Aussicht auf eine individuelle Belohnung in der Zukunft, zufrieden damit, sich in Übereinstimmung mit sich selbst und mit der allgemeinen Harmonie der Welt zu wissen. – Ist es passend, frage ich, diese Männer mit einem gehässigen Namen zu brandmarken, sie auf Grund dessen zu entfernen oder wenigstens sie mit Duldung zu demütigen, wie man überwiesene Verirrte und Schuldige begnadigt? Haben sie bei uns noch nicht ihren Platz und ihr Eckchen in der Sonne erobert, haben sie, o edle Eklektiker, die ich so gern mit ihnen vergleiche, Ihr, deren vollkommene moralische Uneigennützigkeit und unveränderliche Seelenhoheit unter Gottes Auge die |379| Welt kennt, haben sie nicht das Recht, wenigstens auf gleichem Fuße mit Euch zu stehen, kraft der Reinheit ihrer Lehre, der Rechtschaffenheit ihrer Absichten und der Schuldlosigkeit ihres Lebens? Das wäre der endliche, der würdige Fortschritt des neunzehnten Jahrhunderts, den ich vor meinem Tode noch erreicht sehen möchte!«
Sainte-Beuve’s Reform der Kritik war eine vielseitige.
Erstens gab er ihr Grund unter die Füße, nämlich den der Geschichte und der Naturwissenschaft. Die alte, sogenannte philosophische Kritik betrachtete das litterarische Aktenstück wie aus den Wolken gefallen, beurteilte es ohne Rücksicht auf den Verfasser und brachte es in der einen oder der anderen ästhetischen oder historischen Rubrik unter. Sainte-Beuve verfolgte das Werk bis zu seiner Entstehung; hinter dem Papier wußte er den Menschen zu entdecken. Er hat die Mit- und Nachwelt gelehrt, daß man nichts verstehe, keine Schrift und kein Aktenstück aus der Vergangenheit, so lange es nicht gelang, den Seelenzustand, aus dem es hervorging, zu begreifen und von der Persönlichkeit, von welcher es herrührt, sich ein Bild zu machen. Erst solcherweise bekommen die Dokumente Leben; erst dann wird die Geschichte von einem Geiste beseelt; erst so aufgefaßt, wird das Kunstwerk durchsichtig.
Sainte-Beuve’s herrschende Eigenschaft war die Wißbegier, und sie trat bei ihm in jener Form auf, welche man wissenschaftliche Neugierde nennen könnte. Sie leitete sein Leben, noch bevor sie sich frei in seiner Kritik äußerte. Anfänglich nimmt man sie nur wenig wahr; denn er begann angesichts seiner Zeitgenossen Chateaubriand, Lamartine, Hugo, de Vigny u. a. m. mit Lobpreisungen, welche er später bedeutend einschränken mußte. Auf diese Weise war seine Laufbahn entgegengesetzt der von Théophile Gautier, der so scharf begann, aber allmählich in eine Nachsicht verfiel, der jegliche Kraft fehlte. Aber Sainte-Beuve’s erste unkritische Lobsprüche entstammten gleichwohl seinem kritischen Trieb. Das übertriebene Lob rührte daher, daß er in seiner |380| Jugend denen, die er kritisirte, zu nahe stand; doch selbst dieser Umstand hatte seinen Grund in Sainte-Beuve’s Wißbegier. Ihn, der den Abstand zwischen den Büchern und dem Leben dunkel ahnte, noch eh er dieses kannte; der weniger als irgend ein anderer darauf angelegt war, das, wofür der Schriftsteller sich ausgab, oder das Bild, welches die Menge durch seine Schriften von ihm empfangen sollte, zu respektieren; ihn trieb seine Forscherlust, sein feiner psychologischer Sinn, sein Durst, die Dinge selbst und in der Nähe zu sehen, endlich seine innerste Neigung: das Offizielle und Gegebene zu umgehen und das Wahre, was verborgen ist, das Kleine, was Aufschluß giebt, zu suchen. So wurde er eigentlich unbewußt durch kritisches Mißtrauen getrieben, die persönliche Bekanntschaft von allen und jedem zu machen, während er in jugendlicher Unbefangenheit meinte, nur aus Begeisterung für die Ideen sich den Persönlichkeiten zu nähern, denen die Ideen entsprangen.
