Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[11]| II.

Auf diesem Hintergrunde von Grau in Grau, gebildet aus den Kutten der Restaurationszeit und den Schirmen des Julikönigtums, in dieser Gesellschaft, wo die Kapitalmacht, stark wie Herkules, schon neugeboren, schon in der Wiege die ganze äußere Romantik des Lebens erstickt hatte, auf dieser Bühne, über welche ein unsichtbarer Finger mit grauen Buchstaben das Wort »Juste-milieu« geschrieben hatte, tritt jetzt eine flammende, leuchtende, polternde, die Leidenschaft und das Scharlachrote anbetende Litteratur hervor. Alle Bedingungen waren ja vereint, um die dichterischen und künstlerischen Regungen junger unruhiger Gemüter mit Gewalt in romantische Schwärmerei, in glühende Verachtung der öffentlichen Meinung, in die Vergötterung der ungeregelten Leidenschaft und der ungebundenen Genialität hinzutreiben.

Der Haß gegen den Bourgeois wurde, wie in Deutschland ein Menschenalter früher der Kriegsruf gegen den Philister, das gemeinsame Feldgeschrei. Aber während das Wort Philister den Gedanken an die Ofenecke und die Pfeife hervorruft, spielt Bourgeois auf die absolute Herrschaft der ökonomischen Interessen an. Durch den naturgemäßen Gegensatz zur Nützlichkeitslehre und zur Plutokratie empfing die geistige Strömung in den schon emporgekommenen und noch mehr in den keimenden Talenten eine Schwenkung in die prinzipielle Opposition gegen alles Bestehende und Gewohnheitsmäßige hinein und zugleich eine heftige Förderung. Die Religion der Kunst, der Freiheit in der Kunst, ergriff plötz|12|lich alle Herzen. Die Kunst war das Höchste, das Einzige, das Licht und die Flamme, ihre Schönheit und Kühnheit allein gab dem Leben Wert.

Die jungen Leute hatten in ihrer Kindheit von den großen Begebenheiten der Revolution gehört, das Kaisertum erlebt und waren Söhne der Helden oder der Opfer. Ihre Mütter hatten sie in einer gewaltig bewegten Zeit zwischen zwei Schlachten empfangen, und der Kanonendonner hatte ihr Eintreten in die Welt begrüßt. So geschah es, daß für die angehenden Jünger der Dichtung und der Malerei es damals nur zweierlei Arten von Menschen gab, die flammenden und die grauen. Sie träumten von einer Kunst, die das Blut, den Purpur, das Licht, die Bewegung, die Kühnheit vertreten sollte, sie verschmähten aufs Tiefste die bisherige korrekte und farblose Litteratur und Kunst. Alles um sie her in der zeitgenössischen Welt schien ihnen unpoetisch, utilitarisch, genieverlassen; sie wollten dieser Gegenwart ihre Geringschätzung zeigen und kehrten ihr den Rücken, um so nachdrücklich wie möglich ihre Bewunderung des Genies und ihren Haß gegen die Regel, die Einförmigkeit und die Spießbürgerlichkeit an den Tag zu legen. Denn als die bürgerliche Gesellschaft die Macht ergriff, war zum erstenmal in der Weltgeschichte die Spießbürgerlichkeit eine Macht geworden.

Von dem Standpunkte unserer Tage gesehen, scheint es, als ob die Jugend damals jünger gewesen, als die Jugend gewöhnlich zu sein pflegt, reicher, frischer, glühender, als ob sie mehr Feuer in dem Blute gehabt habe. Ich denke mir es so, daß das junge Geschlecht, welches während der Revolution den sozialen und politischen Zustand Frankreichs umgestaltet hatte und in diesem Beruf ausging, und das während des Kaisertums auf allen Schlachtfeldern in Frankreich, Italien, Deutschland, Rußland, Ägypten sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, jetzt mit derselben Begeisterung und Leidenschaft sich auf Litteratur, Poesie und die bildenden Künste warf. Auch dort waren Umwälzungen auszuüben, Siege und Land |13| zu gewinnen. Während der Revolution hatte die Jugend für Freiheit und Gleichheit geschwärmt, unter Napoleon den Kriegsruhm angebetet, jetzt vergötterte sie die Kunst.

