Während Théophile Gautiers litterarisch-kritische Arbeiten, einen so großen Platz sie auch in seiner Gesamt-Produktion einnehmen, über seinen Leistungen auf anderem Gebiete fast schon in Vergessenheit geraten sind, hatte einer seiner Zeitgenossen, der gleich ihm Dichter und Kritiker war und dessen Name, so lange sie Beide lebten, oft mit dem seinigen zusammen genannt wurde, ein entgegengesetztes Schicksal. Der Rang, den Sainte-Beuve allmählich als Kritiker erwarb, war so hoch, daß derselbe vor der Nachwelt seine poetischen und größeren historischen Produktionen in Schatten stellte. Als Dichter besaß Sainte-Beuve ein feines und originelles Talent; doch als Kritiker war er ein epochemachender Geist, einer von denen, die eine eigene Methode ins Leben rufen und eine besondere Kunstart begründen. Es läßt sich von ihm sagen, daß er als Neuerer in seinem Gebiete noch mehr bedeutete, als die übrigen Schriftsteller jener Periode innerhalb des ihrigen; denn es gab vor Hugo eine moderne Lyrik, aber man hatte, in strengerem Sinne genommen, vor Sainte-Beuve keine moderne Kritik. Jedenfalls hat er die Kritik umgeformt wie Balzac den Roman. In seinen letzten Lebensjahren erlangte er unbestrittene Autorität, dennoch ist erst in den vierzehn Jahren, die seit seinem Tode verflossen sind, seine Bedeutung auch außerhalb Frankreich den Gebildeten recht eigentlich zum Verständnis gekommen. Ein ausgezeichneter Kenner französischer Litteratur, Karl Hillebrand, hat ihn als den hervorragendsten Geist der ganzen Periode bezeichnet |352| – eine Äußerung, die nur demjenigen ungereimt erscheinen kann, welcher die Kritik an und für sich niedriger stellt als das Drama oder die Lyrik; doch diese Anschauungsweise dürfte veraltet sein. Für den Schriftsteller ist diejenige Kunst die höchste, in welcher er sein Wesen vollgültig entwickeln kann; und wenn auch ohne Zweifel eine Rangordnung der Geister existiert, so ist es doch höchst zweifelhaft, ob es einen Rangunterschied zwischen den Kunstarten giebt, besonders wenn der produktive Geist die Kunstart oder das Genre zu seinem eigentümlichen fast persönlichem Organ umgebildet hat. Soviel ist gewiß, in Beziehung auf Verstand (nicht nur auf Urteilskraft) stand Sainte-Beuve in der Generation von 1880 unbedingt am höchsten. Seine Eigentümlichkeit ist die: er war ein Geist, der eine außerordentliche Anzahl anderer Geister verstand und klar stellte. Wenn ich ihm gleichwohl den übrigen hervorragenden Persönlichkeiten jener Gruppe gegenüber den Vorrang nicht einräumen kann, so beruht dies in der Begrenzung seiner Fähigkeiten. So viel sein Blick auch umfaßte, ihm mangelte die Totalübersicht. Selten war ein Historiker und Denker ein weniger systematischer Geist. Diese Eigenschaft hatte sicher ihre gute Seite. Daß er sich von Systematik frei hielt, bewahrte ihm die Frische; dadurch war es ihm möglich, sich beständig zu häuten und zu erneuen. So stand er, der 1827 durch seine ersten Artikel im »Globe« Goethes Aufmerksamkeit erregte, noch im Jahre 1869 mit vollem Verständnis, umgeben von allseitiger Sympathie inmitten, ja an der Spitze des Kreises von jüngeren Gelehrten und Künstlern, welcher damals Frankreichs hochgehende Ansprüche auf Ansehen in Europa begründete. Noch in seinen letzten Lebensjahren wurde deshalb Sainte-Beuve als der natürliche General betrachtet, unter dessen Augen »die junge Garde« sich am liebsten auszeichnen wollte. Aber da ihm die Gabe des Zusammenfassens fehlte, war es ihm bei alledem unmöglich, ein bestimmtes Hauptwerk zu hinterlassen, wie er auch die Zeichnung im Großen, den großen Stil nicht zu |353| erlangen vermochte. Sein Blick war dafür geschärft, überall bezeichnende, bedeutende Einzelheiten zu sehen, doch die Gesamtheit entging ihm. Er sah diese Einzelheiten in beständig wechselnder Bewegung, in jener Bewegung, die das Leben ist; und indem er alle diese Bewegungen in seinem Geiste und mit seiner Feder nachahmte, gab er seinen Bildern eine nie gesehene Wahrheit. Aber er vermochte nicht, die Details mit genügender Überlegenheit zu beherrschen; ihm mangelte der Sinn sowie die Fähigkeit, die näher liegenden Ursachen aus den höheren, diese wieder aus einer einzelnen abzuleiten. Er konnte als Kritiker nur das isolierte Individuum schildern und selbst dieses niemals in einem Zuge in sich abgeschlossen, sondern bald von der einen, bald von der anderen Seite gesehen, bald in dem, bald in einem andern Lebensalter, bald in diesem, bald in jenem Verhältnis zur Umgebung. Ja, nicht einmal den einzelnen Artikel vermochte er zu konzentrieren. Er legte seine besten Gedanken in Nebensätzen, seine feinsten Erläuterungen in Anmerkungen nieder; er zerbröselte sein Lebensbrot in Krumen; er versteckte sein Gold, wie die Bauern in früheren Tagen zu thun pflegten, unter den Dielen des Fußbodens oder in Mauerspalten, auf dem Grund einer Kiste oder in einem Strumpf; er verstand nicht die Kunst, Statuetten daraus zu machen.
