Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[294]| XXIII.

Mérimée’s Ausgangspunkt als Dramatiker und Novellist ist ein litterarisch-polemischer. Obwohl er Talent zur Beobachtung hat, verfolgt er nicht – wie Balzac z. B. – den Zweck, die Welt, die er um sich sieht, des Breiten darzustellen. Er besitzt nicht den Ehrgeiz, Werke schreiben zu wollen, die ein Spiegelbild der Kultur und der Gefühle seiner Zeit geben; er will dem herrschenden Geschmack seiner Landsleute trotzen, will necken oder empören, und wählt sich dazu mit Vorliebe Stoffe, die der modernen gebildeten Gesellschaft fern liegen.

Es war natürlich, daß sein Unwille sich zuerst gegen die litterarische Sentimentalität kehrte. Der stolze und schüchterne Jüngling war von dem Gedanken durchdrungen, daß ein Schriftsteller die Pflicht habe, dem Publikum seine Ideen mitzuteilen, seiner Manneswürde aber schuldig sei, seine Gefühle für sich selbst zu behalten. Mit dieser Anschauung stand er jedoch in der damaligen französischen Litteratur fast allein. Rousseau hatte mit seinen Romanen und besonders mit seinen »Confessions« einem Schwelgen in halbwahren Gefühlen und einer Mitteilsamkeit, die nichts zurückhielt, die Bahn gebrochen; eine Reihe von Schriftstellern – von Chateaubriand beginnend bis zu Lamartine und Sainte-Beuve – folgten seinen Spuren; sie schnitten sich lebendig das Herz auf, um dem verehrten Publikum Einblick in ihr Innerstes zu gewähren, kurz, gaben sich auf jede Weise der Neugierde der vulgären Menge Preis. Und warum? Um ihre Teilnahme zu gewinnen. |295| Mérimée ist tausendmal zu stolz, sich dieselbe zu wünschen. »Ums Himmels willen keine Beichte!« sagt er zu sich, als er zum ersten Mal die Feder ergreift. Um nicht sentimental und elegisch zu werden, verbirgt er sich also ganz hinter die Menschen, welche er schildert, läßt sie und ihr Schicksal walten, giebt selten oder nie seine Meinung über ihre Handlungsweise zu erkennen; er macht sich unsichtbar, unhörbar, unentdeckbar. Dies kann er aber zufolge seines Wesens nur, indem er wieder diese Menschen zu geschlossenen, festen Charakteren macht, die ohne langes Plaudern oder weitläufiges Raisonnement ihrer Eingebung folgen, von ihren Leidenschaften fortgerissen werden und plötzlich zur Handlung schreiten. »Für mich«, sagt der südamerikanische Schiffskapitän in der Vorrede zu dem Drama »Die Familie Carvajal«, »sind alle Tragödienhelden eine Art phlegmatischer Philosophen ohne Leidenschaft, die Rübensaft statt Blut in ihren Adern haben. Wenn einer dieser Herren seinen Nebenbuhler im Duell oder anderswie umbringt – alsbald bringen ihn selbst die Gewissensbisse schier um, so daß er so weich wird wie ein Scheuerlappen. Ich habe 27 Jahre im Dienst gestanden, ich habe 41 Spanier getödtet, und nie hab ich derartiges in mir verspürt […] Personen, Gefühle, Begebenheiten, alles scheint uns falsch, wenn solche Stücke in der Offizierskajüte vorgelesen werden. Es sind lauter fürstliche Persönlichkeiten, die sich vor Liebe toll stellen, dabei wagen sie nicht, die Fingerspitzen ihrer Prinzessinnen zu berühren und halten sich auf Bootshakenlänge von ihnen entfernt.« – Mérimée schreibt also nicht für Spießbürger, denen die geringste nervöse Erregung Thränen in die Augen lockt, er wendet sich an stärkere Nerven, die kräftigerer Erschütterungen bedürfen, um bewegt zu werden. Darum nicht mehr diese reglementsmäßigen Einleitungen, Vorbereitungen und diese Ahnungen wie in der Schicksalstragödie! Menschen mit Blut in den Adern bedenken sich nicht lange, und Nervenschwache geben nur für die Blutlosen ein interessantes Schauspiel ab. Wenn eine |296| Frau liebt, was ist dann natürlicher, als daß sie es sagt, alle Rücksichten sprengt und den Abstandzwischen dem ersten Geständnis, dem ersten Kuß und der ersten Umarmung so kurz wie möglich macht? – Wenn ein Mann haßt mit dem echten wilden Hasse eines heißblütigen Mannes, was ist dann natürlicher, als daß er mit einem Stoß oder Schuß seiner Qual und des Gegners Leben ein Ende macht? – Will man nicht eine geschwächte, sondern eine kräftige Menschenrasse schildern, dann wenigstens verhält es sich so. Hieraus folgt bei dem Dichter die Neigung, jedem Gefühl den Charakter einer tiefen, gewaltigen Leidenschaft zu geben; hieraus der Trieb, sich in das Rohe und Gräßliche zu vertiefen und den Tod darzustellen, nicht wie in der Tragödie, sondern den wirklichen Tod in seiner ganzen Unbarmherzigkeit, hart und kalt, den Tod, der jedem Werke, das aus dieser Künstlerwerkstatt hervorgeht, die Krone aufsetzt. Hieraus, mit einem Wort, entsteht das Grausame bei Mérimée.