Zum erstenmal wird in Frankreich das Wort Kunst, von der schönen Litteratur gebraucht, eine stehende Bezeichnung. In dem achtzehnten Jahrhundert hatte die Litteratur gestrebt, sich als Philosophie zu formen und zu gestalten, und diese Benennung faßte weit mehr in sich, als man heutzutage unter dem Namen Philosophie versteht. Jetzt strebte die ganze Litteratur nach der Würde und dem Namen der Kunst.

Dies beruhte darauf, daß die abstrakte und räsonnierende Geistesrichtung, die zur Zeit des Klassizismus in dem Denken wie in dem Schaffen hervortritt, im neuen Jahrhundert langsam einer Vorliebe für die Konkretion, für das Sinnlich-Anschauliche gewichen war. Diese neue Vorliebe beruhte aber tiefer wieder darauf, daß man die Natur, die primitive, unbewußte, volkstümliche, noch nicht zivilisierte Natur, dem zivilisierten Geistesleben vorzog. Weswegen? Weil ein naturwissenschaftlich und historisch gesinntes Zeitalter einem rationalistischen gefolgt war. Man wünschte nicht Philosoph zu heißen, denn man sah es für etwas Höheres an, ein ursprüngliches Naturell zu haben, als ein bewußter Denker zu sein. Man verschmähte die poetische Literatur des vorigen, ja sogar des siebzehnten Jahrhunderts, weil sie rationell war, blutlos und geschmackvoll, in Hinblick auf Sitte und Regel gemacht, nicht geworden und gewachsen erschien.

Es verstand sich von selbst, daß ein Geschlecht, welches den Feldzug nach Rußland hinter sich hatte, sich nicht besonders für die seit den Zeiten Ludwigs XV. unveränderte Etiquette des französischen Trauerspiels zu interessieren vermochte; aber an und für sich schon mußte der Jugend die neue Auffassung der Poesie Abscheu gegen Regeln und akademische Grundsätze einflößen. Denn wie konnte die Kunst als Produkt eines unbewußten, von geheimniß |14| vollen Naturgesetzen beherrschten Hervorbringens äußeren Regeln unterworfen sein!

Eine Bewegung, die an die Renaissance erinnert, hatte die Gemüter gepackt. Es war, als ob die Luft, die man atmete, etwas Berauschendes hätte. In jener langen Zeit, während Frankreich geistig still stand, hatten die großen Nachbarvölker, Deutsche und Engländer, es weit überholt, einen Vorsprung in der Befreiung von alten, hemmenden Traditionen gewonnen. Man wußte es, man fühlte es mit Demütigung, und dieses Gefühl gab dem neuen Kunstenthusiasmus einen Stachel. Gleichzeitig kamen die fremden zeitgenössischen oder älteren, aber bisher unbekannten Werke über die Grenzen und revoltierten die jungen Gemüter. Man las Shakespeare und Walter Scott, Byrons »Corsar« und »Lara« in Übersetzungen; man verschlang Goethes »Werther« und Hoffmanns »Phantasien«.

Und auf einmal fühlten die Pfleger der verschiedenen Künste sich als Brüder. Die Musiker inspirierten sich an fremden und inländischen Poesien. Dichter, wie Hugo, Gautier, Mérimée , Borel, verstanden zu zeichnen und zu malen. Man las Gedichte in den Ateliers der Maler und Bildhauer; der junge Schüler in der Werkstatt des Delacroix oder des Dévéria summte bei seiner Staffelei eine Ballade von Victor Hugo. Einzelne der großen fremden Dichter, wie Scott und Byron, beeinflussen auf einmal die Dichter (Hugo, Lamartine, Musset), die Musiker (Berlioz, Halevy, Felicien David), und die Maler (Delac1oix, Delaroche, Ary Scheffer). Die Künstler strebten ihr eigenes Gebiet zu überschreiten, um sich einer Schwesterkunst zu nähern. Die Musik wird bei Berlioz und Félicien David malend, Programmmusik; die Malerkunst nähert sich bisweilen der Illustration von Poesie. Hauptsächlich ist es aber die Malerei, welche die anderen Künste, besonders die Poesie, und zwar zu ihrem Besten, beeinflußt. Der Liebende bat nicht mehr wie zu Racines Zeit die Dame seines Herzens, »seine Flamme zu krönen«, |15| man forderte poetische Bilder, die sich malen ließen und für das Auge nicht reiner Blödsinn waren.