Hier ist gewöhnlich ein unendlich schwieriges Dilemma für den Kritiker. Nur von den Lebenden weiß er die Wahrheit; nur von den Toten kann er sie sagen. Schlimm nimmt es sich aber jedenfalls aus, wenn ein Todesfall plötzlich den Charakter der Kritik gänzlich verwandelt, wie es sich z. B. nach Chateaubriands Tod mit Sainte-Beuve’s Kritik verhielt. Sein erster Artikel über Chateaubriand ist lauter Weihrauch. Man fühlt, unter welchem sozialen Druck er geschrieben ist: wie Pietät und Respekt, Sympathie und Verhältnisse, die Furcht vor dem Zürnen schöner Augen, die Unmöglichkeit, eine so liebenswürdige Dame wie Madame Recamier durch Tadel ihres Hausgötzen zu kränken – wie alles dies zusammenwirkte, Sainte-Beuve’s erste Skizze über Chateaubriand zu einem rein bewundernden Referat zu machen. Sein großes Buch und seine späteren Artikel über denselben Schriftsteller sind dagegen von einer wahren Leidenschaft des Negierens beseelt, von dem Trieb, Masken abzureißen. Als Sainte-Beuve indessen auf seiner Höhe stand, |381| kann man wohl von ihm sagen, daß er die rechte Mitte innehielt. Er pflegt nicht mehr alles zu bewundern und aus edlen Motiven zu erklären, sucht aber auch nicht niedrige Beweggründe auf; er verherrlicht weder die Menschennatur, noch schwärzt er sie an. Er kennt sie; und sein Takt ist durch den Umgang mit den verschiedenartigsten Menschen, durch ununterbrochenes kritisches Studium, durch die französische Feinheit sowohl als durch den Pariser Schliff nach und nach so geschärft, daß er sie immer wiedererkennt. Wo er am höchsten steht, erinnert er durch die Universalität seines Geistes an Goethe. Mitunter ist man in Versuchung, ihn »weise« zu nennen; und es giebt wohl kaum einen andern Kritiker, der Einem dieses Wort nahe legte. Niemals läßt er sich durch die hergebrachten Vorstellungen, welche sich an einen Namen knüpfen, verblenden oder bestimmen, seien sie nun erhaben, rührend oder absprechend – nein, er studiert die Herkunft des Schriftstellers, seinen Gesundheitszustand, seine Vermögensverhältnisse, seinen ursprünglichen Ideenkreis, seine Entwickelungsgeschichte; er schnappt ein Bekenntnis auf, das jenem unwillkürlich entschlüpft ist, beweist, daß es durch andere Aussagen erhärtet wird, daß es die Handlungen des Mannes beleuchtet und erklärt; er schildert ihn in seinen edlen, besten Augenblicken, er überrumpelt ihn im Negligé; kraft seiner merkwürdigen »Fähigkeit, eine Nadel in einem Heuschober zu finden«, weiß er auszuspüren, was der Verstorbene in dem verborgensten Winkel seines Herzens bewahrte. Mit der ruhigen Überlegung eines Naturforschers wägt er die Neigung zu Gutem und Bösem gegeneinander ab und bringt solcherweise ein glaubwürdiges Porträt zuwege – oder vielmehr eine Reihe jedes an und für sich glaubwürdiger, aber einander widersprechender Porträts. Denn so groß Sainte-Beuve als Kritiker auch ist, geht er doch einer Hauptschwierigkeit, welche der Kritiker zu überwinden hat, immer aus dem Wege, und dies ist die folgende: Ein gewissenhafter Kritiker hat in der Regel das Werk, welches er erklären und beurteilen will, mehrmals |382| und auf verschiedenen Entwickelungsstufen gelesen; jedesmal wurde er durch etwas Anderes frappiert, und zuletzt sieht er das Werk von so vielen Standpunkten, daß