Er ist mit dem Tode vertraut. Wenn die alten Bezeichnungen ihm gegenüber ausreichten, könnte man ihn einen großen Tragiker nennen; aber Mérimée glaubt nicht an das, was aristotelisch erzogene Doktrinäre die tragische Versöhnung zu nennen pflegen. Er scheint mit Schiller von der Art, wie die übrigen Dichter jene große Katastrophe darstellen, zu sagen: »Aber, ihr Herren, der Tod ist so ästhetisch doch nicht.«

Am meisten reizen ihn kräftige Charakterzüge. Er liebt nicht, wie Balzac, die Kraft selbst als bewegenden Trieb der Leidenschaft; nein, er liebt das ursprünglich Tüchtige im Charakter und das energisch Entscheidende in der Begebenheit. Wie natürlich, fängt er, lange bevor er reif genug ist, um einen kräftigen Charakter wahr zu zeichnen, damit an, der entscheidenden That Poesie zu verleihen. Von allen Begebenheiten ist jedoch der Tod die entscheidendste, und so kommt es, daß er sich in den Tod verliebt, wohlverstanden nicht in den Tod, wie er von Spiritualisten oder Gläubigen auf|297|gefaßt wird, sondern in den Tod als einen gewaltsamen, plötzlich treffenden Schlag, der mit großen, blutigen Zügen einen Abschluß zeichnet. Mérimée ist wie Sièyes für »La mort sans phrase«

Die Vermutung liegt nahe, daß Mérimée als Mensch immerhin eine gewisse Gefühllosigkeit oder ein Hang zur Grausamkeit innewohnte, der seiner litterarischen Hartherzigkeit die Grundlage gab. Daß jedoch in Wirklichkeit die extravaganten Züge dieser Eigentümlichkeit durch die erwähnte polemische Stimmung gegen die poetische Rührseligkeit verursacht worden sind, läßt sich durch direkte Äußerungen Mérimée’s fast beweisen. Ich finde in seinem Aufsatz über seinen Jugendfreund Jaequemont folgende Stelle: »Ich habe nie ein in Wahrheit gefühlvolleres Herz gekannt als das Jacquemonts. Er war eine liebevolle, zärtliche Natur, aber er wandte ebensoviel Sorgfalt an, um sein Gemütsleben zu verbergen, wie Andere, um ihre schlechten Neigungen zu verhehlen. In unsrer Jugend waren wir von der falschen Empfindsamkeit Rousseaus und seiner Nachahmer zurückgestoßen worden, und es trat eine übertriebene Reaktion ein, wie das gewöhnlich der Fall ist. Wir wollten stark sein, folglich machten wir uns über die Sentimentalität lustig.«

Es versteht sich jedoch von selbst, daß dieser Haß gegen das Weichliche und Thränenreiche, der so stark gegen die hypersentimentalen Anfänge zeitgenössischer Talente absticht, und diese Vorliebe für das Gewaltsame und Brutale nicht ausschließlich auf Widerspruchslust beruhen. Um die Stärke der Neigung Mérimée’s in dieser Richtung zu messen, braucht man nur einen Blick auf seine Entwickelungsgeschichte zu werfen. Bei jedem Anderen müßte man erwarten, eine solche Sympathie von der lichteren und leichteren Laune der Jugendzeit gehemmt und im Alter bei abnehmender Kraftfülle gemildert zu sehen. Aber keines von beiden ist bei Merimee der Fall. Seine Vorliebe für gewaltsame Entscheidungen ist so alt wie seine Liebe zu Feder und Tinte, und das Abschreckende, das |298| Grauenhafte, welches in den Werken seiner reiferen Jahre, durch Innigkeit und Geist beseelt, tragisch wirkt, schrumpft in den Produktionen seines Alters von neuem zum widerwärtig Unheimlichen zusammen.