In den wenigen Jahren von 1829 bis 1831 stellt Delacroix seine berühmten Gemälde »Der Bischof von Lüttich« und »Die Freiheit auf der Barrikade« aus, erweckt Auber im Opernhaus einen Sturm mit der »Stummen von Portici«, erringt Meyerbeer einen ebenso großen Erfolg mit »Robert le Diable«, wird Victor Hugos »Hernani« zum ersten Mal im Theatre francais aufgeführt und macht Dumas’ »Antony« auf einer anderen Bühne zum ersten Mal Furore. Gleichzeitig entstanden Hugo in der Poesie, Delacroix in der Malerkunst, David d’Angers in der Bildhauerkunst, Berlioz in der Musik, Sainte-Beuve und Gautier in der Kritik, Frederie Lemaitre und Marie Dorval in der Schauspielkunst, und in der ausübenden Musikkunst die zwei dämonischen Virtuosen Chopin und Liszt. Alle wie Einer verkünden sie das Evangelium der Natur und der Leidenschaft, und rings um sie herum stehen junge Männer, die Kunst und Poesie auf nahverwandte Weise auffassen und pflegen.

Jene Geister wußten es nicht immer, daß sie vor den Augen der Nachwelt eine natürliche Gruppe bilden würden. Viele der größten unter ihnen fühlten sich ihr Leben lang einander fremd und meinten, in verschiedenem Geiste, sogar in entgegengesetzter Richtung zu arbeiten. Sie hatten nicht ganz Unrecht, denn die Grundabweichungen unter ihnen können stark sein. Aber doch verbinden gemeinsame Vorzüge, Vorurteile, Ziele und Fehler sie zu einem Ganzen. Und weit häufiger, als es sonst die Regel ist, fühlten die, welche die Betrachtung zusammenzufassen geneigt ist, sich schon bei ihren Lebzeiten innig zu einander gezogen, und viele der Besten legten früh ihre Hände in die Hände der Anderen und bildeten einen Bund. Geht man den Verbindungsgliedern nach, so findet man ein Band, das den ganzen Kreis zusammenhält.

Wenn man heutzutage, so viele Jahre danach, im trockenen litterarhistorischen Sinne die Worte sagt: »Sie bildeten eine Schule,« |16| so stellt man sich’s selten hinlänglich lebendig vor Augen, was es heißt, daß in Litteratur oder Kunst eine Schule sich bildet. Es liegt ein geheimnisvoller Zauber in einer solchen Stiftung. In der Regel geht es so zu: ein einzelner hervorragender Geist, der lange unbewußt oder halbbewußt, zuletzt bewußt sich von Vorurteilen zur Klarheit durchgekämpft und durch dessen Gesichtskreis, als Alles vorbereitet war, der Blitz der Genialität gezuckt hat, spricht, wie Hugo in einer Vorrede auf einigen Prosaseiten oder wie Andere in einem Gedicht, einer Rede, Gedanken aus, die nie früher so gedacht und gesagt wurden, die vielleicht nur halbwegs wahr oder noch undeutlich sind, die aber die sonderbare Eigenschaft besitzen, die herrschenden Interessen und Eitelkeiten tödlich zu verletzen, und zugleich einem neuen Geschlecht wie Locktöne, wie eine Tollkühnheit, wie eine Losung in die Ohren klingen.

Kaum sind diese Worte ausgesprochen, so folgt mit erstaunlicher Schnelligkeit wie das Gebell einer Meute die tausendzüngige Antwort der älteren Generation. Und dann – dann kommt erst Einer, dann noch Einer, dann ein Dritter zu dem Fürsprecher der neuen Richtung und zeigt ihm, daß das Wort, das er ausgesprochen hat, in ihm Fleisch und Blut geworden ist. Die, welche noch kürzlich einander ebenso unbekannt waren, wie sie jeder für sich noch der Welt unbekannt sind, und die in ihrer Isoliertheit sich unglücklich fühlten, die treffen sich und spüren mit einer eigentümlichen Befriedigung, daß sie sich verstehen, daß sie dieselbe Sprache sprechen, die sonst unter den Zeitgenossen niemand spricht. Sie sind sehr jung, und doch hat jeder schon seinen Lebensinhalt, der Eine seine teuer erkauften Genüsse, der Andere seine abhärtenden Leiden, jeder kommt mit seiner Entrüstung, seinem Ehrgeiz, seinen Bedürfnissen und Hoffnungen, und aus diesem Lebensstoff hat jeder sein Maß von Enthusiasmus geschöpft.