Die Freiheit von allem Systematischen, die seine Stärke war, hatte für ihn das große Gute, seine Schriften vor jeder gesuchten Symmetrie zu bewahren. Nichts, auch nicht das Geringste, opferte er dem innern Gleichgewicht seiner Arbeit zu lieb – geschweige um seine Darstellung und seinen Stil zu vereinfachen – wenn ihm im Augenblick etwas vorschwebte, das zu sagen er für notwendig hielt. Er scheute nicht das Zusammengesetzte, so wenig wie Verwicklung oder Mangel an Abschluß. Das Fehlen jener philosophischen Anlagen, die den Schriftsteller zwingen, die Dinge aneinander zu reihen und als Ganzes der Vorstellung zuzuführen, ist die Ursache, weshalb man von Sainte-Beuve’s Schriften nie|354|mals starke, klare Eindrücke empfängt. Wichtiges und weniger Wichtiges steht allzu oft in demselben Plan. Als Künstler betrachtet erinnert er an jene japanesischen Maler, deren hoher Kunstrang in späteren Jahren von Europa anerkannt wurde; sie überraschen wohlthuend, weil sich bei ihnen keine Spur von akademischer Symmetrie findet; sie befriedigen niemals vollständig, weil sie jeder Perspektive spotten; sie erreichen aber bisweilen in einem außerordentlichen Grade die Wiedergabe des natürlichen Lebens.
Charles Augustin Sainte-Beuve ist am 28. Dezember 1804 in Boulogne-sur-mer geboren. Sein Vater, ein tüchtiger, feingebildeter Beamter, hatte erst mit 52 Jahren daran denken können, sich eine Häuslichkeit zu gründen. Die Frau, welche er heimführte, zählte damals 40 Jahre; kaum ein Jahr vermählt verlor sie den Gatten, zwei Monate vor der Geburt des Sohnes. Von diesem Vater, den Sainte-Beuve nie gesehen, und der ein lebhaftes Interesse für Litteratur, besonders für Poesie hegte (die Bücher seiner Bibliothek weisen Notizen, Randglossen und eingestreute Gedanken auf, welche ihrem Geist und ihrer Form nach merkwürdig an die des Sohnes erinnern),*)*
scheint er die Anlage zu kritischer Reflexion geerbt zu haben; von der Mutter, die den Knaben frühzeitig Englisch lehrte (ihre Mutter war eine Engländerin gewesen), stammt seine damals in Frankreich so ungewöhnliche Vorliebe für englische Lyriker, Bowles, Crabbe, Cowper und insbesondere für Wordsworth sowie die übrigen Dichter der Seeschule, die er so oft übersetzt und zitiert hat. Etwas Altväterisches und Schwermütiges darf man mit ziemlicher Sicherheit teils von dem vorgerückten Alter der Eltern ableiten, teils von der niedergedrückten Stimmung seiner Mutter, die, während sie das Kind unter dem Herzen trug, von der Krankheit und dem Tode ihres Mannes getroffen wurde.|355| Als Knabe war Sainte-Beuve schwermütig und furchtsam. Unter dem Einfluß der mütterlichen Erziehung entwickelte sich bei dem zwölfjährigen Knaben eine fast unheimliche religiöse Schwärmerei; mit dem glühendsten Eifer versah er die Dienste eines Chorknaben bei der Messe. Es war nur ein vorübergehender katholischer Paroxismus, aber deutlich genug hat er seine Spuren hinterlassen, die sich später auffrischen ließen. Der zum Jüngling Heranreifende bewahrte nicht nur die Pietät für das Christentum, sondern auch den Hang, sich mit religiösen Zweifeln und theologischen Grübeleien zu beschäftigen. Dies haftete ihm an, bis er als Student die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts und die damals lebenden Repräsentanten der sensualistischen