»Clara Gazuls Theater«, das erste Buch, das Mérimée, erst 22 Jahre alt, herausgab, zeigt uns auf die interessanteste Weise, wie seine jugendliche Heiterkeit mit jener tief eingewurzelten Vorliebe für das Gewaltsame und Wilde kämpft. Oberflächlich betrachtet, erscheint dieses Buch ziemlich ernst. Es unterscheidet sich jedoch, obwohl es für spanisch ausgegeben wird, von der spanischen Schauspiellitteratur durch viele seiner wesentlichsten Eigenschaften. Weit entfernt, wie die Mantel- und Degenstücke einförmig dieselben Charaktertypen und dieselben aus Eifersucht und empfindlichem Ehrgefühl hervorgegangenen Situationen zu wiederholen; weit entfernt, ihnen in der vorurteilsvollen, moralischen Etikette ähnlich zu sein, haben die sehr verschiedenen kleinen Dramen, aus denen dieses »Theater« besteht, scharf und individuell gezeichnete Charaktere, die, anstatt übermenschliche Selbstbeherrschung und Resignation zu zeigen, sich blindlings von ihrer Leidenschaft fortreißen lassen. Noch weniger Ähnlichkeit haben diese Schauspiele mit der großen Gruppe phantastischer, romantischer Märchendramen mit oder ohne katholische Weihe, in denen Calderons Poesie ihren höchsten Glanz und ihr buntestes Farbenspiel erreicht. Nur mit einzelnen düstern spanischen Dramen wie Calderons »El alcalde de Zalamea«, »Las tres justicias in una«, »El medico de su honra«, »E1 pintor de su deshonra« oder Moreto’s »E1 valiente justiciero« stimmen einige unter ihnen z. B. »Ines Mendo« im Grundton überein. Durchschnittlich genommen ist das Buch jedoch nur anscheinend ernst. Es ist frei, ausgelassen, kühn, durch das spanische Schauspielerinnenkostüm blickt echt französischer Spott und Leichtsinn durch. Es bringt, wie es in der Vorrede zu »Ein Weib und ein Teufel« heißt, verschiedene Personen auf die Bühne, welche »die |299| Ammen und Kindermädchen uns gelehrt haben, mit Ehrfurcht zu betrachten.« Die Verfasserin hofft, daß »die aufgeklärten Spanier« dies nicht übel aufnehmen werden. »Clara Gazul« ist also ein lustiges Buch; die gute Dame, die es geschrieben hat, trägt keine langen Unterröcke. Aber was für eine sonderbare Lustigkeit gelangt hier zum Ausdruck! Eine Lustigkeit, die sich daran ergötzt, mit Messern zu werfen, eine Ausgelassenheit, zu welcher die Sprünge eines jungen Panthers ein Seitenstück abgeben könnten. Mérimée kann nicht gut schließen, ohne alle seine Hauptpersonen totzuschlagen, und die Dolchstöße folgen fast marionettenartig auf einander. Aber sehr ernstlich ist es nicht gemeint, denn es gefällt ihm, unmittelbar nach der Katastrophe die Illusion zu vernichten, indem er die Spielenden aufleben und einen unter ihnen den Zuschauern für ihre Aufmerksamkeit danken läßt, so daß Alles sich in Scherz auflöst.

»Donna Maria.

Helft ihr! Sie hat Gift genommen, sie ist von mir vergiftet. Ich will mich strafen, wie ich es verdient. Der Klosterbrunnen ist nicht fern. (Sie stürzt hinaus.)

Fray Eugenio (zum Publikum).

Nehmt es mir nicht übel, daß ich den Tot dieser zwei liebenswürdigen Damen veranlaßt habe, und seid so gut, die Fehler des Verfassers zu entschuldigen.«

So endet das leidenschaftliche Stück »L’Occasion«. Die witzigste Kritik, die über diese Stücke und deren Manier geschrieben wurde, ist eine Stelle in Alfred de Mussets »Lettres de Dupuis et Cotonet«: »Und dann haben wir Spanien mit seinen Castillianern, die einander die Hälse abschneiden, wie wir ein Glas Wasser trinken, und mit seinen Andalusierinnen, die sich noch schneller auf eine weniger entvölkernde Thätigkeit einlassen, Spanien mit seinen Stieren, Toreadoren, Matadoren« u. s. w.

