Mérimée begnügt sich nicht damit, sich als Spanierin zu vermummen. Er sieht als echter Romantiker die Hauptausgabe der Dichtkunst darin, ohne Schminke oder Firnis den sittlichen Zustand der verschiedenen Völker und Kulturstufen zur Anschauung zu bringen; so trat das, was man damals »Lokalfarbe« nannte, rein und kräftig in seinen Schilderungen hervor. Deswegen macht er sich zum Bewohner der verschiedensten Länder und zum Genossen früherer Zeitalter. Er weiß wie der Maure, Neger, Südamerikaner, Illyrier, Kosak u. s. w. zu fühlen, doch sucht er alles Ferne nicht mit gleicher Vorliebe auf, denn er scheut die Civilisation und die moderne Politur. Wie Théophile Gautier bei seinen Reisen jedes Land zu derjenigen Jahreszeit besuchte, in welcher, dessen klimatische Eigentümlichkeiten am schärfsten hervortreten: Afrika im Sommer, Rußland zur Winterzeit – so unternimmt Mérimée geistige Ausflüge nach den Gegenden und zu den Stämmen, wo die kalte Geringschätzung eines Menschenlebens am hervorstechendsten, Leidenschaftlichkeit und Sinnlichkeit am heißesten sind, wo die Charaktere besonders kräftig wild, die primitiven Vorurteile besonders mächtig austreten. Er beschränkt sich nicht auf die Gegenwart: er vertieft sich in die Greuel der mittelalterlichen Bauernkriege; er beschwört die Zeit Karl IX. herauf und ordnet mit energischer Kunst seine Erzählung um die Bartholomäusnacht als Katastrophe; er ist mit dem Spanien des vierzehnten und dem Rußland des siebzehnten Jahrhunderts, wie mit dem alten Frank|303|reich und dem alten Rom vertraut. Als Archäologe und Historiker hat er Inschriften und Denkmäler, Gebäude, Schmuckgegenstände und Waffen studiert, Dokumente und Manuskripte in den verschiedensten, den gewöhnlichen Litteraten verschlossenen Sprachen und Dialekten durchforscht. So erreicht er eine für seine Zeit außerordentliche Treue in seinen Gemälden.
Die Leidenschaft für das ursprünglich Kräftige in seiner nackten Wahrheit war es, welche ihn zur Geschichte führte und den historischen Sinn in ihm weckte. Auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten wählte er überall die gewaltthätigsten und verwegensten Charaktere zu seinen Helden: Sulla, Catilina, Don Pedro den Grausamen von Castilien, den ersten falschen Demetrius u. s. w. Seine peinliche Gewissenhaftigkeit als Gelehrter und seine Behutsamkeit, nicht etwa der Einbildungskraft eine Mitwirkung bei der Wissenschaft zu gestatten, lassen seine historischen Werke tot erscheinens. (Die besten unter ihnen sind noch »Don Pèdro I.« und »Episode de l’histoire de la Russie«.) Wirkliches Leben bekommt die Geschichte unter seinen Händen nur in dichterischer Gestaltung. Nachdem Vitet mit seinen meisterhaften »Scènes historiques« gezeigt, wie man in freien dramatischen Scenen die Geschichte wahrheitsgetreu darstellen kann, gab Mérimée in »La Jacquerie« Frankreich das Bild eines viel früheren und wilderen Zeitalters als jenes war, welches sein Vorgänger und Lehrmeister verwertet hatte. Den Geist des Werkes bezeichnet er vorzüglich durch das Motto aus Molière (Mascarille): »Ich stehe gegenwärtig im Begriff, die ganze römische Geschichte in Madrigale zu übertragen.« Bewundernswert hat Mérimée es verstanden, sich in die Gebräuche und Thorheiten, Anschauungen und Vorurteile einzuleben, welche in jener fernen Zeit die Gedanken der Menschen beschränkten. Ich hebe beispielsweise einen Charakter hervor: Isabella, die Tochter des Barons von Apremont, ist der Typus einer edeln, liebenswürdigen jungen Dame der Feudalzeit. Sie ist |304| herzensrein und sittenstreng; sie fühlt Barmherzigkeit gegenüber den Leidenden und Überwundenen. Sie ist gütig gegen den kühnen treuen Knappen, der für sie durch Feuer und Wasser geht, und bittet ihren Vater, ihr diesen Leibeigenen zu schenken. Zum Dank dafür, daß er ihr das Leben gerettet, macht sie ihn zu ihrem Stallmeister; sie stickt ihm sogar einen Beutel. Aber er wagt sie zu lieben – da ist Alles aus. Sie überhäuft ihn mit Verachtung und Hohn, jagt ihn entrüstet fort, betrachtet sich als fast entehrt, daß er, der unfrei Geborene, es gewagt, die Augen zu ihr zu erheben. Man denke sich nun als Gegensatz, wie ein gewöhnlicher moderner Romanschriftsteller uns eine solche edle Jungfrau aus dem Mittelalter schildern würde: wie vorurteilsfrei sie auf die Befangenheit ihres Zeitalters herabsehen und das adelige Herz hinter dem schlichten Waffenrock zu schätzen wüßte – und man wird den Abstand zwischen einer spiritualistisch abstrakten und einer unerschrocken historischen Darstellung einer barbarischen Epoche fühlen. Einen Fehler hat indes das Werk: der Dichter häuft so viele grausame und scheußliche Handlungen auf einander, daß die durchgehende Wildheit seiner Charaktere die sozialen und individuellen Unterschiede übertönt.