Philosophie, de Tracy, Daunou, Lamarck hörte, dann hat er sich rasch von der Theologie emanzipiert. Bei dem Eintritt ins Mannesalter war seine Grundlage der reine Empirismus; dieser Fond, der noch einmal von religiösen Stimmungen und Velleitäten, jedoch nur vorübergehend verdrängt wurde, tauchte später wieder in ihm auf und bewährte sich als der bleibende und entscheidende. Sainte-Beuve hatte sich in der Schule in den historischen und philologischen Fächern ausgezeichnet. Trotz seiner Neigung zur Litteratur widmete er sich jedoch dem Studium der Medizin, teils seiner Zukunft halber, teils um ein Gegengewicht gegen die bloß rhetorische Ausbildung zu haben. Von 1823–26 trieb er neben litterarischen Beschäftigungen mit Eifer und Interesse physiologische und anatomische Studium. Er war arm, ohne bei seiner Mäßigkeit jemals Not zu leiden, und äußerst fleißig.
Der junge Mediziner war nichts weniger als schön. Sein großer runder Kopf war fast zu schwer für den Körper, die Gestalt ohne Eleganz, das rotblonde Haar zugleich struppig und fein. Aber in den blauen, leuchtenden Augen, die sich zuweilen seltsam erweiterten, bald groß, bald klein schienen, blitzten tausend Fragen, lächelte überlegene Schalkhaftigkeit und dämmerte dazwischen ein träumerisches Sehnen, das, halb sinnlich, halb poetisch, |356| die Herzen gewann. Als armer, häßlicher Student kannte er vom schönen Geschlecht nicht viel mehr als die Sünderinnen im Quartier latin. Er hatte ein sinnlich glühendes, unfeines Temperament, das unmittelbare Befriedigung suchte; Demütigung und Gewissensbisse waren für ihn die unmittelbare Folge derselben. Dabei besaß er eine stark entwickelte, träumerisch-poetische Einbildungskraft, die von einer feinen Melancholie umschleiert sich der Romantik und dem Mysticismus zuwandte. Vielleicht hatte er etwas von dem unwillkürlichen Groll der Häßlichen gegen die Männer, welche schon durch ihr bloßes Auftreten Frauenherzen erobern, und dabei doch selbst etwas von der Unwiderstehlichkeit der Infinuanten.
Zu Anfang 1827 schrieb er in den »Globe« zwei Artikel über Victor Hugos »Odes et ballades«, welche seinen Eintritt ins romantische Lager zur Folge hatten. Hugo besuchte ihn, um ihm zu danken, traf ihn aber nicht zu Hause. Als Sainte-Beuve wenige Tage darnach sich in Hugo’s Haus vorstellte, lernte er mit einem Mal die beiden Persönlichkeiten kennen, welche in seinem Jugendleben die größte Rolle spielen sollten. Rasch wurde er zünftiger Kritiker der romantischen Schule. Es handelte sich in erster Linie darum, den Zusammenhang der neueren Schule mit der älteren französischen Kultur nachzuweisen, ihr nationale Ahnen zu schaffen. Sainte-Beuve löste diese Aufgabe in seinem vortrefflichen kritii schen Jugendwerk »Tableau de la poésie francaise au XVIe siècle« (1827-28). Der Grundgedanke darin war: vom Geschlecht von 1830 den Faden über die klassische Periode weg zu ziehen bis zu Ronsard, du Bellay, Philippe des Portes und den übrigen so lange und mit Unrecht mißachteten Dichtern der Renaissancezeit. Dies Buch ist in Bezug auf Sainte-Beuve’s Schriftstellerwirksamkeit die genaue Parallele von dem, was »Les Grotesques« in derjenigen Th. Gautiers war; es ist älter als das letztere, im übrigen ebenso gründlich und fein analysierend, wie »Les Grotesques« plastisch und bizarr.