Das eigentümlich Französische bei der Stiftung der romantischen Schule ist jedoch zweifach: erstens der Hang unbegrenzt zu revol|17|tieren, alten Ideen und Formen, angeerbter Moral und Sitte, jeglicher Überlieferung einen prinzipiellen Krieg zu erklären, das ist der veränderungssüchtige revolutionäre Trieb der Rasse – dann das Bedürfnis, sich in dieser Opposition eine Art Disziplin aufzulegen, sich um einen Führer zu scharen und sogar in einer rein geistigen, nur auf individuelle Art zu betreibenden Angelegenheit wie der Kunst sich fast militärisch zu associieren.

Doch das Schönste bei dieser Krystallisierung junger, künstlerisch angelegter Geister zu einer Schule war die Scheu, die Ehrfurcht, die sie trotz aller Kameradschaft vor einander hegten. Jeder war dem Anderen ein Venerabile. Dieser Zug ist nicht spezifisch französisch, er ist menschlich. Junge produktive Geister betrachten einander als etwas Wundervolles, aus dem immer neue Überraschungen bevorstehen können. Die innere Werkstatt des Einen ist ja dem Anderen ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch. Er weiß nicht, welches Werk das nächste Mal aus dieser Werkstatt hervorgehen wird, ahnt nicht, welche Genüsse er von dem Anderen zu erwarten hat. Sie achten an einander etwas, das ihnen höher steht als die Persönlichkeit und der in der Regel noch unentwickelte Charakter: das Talent, mit welchem sie ihrer Gottheit, der Kunst, gegenüberstehen.

Selten hatte jedoch diese gegenseitige Verehrung junger und reiner Gemüter – die in Verfallsperioden ihre Karikatur in der berechnenden gegenseitigen Bewunderung hat – so das Gepräge von romantischer Schwärmerei wie bei der Generation von 1830. Fast alle poetischen Erzeugnisse jener Zeit beweisen, daß das junge Geschlecht sich in den Gefühlen der Freundschaft und Brüderschaft einen Rausch getrunken hatte. Die Gedichte Hugos an Lamartine, Bonlanger, Sainte-Beuve, David d’Angers – die Gedichte Gautiers an Hugo, Jehan du Seigneur, Petrus Borel – die Gedichte Mussets an Lamartine, Nodier u. s. w., die von Sainte-Beuve an fast alle Koryphäen der Schule, die Artikel von Frau de Girardin, |18| die Dedikationen Balzacs sind Zeugnisse einer ausrichtigen Bewunderung, die den sprüchwörtlichen Neid der Poeten nicht auskommen ließ.

Sie verherrlichten sich nicht nur, sie halfen einander. Emile Deschamps zeigt Hugo den Weg zur poetischen Behandlung des spanischen Romancero; Gautier schreibt das schöne Tulipansonett in Balzacs »Un grand homme de province à Paris« und hilft ihm seine theatralischen Stoffe dramatisieren; Sainte-Beuve liest die Manuskripte durch für George Sand; sie und Musset lassen zu einem gegebenen Zeitpunkt ihre Inspirationen sich an einander entzünden; Mérimée endlich verbindet die Realisten Beyle und Vitet mit dem eigentlich romantischen Lager.

Die kurze Zeit, wo sie alle sich begegnen, ist die Blütezeit der poetischen Literatur. Nicht viele Jahre später ruht Nodier in seinem Grabe, Hugo sitzt, aus Frankreich verwiesen, auf Jersey, Dumas treibt litterarische Industrie, Sainte-Beuve und Gautier werden in den Kreis der Prinzessin Mathilde hineingeflochten, Mérimée präsidiert bei den Liebeshöfen der Kaiserin Eugénie, Musset brütet einsam über das Absinthglas gebeugt und George Sand hat sich nach Nohant zurückgezogen.