Ganz anders heben sich in seiner »Chronique du règne de Charles IX« alle Gestalten vom Hintergrund ab. In diesem, den Walter Scottschen Mustern nachgebildeten, sie stilistisch aber weit übertreffenden, Roman ist jeder Charakter eigentümlich, ohne modern zu sein (nur die Figur des George Mergy hat einen etwas modernen Anstrich); ja, der Dichter hat hier seine Aufmerksamkeit so sehr auf alle Einzelheiten gerichtet, daß jedes Kapitel durch seine plastische Komposition ein kleines Ganzes bildet, und das Totalbild nur als Mosaik der ausgeprägten Charaktere und Situationen hervortritt. In der letzten seiner geschichtlichen Dichtungen »Les Débuts d’un Aventurier« fesseln ihn die primitive Gewandtheit, die eckige, frische Kosakeneigentümlichkeit seines falschen Demetrius, nicht aber die |305| geistigen, aus dem Betrug hervorgehenden Kollisionen, welche Schiller augenblicklich entdeckte. Das Stück Mérimée’s endigt ungefähr da, wo dasjenige Schillers beginnt; die Sitten einer bestimmten Menschengruppe zu einer bestimmten Zeit interessieren ersteren mehr als das abstrakt und gemeinsam Menschliche. Hier wie überall in seiner historischen Poesie begegnen wir darum nicht der Intelligenz- oder der Gefühlsseite, sondern der Willensseite des Lebens.
Läßt Mérimée die Handlung in der neueren Zeit spielen, so schildert er Zigeuner- und Räuberleben wie in »Carmen«, Blutrache wie in »Colomba«, oder eine geheimnisvolle Ermordung während der Brautnacht wie in »La Venus d’Ille« und »Lokis«; greift die Handlung in die moderne Gesellschaft hinein, dann stellt er entweder Eigentümlichkeiten derjenigen Klassen dar, die auf gespanntem Fuß mit der Gesellschaft leben, wie die kühne Sprache und lockern Grundsätze junger Tänzerinnen und Schauspielerinnen, die erotischen Anfechtungen katholischer Priester, oder er begnügt sich mit dem, was das Leben der privilegierten Stände an schärferem Gepräge übrig läßt: ein zärtliches Liebesverhältnis, dem ein Duell für immer ein Ende macht, ein Ehebruch, der zum Selbstmord führt, irgend ein tüchtiger Skandal, den unter der Nase einer schlaffen, heuchlerischen Gesellschaft abzubrennen, ihm ein wahres Vergnügen bereitet. Seine Muse fühlt sich überall heimisch, wo sie dem kalten Schicksal, dem starken Zufall oder heftigen Leidenschaften begegnet, welche bald die gesellschaftlichen Verhältnisse siegreich durchbrechen, bald von denselben als verbrecherisch gebrandmarkt werden. Deswegen war ihm auch die neuere russische Litteratur so sympathisch: in den von ihm übersetzten Dichtungen Puschkins (»Pique Dame« und »Die Zigeuner«) werden mit seinen eigenen verwandte Sujets behandelt.
Es finden sich bei Mérimée zwei Eigenschaften, welche ihn abgeneigt machen, die scharfen Katastrophen des Menschenlebens |306| tragisch aufzufassen: eine gewisse Furcht, daß jene Schärfe, die er liebt, durch ein versöhnendes Element ihren Stachel verlöre, und sein Unglaube an ein größeres, zusammenhängendes Ganzes, das den einzelnen Fall in sich begreift. Wenn er dennoch zuweilen wahrhaft tragisch wirkt, so geschieht es gegen seine Absicht, durch das reifere, tiefere Studium der Charaktere und das mit der zunehmenden Lebenserfahrung steigende Interesse für die Fälle, in welchen Charakter und Schicksal in notwendigem Zusammenhang stehen. Wenn in seinem Roman »Chronique du règne de Charles IX« der Bruder von der Hand des Bruders fällt, sammelt der die Symbole mit seinem Spott verfolgende Dichter gleichsam gegen seinen Willen das ganze Entsetzen und den ganzen Wahn des Religionsund Bürgerkrieges in ein großes tragisches Symbol. Wenn in seiner Novelle »La Partie de trictrac« der unglückliche Offizier, welcher ein einziges Mal in seinem Leben falsch gespielt hat, durch das Bewußtsein seiner Schande so zu Grunde gerichtet wird, daß er im Tode die einzige Erlösung sieht, dann gestaltet sich die Erzählung unwillkürlich zu einer Tragödie des Ehrgefühls.