|357| 1829 folgte seine erste Gedichtsammlung, »Josephe Delormes Poesieen«, originelle und manierierte Gedichte, welche nicht geringes Aufsehen machten. Die Fiktion war die, daß sie von einem jungen Studenten der Medizin geschrieben seien, der an der Schwindsucht gestorben; doch unter dem durchsichtigen Pseudonym schilderte Sainte-Beuve in der Vorrede sich selbst und sein eigenes Leben. Josephe Delorme ist ein Abkömmling von Obermann – arm, reichbegabt, voll Mitgefühl mit dem Unglück der Menschheit, ein genialer und glanzloser Geist wie sein Stammvater, aber noch mannigfaltiger in seinem Gemütsleben als jener;*)*
denn Josephe Delorme ist zugleich Philosoph und unglücklich über seinen Unglauben, ideal in seinem Hoffen und seinem Streben und doch niedrigen Ausschweifungen zugeneigt. Der Held ist hier der gewöhnliche desperate Jüngling von 1880, jedoch auf mehr bürgerliche Proportionen reduziert als bei den übrigen Dichtern; seine Verzweiflung ist nicht so hochpathetisch, und doch wahrheitsgetreuer. Die Gedichte sind formell merkwürdig durch die Vorliebe für Erneuerung der reizenden altfranzösischen Versarten nach Ronsard und Charles von Orleans, welche sich darin offenbart; zugleich verraten sie, wie sehr Sainte-Beuve (ungefähr wie A. W. Schlegel) für die Form des Sonetts eingenommen war. Vor Allem aber sind sie interessant durch den Realismus, der schon hier beim Autor durchbricht und sich wohl bisweilen dem Einfluß der englischen Seeschule zuschreiben läßt, allein schon durch die kühne Wahl der Sujets (man vergleiche z. B. das Gedicht »Rose«) sich fast durchgängig als original und ganz französisch beweist. Das ideale Element vertreten die Gedichte, worin der Verfasser sich in Entzücken ergeht über das »Cénacle« (den kleinen Kreis von Dichtern und Malern, in welchen er aufgenommen wurde), und dessen Mitglieder bald einzeln, bald insgesamt verherr|358|licht werden. Seine Ekstase den Freunden gegenüber übersteigt alle Grenzen. Einzelne von diesen Gedichten fand man in damaliger Zeit so gesucht, daß man sich darüber lustig machte. »Les Rayons jaunes« streifen in der That an die Grenze des Lächerlichen. Andere fand man platt. Guizot definierte Josephe Delorme als »un Werther jacobin et carabin« (Jakobiner und Mediziner); doch Alles in Allem kann man sagen, daß das Buch nicht geringes Glück machte, und der Erfolg war verdient.Sainte-Beuve’s nächste Gedichtsammlung (März 1830) bezeichnet im Verein mit seinem Roman »Volupté« (1834) und den zwei ersten Bänden von »Port-Royal« die sentimentale und etwas frömmelnde Periode seines Schriftstellertums »Les Conso1ations« sind unter Ausdrücken hysterischer Bewunderung mit einem Akkompagnement von christlicher Reue Victor Hugo zugeeignet, dessen Name fast auf jeder Seite vorkommt. Das erste Gedicht wie auch mehrere andere sind an Madame Hugo gerichtet. Sie war Sainte-Beuve’s Jugendliebe; ihr hat er, ohne daß er es gedruckt bezeugte, in Wahrheit doch das Ganze huldigend dargebracht. Sein Verhältnis zu ihr behandelt eine augenscheinlich ganz wahrheitsgetreue Gedichtsammlung »Le Livre d’amour«, welche Sainte-Beuve zwar drucken ließ, aber nicht veröffentlichte, mit allzugroßer Offenheit; was darin von Belang ist, findet sich in Pons’ unwürdigem Buch »Sainte-Beuve et ses inconnus«. Dasselbe Thema liegt auch allen Hauptpartieen des Romans »Volupté« zu Grunde; das Verhältnis des Verfassers zu Victor Hugo und dessen Haus läßt sich in Amaurys Beziehungen zu dem anerkannten politischen Führer Couan und dessen Gemahlin unschwer erkennen. Sainte-Beuve selbst und viele Andere nach ihm haben angedeutet, daß die ganze schwachkatholisch gefärbte, oder vielmehr gefirnißte, Gruppe seiner Arbeiten, welche während seines Schwärmens für und mit Madame Hugo entstand, direkt von ihr inspiriert gewesen sei; diese Dame, die in ihren reiferen Jahren als eifrige Freidenkerin geschrieben hat, war in ihrer |359| Jugend streng katholisch gesinnt. Man hat