Es war Sainte-Beuve’s eigentlicher und größerer Beruf, der ihn der Dichtkunst abtrünnig machte. Aber er führte ihn nicht hinweg von der Poesie. Diese wurde vielmehr von nun an die unterirdische Quelle, welche seine kritischen Untersuchungen, selbst deren trockenste und ernsteste Gebiete, befruchtete und ihnen Frische und üppiges Leben verlieh.
Indes ist es interessant zu beobachten, welche Zickzackwege der erste große moderne Kritiker einschlug, bis er langsam die persönliche Reise für seinen Beruf erlangte. Als bei der Julirevolution das romantische Cénacle sich auflöste, war Sainte-Beuve so ausgesöhnt mit den herrschenden Männern der Restauration, daß er nahe daran war, von Polignac zum Gesandtschaftssekretär ernannt zu werden, um als solcher den Dichter Lamartine nach Griechenland zu begleiten. Er hätte nichts dawider gehabt, eine für einen jungen Poeten so wünschenswerte Stelle von den Machthabern anzunehmen. Er hegte deshalb unwillkürlich einige Bitterkeit gegen das neue Regiment, unter welchem fast alle seine litterarischen Freunde politisch avancierten. Ein gewisser volkstümlicher und demokratischer Grundzug war immer in ihm (wie er z. B. das »von« vor seinem Namen abwarf, obschon er es von seinem Vater geerbt); so fühlte er sich jetzt zur Opposition gegen die Regierung , gezogen und gelangte bald dazu, ein Helfer und gewissermaßen ein Dolmetscher für den naivbegeisterten und stilistisch völlig unbegabten Sozialphilosophen Pierre Leroux zu werden. Ebenso blieb er Mitarbeiter des Blattes »Le Globe« auch dann noch, als es aus |368| den Händen der Doktrinären in die der Samt-Simonisten überging und als deren Organ das Motto trug: »À chacun selon sa vocation, à chaque vocation selon ses oeuvres«. Er war (wie Heinrich Heine) begeistert für Pere Enfantin, und in einem Artikel von 1881 stellte er Saint-Simons religiöse Schriften hoch über Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts«.
Kaum hatte er nach Auflösung der Saint-Simonistischen »Familie« im Jahre 1832 sich von den Schülern Saint-Simons getrennt, als er sich Armand Carrel, dem litterarischen Häuptling des republikanischen Frankreich, näherte. Obgleich er in dem Artikel, welchen er 1852 über Carrel schrieb, sein näheres Verhältnis zu diesem verschleiert hat, ist es gewiß, daß er drei volle Jahre für den »National« schrieb, und zwar sowohl über Politik wie über Litteratur.
Wie früher mit den Romantikern, Royalisten, Saint-Simonisten, kam er nun mit den Republikanern in Fühlung, und lernte auch diese näher kennen. Zur selben Zeit führte sein Freund Ampere ihn in L’Abbaye des Bois ein, wo die bejahrte Madame Recamier thronte und wo man Chateaubriand wie einem Abgott huldigte. Als es in Folge eines Artikels über Ballanche, worin Sainte-Beuve legitimistische Sympathieen zu verraten schien, zwischen Carrel und ihm zum Bruche kam, näherte er sich mehr Lamennais, der ihn übrigens zuerst ausgesucht hatte. Bald wurde er dessen Vertrauter und Ratgeber. Was ihn an Lamennais interessierte, war teils die demokratische Flamme in der Seele des großen Geistlichen, teils dessen Grundidee: es sei, damit der unaufhaltsam anschwellende Strom der Demokratie seine Ufer nicht überflute, nötig, über das so mächtige und innerhalb einer gewissen Begrenzung so wahre demokratische Prinzip als Damm ein anderes, noch mächtigeres aufzurichten – das religiöse, welches mit Nachdruck zu den Völkern und mit gleich großer Überlegenheit zu den Königen sprechen könne. Ja Sainte-Beuve war für Lamennais in dessen erster Periode so |369| sehr eingenommen, daß er sogar in einem seiner Artikel einen bedingten Vorwurf gegen ihn wegen des entschiedenen Abfalles von Rom richtete. Er meinte: wer erst vor kurzem dafür gekämpft, die Geister unter die Zucht der herrschenden Kirche zu beugen, habe nicht das Recht, nun als antipäpstischer Demagoge aufzutreten.