es ihm unmöglich ist, ohne sich innerlich Gewalt anzuthun, eine einzige Stimmung und einen Gesichtspunkt festzuhalten. Handelt es sich nicht darum, ein einzelnes Werk zu erklären, sondern einen Schriftsteller von reicher Produktivität in seinen verschiedenen Entwickelungsstufen oder gar eine ganze Schule in der Litteratur darzustellen, so ist die Schwierigkeit eine noch größere, diese Mannigfaltigkeit von Eindrücken, welche man unter ganz verschiedenen Seelenzuständen empfing, in ein Gesammtbild zu konzentrieren. Ein Gebäude, das wir nur ein einziges Mal gesehen, halb sonnenbeglänzt, halb von einem mächtigen Schlagschatten bedeckt, bleibt in eben dieser Beleuchtung deutlich mit seinen Umrissen und mit seinem bestimmten Hintergrund in unserer Erinnerung stehen; ein Gebäude dagegen, das wir zu allen Tageszeiten sahen, im Zwielicht wie bei Mondenschein, und von allen Seiten, von den verschiedensten Punkten aus, das wir von innen wie von außen kennen; ein Haus in dem wir wohnten, und dessen Räume uns anfangs groß erschienen waren, dann kleiner, in dem, Maße wie wir selbst heranwuchsen – von solch’ einem Gebäude ist es schwer, ein richtiges Bild zu geben. Diese Schwierigkeit also umgeht Sainte-Beuve, indem er immer neue Schilderungen und Urteile von einem und demselben Gegegenstand giebt und es dem Leser überläßt, sich selbst seine Ansicht zu bilden. Mit Fug und Recht wählte er zum Motto für eine Reihenfolge seiner Schriften diese Worte Senac de Meilhans: »Nous sommes mobiles et nous jugeons des êtres mobiles.«
Das letzte Glied dieses Satzes, daß nämlich jedes menschliche Wesen, das wir beurteilen, sich in beständiger Entwickelung befinde, versteht Sainte-Beuve wie kein Anderer vor ihm. Jedesmal wechselt er mit dem Gegenstand auch den Ton, ja, seine Darstellungsweise wird oft eine andere, so oft ein und derselbe Gegenstand den Charakter verändert; zuletzt vermag sein geschmeidiger Geist alle einzelnen |383| Bewegungen der Menschenseele während ihrer Entwickelung ahmen.*)*
Seine Darstellungsform wird daher ebenso wandelbar wie sein Sujet. Unaufhörlich mischt er die Biographie mit der Kritik; er schachtelt so viele nüancierte Bedingungen und Parenthesen wie möglich in seine Perioden ein, bringt Sätze an, die einander mildern und abschwächen, wendet mit Vorliebe technische Wörter an, welche eine lange Schleppe von Ideen-Associationen nachziehen, und benützt gern unbestimmte Wendungen, die mehr andeuten, als sie sagen. Denn bewegt er sich auch durch’s Dunkel der Biographien mit der Sicherheit eines Tauchers, welcher durch das Wasser hindurch die unterseeische Vegetation erblickt, so liebt Sainte-Beuve doch aus manchen Gründen eine gewisse Unbestimmtheit in seiner Ausdrucksweise über das Gegebene; wo er von noch Lebenden spricht, darf er ihr Privatleben ja nur andeutungsweise berühren, und die Verstorbenen haben in der Regel Nachkommen oder Verwandte, welche gegen die Wahrheit aus ihrer Hut sind, soweit es deren Leben betrifft. So begnügt er sich gern damit, merken zu lassen, daß er zwar alles Mögliche wisse, aber nicht für gut finde, dabei zu verweilen.Mit den Jahren wurde Sainte-Beuve kühner und mehr physiologisch in seiner Psychologie. Man höre ihn selbst, wie er seine Methode verteidigt. In einem seiner