behauptet, Sainte-Beuve sei in seinem Bemühen, sie zu gewinnen, so weit gegangen, daß er sich angewöhnte, in ihrer Weise zu sprechen und ihre Empfindungen nachzufühlen. Ich halte diese Erklärung für falsch und bin überzeugt, daß Sainte-Beuve sowohl sich selbst als Andere durch die Art täuschte, in welcher er in späteren Jahren über seine Jugendwerke zu sprechen pflegte. In einem Brief, datiert vom Juli 1868, schreibt er an die Schriftstellerin Hortense Allart de Méritens (Madame Saman): »Ich habe in meiner Jugend ein Bischen christliche Mythologie getrieben, aber sie ist verdunstet. Sie war für mich, was für Jupiter das Schwanengesieder bei Leda – ein Mittel, um Zutritt bei den Schönen zu erlangen und zärtlichere Augenblicke zu erhaschen. Die Jugend hat Zeit und macht von jedem Mittel Gebrauch.« – Mir gefällt die frivole Weise nicht, womit er hier einen Zug zu bemänteln sucht, der ganz einfach aus der Weichheit und Unselbständigkeit seines Jugendcharakters, der ihn zum Katholizismus ziehen mußte, entsprang. Diese Richtung wurde, bevor sie verlief, von einem Zeitstrom, welcher, wie es gewöhnlich geht, eben im Begriffe war, Modeströmung zu werden, vertieft. Jenen Zeitpunkt bezeichnet die Wiedergeburt des philosophischen Spiritualismus. Sainte-Beuve war im Jahre 1828 Hörer der Vorlesungen, welche Jouffroy nach seiner Entlassung aus seinem Zimmer hielt, und war außerdem, wie fast alle jungen Leute der damaligen Zeit, von Cousin beeinflußt. Die Philosophen der neuen Zeit bekehrten ihn vorläufig vom Sensualismus. Viele der Jüngeren hielten den Romantismus noch, wofür Hugo ihn von Anfang an betrachtet, für die Reaktion gegen die heidnische Kunst und die Litteratur der Klassiker. Überdies war ein Flügel des romantischen Lagers in seinem Eifer für die poetische Wiedergeburt des Mittelalters eng verbunden mit der jungkatholischen Schule, die sich um Lamennais und Abbe Lacordaire · scharte und das Blatt »L’Avenir« gegründet hatte, für welches |360| auch Sainte-Beuve Artikel lieferte – was Wunder, wenn einige Tropfen aus dem Weihwasserkessel der Neukatholiken zu den jungen Schriftstellern hinüberspritzten und somit die neuen Bücher benetzten, welche vom romantischen Lager ausgingen? Lacordaire hat sogar teilweise die Schlußpartie von »Volupté,« die Schilderung des Klosterlebens, verfaßt. Die Frömmelei, welche in »Les Consolations« vorherrscht und u. a. Beyle ärgerte, der Übrigens Sainte-Beuve’s aufrichtiger Bewunderer war, und der Weihrauchdunst, welcher die letzte Hälfte von »Volupte« durchdringt, erinnern lebhaft an ähnliche Phänomene bei den deutschen Romantikern.
Der Roman »Volupté« ist trotz seiner Breite und seines schleppenden Ganges eine feine, tiefsinnige Seelengeschichte. Es sind Bekenntnisse in Rousseaus Manier, aber der Stil ist in Bild und Farbe reicher, feiner nuanciert und zeichnet sich durch eine gewisse Empfindsamkeit aus, die an jene Art Lyrik erinnert, welche Lamartine etwas später in »Jocelyn« anwendet, wie denn dieses Werk, obschon keuscher, doch hinsichtlich des Stoffes mit Sainte-Beuve’s Roman verwandt ist. Das Buch ist eine von tiefen und scharfen Reflexionen durchzogene Schilderung des genußsüchtigen Lebens eines Jünglings, in welchem die sinnlichen und die zärtlichen Triebe der Seele gleichermaßen Frische und Thatkraft vernichten. Vor allem behandelt dies Buch die weichliche, freundschaftliche Zuneigung zum anderen Geschlecht, besonders zu den jungen Frauen, womit begabte Jünglinge nicht selten so viele Zeit und ihre beste Kraft verschwenden. Als bloße Verschwendung hat jedoch Sainte-Beuve die Jugendzeit so zu verbringen nie in vollem Ernst betrachtet; richtet er doch selbst einmal gegen einen genialen, aber etwas zu handfesten und einseitigen Schriftsteller den Vorwurf, daß er viel zu angestrengt und zu einsam gearbeitet und sich dadurch geschadet habe, indem er allzuselten jene Gesellschaft ausgesucht, »welche unter allen die beste ist, wo man am meisten und stets aus die angenehmste Weise von der Welt seine Zeit verliert: die Gesellschaft von Frauen.«