Mérimée versucht in einem andern kleinen Meisterwerk »La double Méprise« das Gewebe von Zusälligkeiten, von einander kreuzenden und einander mißverstehenden Instinkten zu schildern, die das Leben sinnlos und selbst das Traurigste ebenso vernunftwidrig wie betrübend und häßlich machen; aber indem er die innere Geschichte der peinlichen Begebenheit erzählt und uns verstehen lehrt, daß das Vernunftwidrige geschehen mußte, hört es auf absurd zu sein. Der Inhalt der Erzählung ist mit kurzen Worten der, daß eine junge Frau, Julie de Chaverny, die sich in ihrer Ehe unzufrieden fühlt und diese Unzufriedenheit als ein Unglück zu empfinden beginnt, durch eine Kette zarter, überraschender, aber wie eiserne Ringe zusammenhängender Seelenzustände dahin gelangt, einem Manne, den sie in Wirklichkeit gar nicht liebt, sich hinzugeben, und vor Verzweiflung darüber stirbt. Die Kunst Mérimée’s besteht hier in der Sicher|307|heit, mit welcher er den Leser durch das Labyrinth aller jener Gemütsbewegungen zu einem ebenso notwendigen wie der Vernunft widersprechenden Resultate führt. Unübertrefflich ist namentlich das Gespräch, in welchem Darcy, der, in der Gesellschaft ausgefragt, mit Bescheidenheit und Humor seine Thaten erzählt, gerade dadurch Julie zur Schwärmerei entflammt, sowie jene Unterhaltung im Wagen, während welcher Julie mit jeder Erwiderung, mit jedem Wort, mehr noch durch ihren Widerstand als durch ihre Geständnisse, ihrem Untergang immer näher rückt. Ich hebe folgenden klassischen Satz hervor, welcher all dem Vorausgegangenen sich anreiht: »Die arme Frau war in diesem Augenblick überzeugt, daß sie Darcy immer geliebt, ja, daß sie in all den sechs Jahren, während deren sein Anblick ihr nicht vergönnt gewesen, ihn mit derselben Glut, die sie jetzt erfüllte, geliebt habe.« Mérimée wußte genau, welche Allmacht im menschlichen Leben, welche gewaltige und tragische Triebkraft die unvermeidliche Illusion ist. Aus ihr läßt sich ja nicht nur die Hälfte alles menschlichen Glückes, sondern auch eine beträchtliche Summe alles menschlichen Elends erklären.
Noch näher kommt Mérimée dem eigentlich Tragischen, wo das Verhängnisvolle in den Charakter eindringt und sich mit ihm vermischt wie Gift mit dem Blute. So in der Novelle »Carmen«. Von dem Tage an, da José das Zigeunermädchen Carmen zum erstenmal sieht, tritt sein Leben aus der seitherigen Spur; mit strenger Notwendigkeit wird er, so gut und brav von Gemüt er auch ursprünglich ist, um ihretwillen zum Räuber und Mörder. Ja, Mérimée, der als junger Romantiker sich so weit wie möglich von den antikisierenden Tragikern entfernen wollte, kam in »Colomba« mit seiner modernen corsicanischen Heldin der griechischen Tragödie näher als irgend einer von den ehrenwerten Dichtern, die »Agamemnon’s nie aussterbende Familie« verherrlichten. Nicht mit Unrecht hat man Colomba mit Elektra verglichen. Wie diese geht sie im Gedanken an den ungerächten Tod ihres Vaters völlig auf, |308| wie Elektra entflammt sie den Bruder zur Blutrache; ja, sie ist sogar eine noch menschlichere und einfachere Tragödienheldin als jene des Sophokles, denn sie bewegt sich in dem Panzer ihrer furchtbaren Vorurteile liebenswürdig und naiv. Sie ist zugleich blutdürftig und kindlich, hartherzig und mädchenhaft; eine herbe Grazie ist der Grundzug ihres Wesens. Wer ist heutzutage so blind, daß er nicht sieht, wie viel näher diese naturwüchsige Tochter eines kleinen südlichen Inselvolkes den altgriechischen Frauengestalten steht, als alle jene auf hohem Kothurn einherschreitenden Theaterprinzessinnen, die sich auf der französischen Bühne Elektra, Antigone oder Iphigenie genannt hatten. Sie steht jedoch vielleicht in noch engerer Verwandtschaft mit den heidnischen Töchtern