Jeder für sich ging in reiferen Jahren neue Verbindungen ein und entwickelte sich dadurch, aber das Kühnste und Frischeste, wenn auch nicht immer das Feinste und Schönste, leisteten sie zu der Zeit, da sie sich Rue Notre Dame des Champs in jenem Hause trafen, wo Hugo und seine junge schöne Frau mit ihren 2000 Francs Pension Haus hielten, oder in der Dachstube Petrus Borels, wo der spanische Hernani-Mantel des Wirtes die Wand mit einer Skizze von Deveria und einer Kopie nach Giorgione theilte, und wo die jungen Romantiker sich halb stehend, halb hockend versammelten, denn zu bequemem Sitz war der Platz zu eng.

Diese jungen Männer fühlten sich als Verwandte, Verschworene, und so erhielten ihre Werke ein gemeinsames Aroma, einen Duft |19| wie den, welchen edle Weine haben, die aus einem Jahre stammen, wo die Weinernte besonders vorzüglich geriet. Und mit diesem Bouquet von 1830 läßt sich vielleicht kein anderes in unserem Jahrhundert vergleichen.

Man suchte und begehrte in allen Künsten Bruch mit der Konvention. Die innere Flamme sollte die musikalischen Formen durchglühen und befreien, die Linien und Konturen verzehren und das Gemälde zur Farbensymphonie gestalten, endlich die Dichtkunst verjüngen. Man suchte und begehrte in allen Künsten Farbe, Leidenschaft und Stil; die Farbe so energisch, daß der genialste Maler des Zeitalters, Delacroix, die Zeichnung über sie versäumte; die Leidenschaft so heftig, daß Lyrik und Drama Gefahr liefen, in Fieber und Krampf sich zu verlieren; den Stil mit einer so absoluten Kunstbegeisterung, daß bei einzelnen der Jüngeren, wie den beiden Gegensätzen Mérimée und Gautier, die poetische Humanität in lauter Stil aufging.

Man suchte und verherrlichte überall das Primitive, das Unbewußte, das Volkstümliche. Wir sind Rhetoren gewesen! rief man aus; wir haben nie das Ursprüngliche und das Unlogische begriffen, nie den Barbaren, nie das Volk, nie das Kind, nie das Weib, nie den Dichter verstanden!

Früher hatte das Volk in der Poesie nur den Hintergrund gebildet. In Victor Hugos Dramen betrat der tiefempfindende, zornschnaubende Plebejer die Bühne. Früher hatte der Barbar wie ein Franzose des achtzehnten Jahrhunderts gesprochen. Mérimée stellte in Colombas Gestalt barbarische Gefühle in ihrer naiven Wildheit und Frische dar. Bei Racine (in Athalie) hatte das Kind wie ein Miniatur-Erwachsener gesprochen; Nodier legte mit kindlichem Herzen den Kindern unschuldige Worte in den Mund. Früher war in französischer Poesie die Frau meistens bewußt und räsonnierend wie ein Mann gewesen. So bei Corneille, Molière und Voltaire. Corneille hatte der Tugend, Crebillon fils dem |20| Laster gehuldigt, aber Tugend und Laster waren beide bewußt und erworben. George Sand stellte dagegen den angeborenen Adel und die ursprüngliche Güte edler Frauenherzen dar. Madame de Staël hatte in »Corinna« den überlegenen Geist der Frau als großes siegreiches Talent verherrlicht. George Sand schilderte in »Lélia« das weibliche Genie als mächtige Sibylle. Nach der alten Auffassung war der Dichter (wie Racine und Molière) ein Hofmann, (wie Voltaire und Beaumarchais) ein Weltmann, oder (wie Lafontaine) ein guter Kerl gewesen. Jetzt wurde er das ausgestoßene Stiefkind der Gesellschaft, der Hohepriester der Menschheit, oft arm und übersehen, aber mit dem Stern an der Stirn und der Flamme der Lyrik auf der Zunge; Hugo pries ihn in seinen Liedern als den Hirten der Völker, und de Vigny stellte ihn in »Stello« und »Chatterton« als das sublime Kind dar, das lieber vor Hunger stirbt, als daß es durch gewöhnliche Arbeit seine Muse erniedrigt, das aber noch im Tode die Menschheit segnet, die es zu spät erkennt.

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