letzten Lebensjahre (9. Mai 1863) schreibt er an einen Kritiker, welcher ihm gewisse negative Beurteilungen vorgeworfen: »Die Kunst – und besonders eine rein geistige Kunst wie die kritische – ist ein Instrument, das schwer |384| zu behandeln ist; es taugt nur so viel, wie der Künstler taugt. Dies aber eingeräumt – ist es dann nicht notwendig, endlich zu brechen mit all diesen verkehrten Bräuchen, die vorschreiben, einen Schriftsteller nicht allein nach seinen Intentionen zu beurteilen, sondern sogar nach seinen Prätensionen? Wie! ich soll verpflichtet sein, in Fontanes nur den großen, geschliffenen, edeln, eleganten Meister zu erblicken, und darf nicht den kleinen, hitzigen, sinnlichen Kumpan sehen, welcher er war? […] Oder was unsre Zeit betrifft – ich habe nun 35 Jahre in unmittelbarer Nähe Villemain’s gelebt, der ein solch großes Talent, ein so schöner Geist ist, der mit edelmütigen, freisinnigen, menschenfreundlichen, christlichen, civilisatorischen u. s. w. Gefühlen förmlich flaggt – und mir sollte es verwehrt sein, in ihm die schmutzigste Seele, den boshaftesten Affen zu schildern, den es giebt? Soll man in alle Ewigkeit fortfahren, seine edlen, erhabenen Gefühle zu rühmen, wie es einstimmig rings um ihn her geschieht? Ist es etwa Pflicht, sich an der Nase führen zu lassen und Anderen das Gleiche zu thun? Sind denn Schriftsteller, Historiker, Moralprediger nur Schauspieler, die man nicht außerhalb der Rolle, die sie einstudiert haben, sehen darf? Darf man sie nur auf der Bühne sehen? Ist es nicht gestattet, kühn und doch diskret die Stelle zu sondieren, wo der Harnisch zusammengefügt ist? mit dem Seeirmesser auf die Naht zu deuten, wo der Übergang von der Seele zum Talent ist? das letztere zu loben, aber auch die Mängel in dem Seelischen anzudeuten, welche wir aus eben diesem Talente wahrnehmen, sowie aus der Wirkung, welches dieses auf die Länge hervorbringt? Wird die Litteratur deshalb an Glanz verlieren? Es ist möglich; aber die Kenntnisder Geister wird unzweifelhaft dadurch gewinnen.«
Der erste Schritt ist also: Fester Grund unter den Füßen, keine falsche Idealität! Der nächste Schritt ist, daß die Kritik, welche bisher analysierend und zerstückelnd war, bei Sainte-Beuve zusammenfassend wurde, wenn auch mit der Begrenzung, die das |385| Naturell des großen Kritikers mit sich führte. Seine Kritik verleiht, wie die Poesie, ihrem Gegenstande organisches Leben; Sie zerklopft nicht das Material in kleine Steine oder zu Schutt, sie errichtet ein Bauwerk daraus. Sie nimmt nicht die Bestandteile der Menschenseele auseinander, so daß wir nur die tote Maschine kennen lernen, ohne zu wissen, wie sie sich ausnimmt, wenn sie im Gang ist – nein, sie verschafft uns Einblick in die Arbeit derselben, so daß wir, während wir ihren Mechanismus kennen lernen, das Feuer sehen, welches die treibende Dampfkraft erzeugt, und den Lärm hören, den die arbeitende Maschine macht.
So ist durch Sainte-Beuve’s Reform die Litteraturgeschichte, welche vor ihm als eine Art historischer Nebenwissenschaft galt, ein Wegweiser für die eigentliche Geschichte geworden, ja, der seelenvollste, lebendigste Teil der Geschichte, weil sie in den Litteraturen das reichste Material besitzt, das der Geschichte überhaupt zur Verfügung steht.