einer entlegenen nordischen Insel, mit den Frauengestalten der isländischen Sage, welche mit so leidenschaftlicher Hartnäckigkeit über dem Familienhaß brüten und regelmäßig die sich sträubenden Männer in die Blutrache hineintreiben. In dieser »Colomba«, der berühmtesten Schöpfung Mérimée’s, feiert die romantische »Lokalfarbe« ihren entschiedensten Triumph. Die Erzählung hat das unverfälschte Aroma der Geburtsinsel Bonapartes und ist vom Hauch corsicanischen Geistes voll durchweht. Als ein Beweis für die Treue der Sittenschilderung nicht weniger als für den Erfolg des Buches verdient es angeführt zu werden, daß, als Mérimée wegen der Libri-Affaire im Gerichtssaal seines Urteils wartete, ein Corsicaner, der der Verhandlung beiwohnte, seines Zeichens vormaliger Bandit, sich ihm näherte und ihm für den Fall seiner Verurteilung Vendetta in Beziehung auf den Präsidenten des Gerichtshofes anbot. Es läßt sich kaum eine glänzendere Probe für die Echtheit der Farbe, die Mérimée aufgetragen, denken. Dieser müßte jedoch nicht er selbst gewesen sein, wenn er nicht (gerade zu der Zeit als er »Colomba« veröffentlichte) seinen Ruf als Theorienfeind dadurch gerettet hätte, daß er sich nach Kräften über jene famose Lokalfarbe lustig machte. In der 1840 geschriebenen Vor|309|rede zur zweiten Ausgabe von »La Guzla«, der von ihm fingierten Sammlung illyrischer Volkslieder, erzählt er, daß er »im Jahre des Heils 1827« Romantiker gewesen sei, für »Lokalfarbe« geschwärmt und der Ansicht gehuldigt habe, daß außerhalb der »Lokalfarbe« kein Heil sei. Unter »Lokalfarbe« habe er gleich seinen damaligen Genossen das verstanden, was man im siebzehnten Jahrhundert »die Sitten« nannte. Sie seien sehr stolz auf ihre Parole gewesen und hätten sich eingebildet, das Wort und die Sache erfunden zu haben. Die Begeisterung für die »Lokalfarbe« habe ihm u. a. den lebhaften Wunsch eingegeben, Illyrien zu besuchen. Da er wegen Mangel an Reisegeld den Plan habe aufgeben müssen, so sei er darauf verfallen, diese Reise im voraus zu beschreiben, um hinterher das Honorar auf deren wirkliche Ausführung zu verwenden. Nachdem auch dieser kühne Plan zu nichte geworden, habe er mit Hülfe eines Reisewerkes und der Kenntnis »von fünf bis sechs slavischen Worten« seine »aus dem Iyllrischen übersetzte« Balladensammlung fabriziert. Alle Welt habe die Mystifikation gläubig hingenommen.*)*
Ein deutscher Doktor namens Gerhard habe sogar seine »Guzla« mit zwei andern Bänden slavischer Poesien ins Deutsche übersetzt, und zwar im Versmaß der Originalgedichte, das er durch seine (Mérimée’s) Prosa entdeckt. Nachdem er solcherweise die Erfahrung gemacht, mit welch großer Leichtigkeit »Lokalfarbe« herzustellen sei, habe er Racine und den Klassikern ihren Mangel an dieser Substanz vergeben.Man fühlt durch den Scherz und den Witz recht wohl den |310| Ärger des vornehmen Dichters, einst, wenn auch nur in litterarischen Fragen und nur als Jüngling, einer Fahne gefolgt zu sein, einer Partei angehört zu haben. Reine Wahrheit sagt dieses lustige Vorwort nicht; denn wenn auch Mérimée’s illyrische Prosa-Balladen weiter keine glänzenden Vorzüge haben, so sind sie doch Erzeugnisse eines feinen, sorgfältigen Studiums und genau in dem Stil slavischer Volkslieder gehalten. Ohne etwas klein zu thun kann Mérimée schlechterdings nicht von sich sprechen. Seine Vorreden sind, wenn er ausnahmsweise einmal sich herabläßt, durch ein Vorwort sich in direkte Beziehung mit dem Publikum zu setzen, von einer nachlässigen, gleichgültigen Bescheidenheit, die noch sicherer als das ausgesprochenste Selbstgefühl den, welcher sich derselben als Form bedient, vor jedem Kontakt mit der Menge bewahrt.
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