|361| Der Held des Buches, Amaury, ist zwischen drei Frauen gestellt; er liebt die eine, welche mit seinem Herrn und Führer vermählt ist, heißer als er wagt, ihr merken zu lassen; er giebt die zweite, seine Jugendbraut, um jener anderen willen auf, und zugleich läßt er sich mit der dritten, die er abwechselnd begehrt und wieder durch Kälte und Gleichgültigkeit kränkt, in eine Liebesintrigue ein, welche ihn weder befriedigt, noch vor wilden Ausschweifungen mit unwürdigen Weibern schützt. Wißbegierig, ehrgeizig, von eisernem Fleiß beseelt, wie er ist, greifen so viele starke Anreizungen seine Geisteskraft an. Zuletzt sieht er keine andere Rettung, als sich der strengen Disziplin der katholischen Kirche zu unterwerfen. Von diesem Standpunkte aus überblickt Amaury sein Jugendleben und stellt es dem Leser dar. Die Erzählung giebt sich also gewissermaßen als die Beichte eines katholischen Geistlichen und hat dadurch an einzelnen Stellen eine ganz unleidliche Salbung erhalten. Die Ausbrüche von Reue, die moralischen und religiösen Ermahnungen, die Gebete und Predigtmotive, welche den Gang der Handlung unterbrechen, sind die wenigst anziehenden Partieen des Buches. Doch der Kern des Romans hält den Leser schadlos: da ist der klare Blick für die Entwickelungs- und Krankheitsgeschichte der Seele, der auf eingehendem Selbststudium beruht und den künftigen Kritiker anzeigt; da ist ferner das Verständnis für Frauennaturen, das den weiblichen Zug in Sainte-Beuve’s eigenem Naturell verrät und die einzig dastehende Fähigkeit ankündigt, mit welcher er bald als Kritiker die Tiefen der Frauenseele ergründen und auslegen sollte. Hierin liegen die Vorzüge des Buches.
Ich führe einige Proben an von der scharfen Beobachtung und dem Reichtum schlagender Reflexionen, die es enthält: »Wie ist die Jugend undankbar von Natur! Mit verächtlicher Miene wirft sie Alles weit von sich, was sie nicht selbst sich erworben. Nur die Bande sind ihr wert, welche sie selbst geknüpft; sie will Freunde für sich allein haben, Wesen, die sie selbst erwählt, denn |362| sie glaubt in ihrer Seele Schätze zu haben, um sich Herzen kaufen, und Ströme der Zärtlichkeit, um dieselben befruchten zu können. Da sieht man, wie sie sich für das Leben Freunden ergiebt, welche sie gestern noch nicht gekannt, und jungen Mädchen, die sie kaum gesehen, ewige Liebe und Treue zuschwört.« – »Wie sind die menschlichen Freundschaftsverbindungen doch so nichtig! Wie schließt eine die andere aus! Wie sie aufeinander folgen und sich überstürzen gleich Wogen! O Jammer! Dies Haus, in das Du abends und morgens gehst, das Dir wie Deine Heimstatt, ja besser als diese erscheint, und um dessentwillen Du jede frühere Freundlichkeit geringschätzest – sei gewiß, daß dieses Haus eines Tages Unrecht haben wird; Du wirst es meiden wie einen unheimlichen Ort, und wenn Dein Weg Dich zufällig einmal in die Nähe führt, wirst Du einen großen Umweg machen, um es nicht zu sehen. Je begabter Du bist, desto bestimmter trifft dies ein.«
Hier ein Satz, den jede aufrichtige Natur, welche schon die schmerzliche Notwendigkeit fühlte, etwas verschweigen zu müssen, verstehen und in seiner treffenden Kürze bewundern wird: »Indem ich meine wirkliche Empfindung ausdrückte, gab ich mir den Anschein, das auszudrücken, was ich nicht fühlte, um, während ich sie täuschte, ehrlich gegen mich selbst zu sein.« – Hier eine kurze, wehmütige Lebensbetrachtung: »Ein Truppencorps zieht langsam auf der Straße dahin; die feindlichen Schützen, welche zu beiden Seiten versteckt liegen, richten ein fürchterliches Blutbad unter ihm an, und es kommt zum Kampfe. Wenn alsdann der Chef der Truppe mit dem einen oder dem andern glücklich durchgekommenen Bataillon und mit zerfetzter Fahne noch vor Abend in die nächste Stadt einrückt, so nennt man das einen Triumph. Wenn ein oder der andere Teil von unsern Plänen, unserm Ehrgeiz, unserer Liebe weniger stark gelitten hat als der Rest, so sprechen wir von Ruhm oder Glück.« – Hier endlich ein feines kleines Bild von der eifersüchtigen Liebe: |363| »In jenen Augenblicken, da sie auf Eroberungen ausgeht und durch jeden Widerstand, ja selbst durch jedes zärtliche Gefühl für Andere gereizt oder erbittert wird, möchte ich sie mit jenen asiatischen Despoten vergleichen, welche, um sich den Weg zum Thron zu bahnen, alle Näherstehenden und Angehörigen, selbst ihre eigenen Brüder erwürgen.«