Die drei Jahre von 1834–37 waren die schmerzlichst bewegten in Sainte-Beuve’s Leben. Sein Verhältnis zu Madame Hugo löste sich im letzten dieser Jahre durch eine plötzliche Krise; sie zerriß zugleich das Band, welches ihn an die romantische Schule knüpfte, und machte seinen religiösen Velleitäten ein Ende. Er verließ Paris und wandte sich nach Lausanne, wo er in den Jahren 1837–38 die Vorlesungen begann, aus denen sein großes Werk »Port-Royal« entstand. Der Plan dazu war schon früher von ihm entworfen, der Anfang schon früher geschrieben; daß die Vorträge für ein wenn auch protestantisches, so doch gläubiges Auditorium gehalten wurden, bestimmte bis zu einem gewissen Grade ihren Ton. In Lausanne kam Sainte-Beuve mit dem ausgezeichneten reformierten schweizerischen Geistlichen Vinet in Berührung, einem von den Wenigen, denen er bis zu seinem Tode Ehrfurcht bewahrte. Dieser Mann, von strenger, aufrichtiger Religiosität und zugleich ein äußerst feiner, scharfer Kritiker der französischen Litteratur, interessierte Sainte-Beuve in gleich hohem Grade als Charakter wie als Geist. Vinets Definition des Christenthums als Inbrunst machte Eindruck auf Sainte-Beuves regen theologischen Sinn; und Vinet hielt sich, wenn der berühmte französische Schriftsteller als aufmerksamer Zuhörer neben ihm ging, überzeugt, ihn zu seinem Glauben bekehrt zu haben. Nichtsdestoweniger reiste Sainte-Beuve als Ungläubiger von Lausanne nach Italien und von da zurück nach Paris, wo er seine Thätigkeit als Kritiker in größerem Stile als je zuvor wieder aufnahm, zunächst mit dem Unterschied, daß er, der als Kampskritiker begonnen, nun als erklärender und belehrender Schriftsteller austrat.
|370| Er genoß hohes Ansehen als Recensent der »Revue des deux mondes«, erlangte großen Einfluß und war als Weltmann in den aristokratischen Salons gesucht und gern gesehen. Dabei galt er für einen trotz seiner Unabhängigkeit ruhigen und würdigen Schriftsteller. In der Politik gehörte er zum Centrum nächst der Rechten. Eine Dame, zu welcher er bald in das zärtlichste Freundschaftsverhältnis trat, sicherte seine Stellung in der vornehmen Welt. Es war Madame d’Arbouville, die Verfasserin mehrerer hübschen, melancholischen Novellen, Witwe eines Generals und Nichte des Premierministers Graf Molé. Sainte-Beuve verbrachte während des Winters seine freie Zeit in ihrem Haus und in den Salons ihrer Bekannten; im Sommer war er bei ihren Verwandten auf dem Lande zu Gast. Er wurde Graf Molés Freund und litterarischer Ratgeber. Wenn die Gelegenheit dazu sich bot, nahm er auch für diesen seingebildeten Edelmann aus der klassischen Schule Partei gegen seine eigenen alten Bundesgenossen, die Romantiker, sofern diese es an Geschmack und Takt mangeln ließen.*)*
Er wurde schon 1844, ohne vorher auch nur einmal abgelehnt worden zu sein, als Mitglied in die französische Akademie aufgenommen, protegiert, wie er von all’ den monarchischen und klassischen Salons war. (Man kann anläßlich dieses Umstandes einen bittern Angriff gegen ihn in den Briefen von Madame de Girardin, Sainte-Beuve’s geistreicher Feindin, lesen.)*)* Das Pikante bei der Eintritts-Ceremonie des Ex-Romantikers war, daß es Victor Hugo, der erst nach dreimaliger Abweisung in die Akademie aufgenommen worden war, zufiel, die Begrüßungsrede zu halten.Dieser neue Kreis vermochte übrigens Sainte-Beuve ebenso wenig festzuhalten, wie die früheren es gekonnt. Die Revolution |371| von 1848 zersplitterte diese Gesellschaft, und als die fiegenden Republikaner ihn tödlich kränkten, indem sie eine ganz alberne Anklage gegen ihn erhoben, fühlte er sich mehr als jemals isoliert.*)*
Zum zweiten Mal verließ er Frankreich für längere Zeit. Er hielt in Lüttich die Vorträge, denen sein Buch »Chateaubriand et son groupe littéraire« die Entstehung verdankt – Vorträge, deren Inhalt und Ton der monarchischen Partei sehr nahe gehen mußte und die eine große Ernüchterung verrieten.Madame d’Arbouville starb 1850. Hiermit war das persönliche Band, welches ihn mit den alten Parteien zusammenhielt, zerrissen. Der demokratische und sozialistische Instinkt, welcher ihn zu den Samt-Simonisten und zu Carrel hingezogen hatte, trieb ihn dem zweiten Kaiserreich zu. So wenig wie irgend ein anderer der Männer von 1830 (den eine kurze Zeit berühmten, ehrenhaften, im übrigen aber gering begabten Dichter Auguste Barbier ausgenommen) war Sainte-Veuve davon frei, den allgemeinen Napoleonkultus zu teilen; er betrachtete das Kaisertum als einen vom Volk getragenen, gegen die Herrschaft der Bourgeosie gerichteten Imperialismus, und in dem bekannten, viel angegriffenen Artikel »Les regrets« erklärte er nicht nur seinen Anschluß an Napoleon III., sondern sprach sich sogar über die Orleanisten und Legitimisten in einer Weise aus, deren Hohn eine naive Vergeßlichkeit von seiner Seite bekundete. Er schrieb zuerst für »Le Constitutionne1«, dann eine Zeitlang für den »Moniteur officiel«, dann wieder für »Le Constitutionnel«, endlich in seinem letzten Lebensjahre für das Oppositionsblatt »Le Temps«. Augenscheinlich meinte er es vollständig aufrichtig; er ließ sich eben, wie immer, auch hier unwillkürlich beeinflussen, um später mit desto klarerem Blick eine um so ein|372|sichtsvollere Kritik zu üben. Persönlich kam er mit dem Kaiser nur flüchtig in Berührung. Er schloß sich an »die Linke des Kaiserreiches«, wurde von der Prinzessin Mathilde und dem Prinzen Napoleon wie ein Freund behandelt und ausgezeichnet und benützte seine freundschaftlichen Beziehung zur Prinzessin in schönster Weise, nämlich zur Ausübung einer stillen, großartigen Wohlthätigkeit.