Wir sagten zu Beginn, daß Sainte-Beuve’s litterarische Thätigkeit ihn nicht der Poesie entfremdete. Jetzt können wir bestimmter nachweisen, daß die Kritik, wie er sie gegen das Ende seines Lebens, auf dem Höhepunkt seiner Entwickelung ausübte, in die engste Verwandtschaft zur Poesie der neuern Zeit getreten war. Denn als die Kritik synthetisch wurde, machte – ebenfalls wegen der gradweisen Eroberung des modernen Geisteslebens durch die Naturwissenschaft – die Poesie gleichzeitig eine ähnliche Bewegung. Am Anfang des Jahrhunderts galt die Phantasie als freie Einbildungskraft für die eigentliche Dichtergabe; die Erfindungsfähigkeit als solche machte den Dichter zum Dichter. Er war nicht an Natur und Wirklichkeit gebunden, war in der übernatürlichen Welt ebenso daheim, wie in der bekannten. Im Geschlecht von 1830 repräsentieren Dichter wie Nodier und Alexander Dumas jeder auf seine Art diese Anschauungsweise. Doch als der Romantismus nach und nach in den Sinn und das Studium der Wirklichkeit |386| ausmündete, gab die Poesie ihre phantastischen Kreuz- und Querfahrten durch den Ätherraum immer mehr auf. Sie versuchte fast noch mehr zu verstehen als zu erfinden, und hierin näherte sie sich der Kritik. Der Roman wurde Psychologie. Der Romandichter und der Kritiker gehen in unseren Tagen bei ihren Schilderungen von demselben Ausgangspunkt aus: der geistigen Lebensluft eines Zeitalters. In dieser treten die Gestalten hervor. Der eine will die Handlungsweise eines Menschen, der andere ein geschriebenes Werk so darstellen und erklären, daß Handlung wie Werk als Produkte gesehen werden, welche der Mensch mit wirklicher oder scheinbarer Notwendigkeit hervorbringt, wenn bestimmte innere Anlagen und äußere Einflüsse sich vereinigen. Der wesentliche Unterschied ist nur der, daß der Dichter seine erfundenen Personen, die jedoch gewöhnlich nach Modellen aus dem wirklichen Leben gezeichnet sind, möglichst folgerichtig nach den gegebenen Umständen sprechen und handeln läßt, während der Kritiker vollständig an das Thatsächliche gebunden ist, so daß seine Phantasiethätigkeit sich einzig auf die Wiederherstellung des Seelenzustandes beschränkt, welcher die Thatsache verursachte oder bedingte. Der Romanschriftsteller schließt aus dem beobachteten Charakter auf dessen mögliche Handlungen, der Kritiker aus dem beobachteten Werk auf den Charakter zurück, der diesem zu Grunde gelegen.
»Kritik, das heißt die Gabe, durch vielseitige Sympathie die ursprünglichen Schranken des eigenen Naturells zu überwinden, war eine hervorragende Fähigkeit der größten Dichter dieses Jahrhunderts. Emile de Montégut faßte die Kritik in diesem Sinne auf, als er sie einmal den jüngsten Genius, das Aschenbrödel unter den Geistern nannte. »Die Kritik,« schrieb er, »ist die zehnte Muse. Mit ihr war Goethe heimlich vermählt. Sie war’s, welche aus ihm zwanzig Dichter machte. Was ist die Grundlage der deutschen Litteratur anderes als die Kritik? Was sind die englischen Dichter unserer Tage? Bewegte Kritiker. Was ist Italiens edler Leopardi? Ein flammender Kritiker. Von allen neueren |387| Dichtern sind nur Byron und Lamartine nicht Kritiker gewesen, und dadurch büßten sie Mannigfaltigkeit und Abwechselung ein und sind so monoton geworden, wie es bei ihnen der Fall ist« – Faßt man die Kritik im weiteren und eigentlichen Sinne auf, so fällt die letztere Einschränkung hinweg. Denn als die Fähigkeit, das Bestehende einer Beurteilung zu unterziehen, war sie eine inspirierende Macht auch für die großen Lyriker des Zeitalters; sie ist es bei Victor Hugo wie bei Byron, bei George Sand wie bei Lamartine. Von dem Augenblick an, da die Poesie aufhört, sich gegen das Leben und die Ideen der Mitwelt abzusperren; von dem Zeitpunkt an, da die lyrisch-romantischen Dichter sich zu Organen der Ideen verwandeln, wird in ihrer Dichtung die Kritik als ein belebendes Prinzip empfunden. Sie hat Hugo’s »Les Châtiments« inspiriert, wie sie Byron’s »Don Juan« inspirierte. Sie weist dem Menschengeist den Weg. Sie hegt den Weg mit Hecken ein und beleuchtet ihn mit Fackeln; sie bricht neue Bahnen und rodet die alten. Denn die Kritik ist’s, welche Berge versetzt, all’ die riesigen Anhöhen der Autorität, des Vorurteils, der ideenlosen Macht und der toten Überlieferung.
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