Mit »Les Pensées d’Août« beschloß Sainte-Veuve seine dichterische Laufbahn. Dies Buch ist unter seinen Gedichtsammlungen das einzige, welches gar kein Glück gemacht hat und offenbar ist es auch das kälteste; doch will es mir scheinen, obschon ich mit meiner Meinung allein stehe, als ob die Originalität des Dichters erst hier voll zum Durchbruch gekommen. Es findet sich hier ein in der Lyrik der romantischen Schule einzig dastehender Realismus; kein früherer Dichter hatte sich erkühnt, so viel von den Redewendungen des täglichen Lebens und von dessen objektiver Welt in die Lyrik aufzunehmen. Im Norden, wo man selbst heutzutage noch nicht recht den Mut hat, einem Omnibus oder einer Eisenbahn in einem lyrischen Gedicht Platz einzuräumen, müssen Poesieen wie diese fast als Zukunftslyrik betrachtet werden.
Hier, wie in den Gedichten Josephe Delormes, ist etwas vom Stil und der Auffassung der englischen Seeschule auf französischen Boden verpflanzt. Hier wie dort eine nüchterne, einfache Beobachtung der Wirklichkeit; hier wie dort stützt die Darstellung sich auf die Überzeugung, daß zwischen Prosa und gebundener Rede kein wesentlicher Unterschied zu beobachten sei. Aber während sich bei jenen englischen Poesieen ein befremdender Mangel an intellektueller Pointe fühlbar macht, tritt hier eine echt französische dramatische Spannung hervor. Es ist ein kleines Drama, das sich innerhalb des Umrisses einer kurzen lyrischen Erzählung abspielt.
Ich hebe das Gedicht hervor: »A Madame la Comtesse de T.« Die Gräfin, der es zugeeignet ist, erzählt. Sie macht eine Rheinfahrt von Köln nach Mainz. Um die Aussicht besser zu genießen, |364| ist sie in ihren Wagen gestiegen, der auf dem zweiten Platz des Dampfschiffes untergebracht ist; so sitzt sie nun unter den Passagieren dieser Klasse: unter Dienstboten, Arbeitern mit ihren Frauen, armen Reifenden. Da ruft eines ihrer Kinder: »Mama! Graf Paul ist unter den Passagieren.« Sie wendet sich um und sieht zwar nicht diesen Bekannten, dafür aber einen Mann mit feinen Zügen und weißen Händen, dessen grober, alter Arbeiteranzug ihr eine Verkleidung zu sein scheint. Er ist der unzertrennliche Genosse einer einfachen Londoner Arbeiterfamilie: der Mann ist ein ungehobelter Mensch, ununterbrochen mit Essen beschäftigt, wenn er nicht seine Pfeife schmaucht, die Frau auf den ersten Blick unscheinbar; sie haben eine Tochter von ungefähr vierzehn Jahren bei sich, ein niedliches Kind. Die Gräfin meint zuerst, der junge Mann, in welchem sie einen politischen Flüchtling, einen Polen, vermutet – es spielt im Jahre 1831 – fühle sich von dem jungen Mädchen angezogen; da bemerkt sie, daß es die Mutter ist, deren Blick unverwandt an ihm hängt. Und diese Frau ist nicht mehr jung, obschon sie vor wenigen Jahren noch hübsch gewesen sein mag; ihre Haltung ist trotz des abgetragenen Kleides elegant und sie hat prachtvolles Haar. Mit einer Sorgfalt, die nicht Liebe ist, sondern nur zärtliche Achtsamkeit auf die, deren Herzen man teuer, hält der junge Mann den Schirm über sie und hüllt sie, weil es zu regnen anfängt, in ihren Mantel; für ihre kleine Knaben kauft er teure Trauben. Der Gräfin kommt der Gedanke, daß er in der fremden Stadt, wo er Sicherheit gesucht, an dieser armen Vorstadts-Familie Freunde gefunden habe. Aber er will, gleich ihr selbst, in Mainz landen, während die Anderen mit dem Schiffe weiterreisen.