Erst in dieser letzten Periode seines Lebens gelangte sein volles Talent zur Entfaltung. Ein nicht kritischer Dichter hat in der Regel Aussicht, mit den Jahren nachzulassen, während ein Kritiker Aussicht hat, sich im Alter zu vervollkommnen. Und Sainte-Beuve entwickelte sich von Jahr zu Jahr immer reicher bis zu seinem Tode. Seine Wahrheitsliebe, von Anfang an ebenso lebendig wie sein Arbeitstrieb, früher häufig durch äußere Rücksichten gehemmt, trat nun immer offener hervor, während seine Arbeitskraft sich ungeschwächt erhielt. Er hat ungefähr fünfzig Bände geschrieben, und es findet sich nicht eine nachlässige Zeile, kaum eine Ungenauigkeit in denselben. Aber erst in dieser letzten Periode gewann Sainte-Beuve den vollen Mut, die freimütige Sprache zu führen, deren er bedurfte, um seinen wirklichen Ansichten auf religiösem und philosophischem Gebiete Ausdruck zu geben. Alles, was er zurückgedrängt hatte, seit er in seiner Jugend die Philosophen des 18. Jahrhunderts studierte, gelangte nun zu Tage. Sein geringes Verständnis für Balzacs weit gröberes und Beyle’s so viel absonderlicheres Wesen kann den Mut und die Entschiedenheit nicht in Vergessenheit bringen, womit er nun in der Litteratur als der Sprecher und Führer des heranwachsenden Geschlechtes dastand. Es darf auch nicht vergessen werden, daß er es abschlug, einen Artikel über Napoleons »Vie de César« zu schreiben. Und mit nicht geringerer Entschiedenheit trat er im Senat, ganz allein, als der überlegene und rücksichtslose Gegner des Klerikalismus auf. Im März 1867 verteidigte er Renan und dessen »Leben Jesu«. Im Juni desselben Jahres, als man auf Grund einer Klage der |373| Kleinstadt-Matadore in Sainte-Etienne die gesamte Litteratur, welche der Geistlichkeit nicht genehm war (Voltaire, Rabelais u. A. m. mit inbegriffen), aus den Volksbibliotheken verbannen wollte, war Sainte-Beuve ganz allein in dem servilen und klerikalen Senat der Wortführer der freien Forschung, welcher die Ehre der französischen Litteratur begeistert wahrte. Die Studenten, welche ihn im Jahre 1855 wegen seines Anschlusses ans Kaiserreich ausgezischt, huldigten ihm bei dieser Gelegenheit durch eine Deputation und brachten ihm ein Lebehoch. Anläßlich einer kleinen Mittagsgesellschaft, die er im Jahre 1868 zufällig am Karfreitag gab, sprengte die klerikale Presse lügenhafte Gerüchte aus, welche ihn als geradezu antichristlich gesinnt, als einen neu erstandenen Voltaire bezeichneten; und als er im Mai 1868 seine letzten Kräfte zusammenrasste und mit schwacher Stimme, aber mit unerhörter Kühnheit im Senat die Preßfreiheit verteidigte und den Gesetzesvorschlag betreffs der katholischen Universitäten angriff – da war der Name Sainte-Beuve zur Fahne geworden: das Symbol des freien Gedankens. Im Januar 1869 brach er gänzlich mit dem Kaisertum. Am 13. Oktober 1869 hauchte er nach vierjähriger Krankheit und langen qualvollen Leiden, die er mit stoischer Standhaftigkeit ertrug, seinen letzten Seufzer aus.
Sainte-Beuve hat, wie man sieht, bei seiner ungewöhnlich empfänglichen Natur eine ganze Reihe religiöser, litterarischer und politischer Modifikationen durchlaufen. Es war die Schule, welche er notwendiger Weise absolvieren mußte, um der Stifter der modernen Kritik zu werden. Aber was man ihm zugestehen muß, auch bei all’ seinem Meinungswechsel, das ist die Ehrlichkeit. Persönliche Gründe konnten bei wichtigen Fragen nur geringe Macht über den Mann haben, dessen persönliches Wesen so wahr ist wie das, welches aus seinen Schriften leuchtet. Denn, wie Franklin sagt, Wahrheit und Ehrlichkeit sind wie Feuer und Flamme. Sie haben einen gewissen natürlichen Glanz, der sich nicht mit Farbe und Pinsel wiedergeben läßt.
Du kan slå ord fra Brandes' tekst op i ordbogen. Aktivér "ordbog" i toppen af siden for at komme i gang.