»Er schickte sich an das Schiff zu verlassen. Ich sah nun den Jammer. Er küßte die zwei kleinen Knaben, umarmte den Mann, reichte der Tochter die Hand (und das Kind lächelte boshaft, neugierig wie eine kleine Eva); er drückte der Frau beide Hände, indem er ihrem Blick auswich.« Da ertönt das letzte Glockensignal. Er eilt über |365| die Brücke und steht am Ufer. Alle grüßen und winken ihm nach; die Kinder, für welche Alles ein Spiel ist, rufen mit einer Art von Freude Lebewohl.
»Aber die Frau, o die Frau! Unbeweglich blieb sie stehen mit erhobenem Arm, ein rot und blaues Taschentuch in der Hand. Sie ließ es nicht flattern; sie schien leblos, und wohl hätte sie verdient, daß der Himmel sich ihrer erbarmte und sie versteinte […] Ich dachte: Arme Seele! Du Witwe einer wahnsinnigen Liebe, wie soll dies werden bis zum Abend, und morgen, und immer! Dieser plumpe, rohe Mann, diese tiefe Armut, diese Tochter, welche Alles weiß und keineswegs mit nachfichtigen Blicken auf der Reise Alles ausgespäht – welch’ ein Schicksal!« Am nächsten Tage, schließt die Gräfin, da der junge Mann mein Reisegefährte war, richtete ich die Worte an ihn: »Sie sind heute sehr einsam.« – »Ja,« antwortete er kalt, »direkt von London aus bin ich nun « seit sechs Wochen mit diesen braven Leuten gereist.« – Die aristokratische Überlegenheit des Tones stand in Widerstreit mit den wohlwollenden Worten. »Und sehen Sie dieselben bald wieder?« – »Niemals,« antwortete er mit einem eigentümlichen Lächeln; »ich werde ihnen sicher nimmermehr begegnen; ich reife nach der Schweiz und von dort aus noch weiter.« – –
Ich mache noch aufmerksam auf die kleine, geniale Komposition »Herr Jean, der Schullehrer«. Es ist eine Erzählung in metrischer Form von einem armen, vater- und mutterlosen Dorfschulmeister, der in einer Findelanstalt erzogen wurde und eines Tages erfährt, wer sein Vater ist: kein Geringerer als der berühmte Jean Jacques Rousseau, welcher bekanntlich alle seine Kinder, die ihm seine Therese geboren, aussetzen ließ. Bisher hatte der Schullehrer noch Nichts von Rousseau gelesen. Nun beginnt er damit und liest mit großer Begeisterung Emile, Heloise und all’ die anderen Werke. Er fühlt tiefer als irgend ein Anderer sowohl die geniale Wärme, als auch den geringen Grad von Ge|366|wissenhaftigkeit, welche die Bücher enthalten. Zuletzt kann er der Luft nicht widerstehen, seine Eltern kennen zu lernen. Er reist nach Paris, findet das Haus und steigt die Treppe empor. Zu oberst, wo eine Thür halb offen steht, hört er das Schelten einer gellenden Frauenftimmez hier ift sein Ziel. Er tritt ein und versucht eine passende Einleitung für sein Anliegen zu finden. Der alte Mann sitzt, den Rücken gegen ihn gekehrt, über seinen Schreibtisch gebeugt; er hört ihn an, ohne sich umzudrehen. Der Sohn bringt stammelnd sein Anliegen vor, aber noch eh’ er den Grund seines Kommens erklärt hat, trifft ihn ein lauernder Blick, der ihn als Lauscher und Späher beargwöhnt und ihn verjagt. Zum zweiten Male fühlt er sich verstoßen von seinem Vater – von dem Vater, welchen er sich von Gott auf den Knieen erbitten wollte, und zu dem er sich mit Stolz vor aller Welt bekannt haben würde; zum zweiten Mal von seiner Mutter, jener Frau mit dem rohen Äußern und dem harten Blick. Und er eilt fort«, wieder aufs Land, um als demütiger Schullehrer einige von den Wahrheiten zu verwirklichen, die sich in den Schriften feines Vaters vorfinden und durch seines Vaters Leben verleugnet werden. Indem er als Lehrer die Kinder erzieht, treibt der wahre Kern in Rousseaus »Emile« in dem wirklichen Leben Keime.
»Les Pensées d’Août« erschienen 1837. Von da ab ist Sainte-Beuve ausschließlich Kritiker.
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