Das Spanien der jungen romantischen Schule, zu welchem Musset mit seiner Andalusierin aus Barcelona, die man an dem |300| bleichen Gesicht und dem braunen Hals erkennen kann, selbst einen Beitrag geliefert hat, war in Wirklichkeit nicht nur bei Mérimée so heißblütig und raschlebig. Aber niemand fand so viel Ergötzen daran wie er. Und dieser Jugendmanier Mérimée’s entsprechen vollkommen die Stoffe, die er in seinem Alter wählt.

Seine letzte Novelle »Lokis« ist die Geschichte eines jungen litthauischen Grafen, welcher infolge mysteriöser Vererbung zuweilen die Instinkte eines Raubthieres in sich spürt, in der Brautnacht wahnsinnig wird und der ihm neu Vermählten die Kehle durchbeißt. Sein Charakter ist mit feiner Kunst geschildert, die Entwickelung der Tollheit mit ein paar leichten Zügen veranschaulicht. Augenscheinlich hat es Mérimée besonderes Vergnügen gemacht, die Gestalt des jungen Grafen in ihrer ganzen Wildheit zu zeichnen als Gegenstück zu einem unendlich braven und zahmen deutschen Professor (dem Deutschen in den französischen Büchern vor 1870), welcher als Gast im gräflichen Hause verweilt, jeden Abend seiner Verlobten, Fräulein Gertrude Weber, schreibt, und solcherweise dem Leser die schauderhafte Begebenheit mittheilt. Aber der Schlußeindruck dieser Vampyrgeschichte ist der des widerwärtig Entsetzlichen; und die Meisterschaft, womit sie erzählt wird, der Takt, welcher selbst noch beim Bericht von der Brutalität bewahrt ist, die Eleganz, womit das Abscheuliche behandelt wird, erinnert fast an die Glacehandschuhe des Scharfrichters. Die Erzählung ist nur als Zeugnis der Stärke dieser innersten Neigung bei dem Verfasser psychologisch interessant.

Individuell und originell war diese Manie Mérimée’s gewiß; aber doch ist sie offenbar nah verwandt mit der Tendenz jener ganzen Schule, welche Southey als die satanische bezeichnet hatte. Der Einfluß Byrons ist unverkennbar. Man war gegen das Jahr 1830 in Frankreich, wie schon früherin England, der »immanuelischen« Poesie der Reaktionszeit gründlich satt. Das Scepter der Dichtung war aus Lamartine’s Hand auf Victor Hugo übergegangen, |301| dessen »Orientalen« ja die blutigsten Bilder von Krieg und Untergang gaben. Lamartine selbst, der frühere seraphische Dichter par exce1lence, schlug bald mit seinem Gedicht »La Chute d’un ange« in die satanische Richtung ein. Und in der Schule Victor Hugo’s gab es einen jungen Dichter, der fast gleichzeitig mit Mérimée, und ohne im Geringsten von ihm beeinflußt zu sein, haarsträubende Sujets in kleinen, sehr kunstvoll geschriebenen Novellen behandelte – ich meine Petrus Borel, der so arm und unberühmt lebte und starb. Der arme Borel war ein Schwärmer, ein glühender Enthusiast und Moralist, welcher durch das Pathos, welches sich hinter seiner objektiven Darstellung verbirgt, die Entrüstung des Lesers über die von ihm geschilderten Gewaltthaten hervorrufen wollte. Der seine, geschliffene Mérimée stellt sich oft genug nur so blutdürstig, weil es ihm Spaß macht, den Leser und besonders die Leserin zu erschrecken. Aber eine echt romantische Herausforderung der »Philister« liegt doch in beiden Fällen vor.

Nicht ungestraft hat Mérimée sein Talent dem litterarischen Blutdurst dienstbar gemacht. Entging er auch zu Lebzeiten der Nemesis – nach seinem Tode hat sie ihn ereilt. Als Loménie in der französischen Akademie die Lobrede auf ihn hielt, sprach er zum Schluß die Ansicht aus, daß Mérimée, der die Freuden des häuslichen Herdes stets entbehrt habe, glücklicher gewesen sein würde, wenn er als Familienvater »vier bis fünf Kinder zu erziehen« gehabt hätte; und als Mérimée’s Freundin, die Gräfin Lise Przedrzerska, seine gewiß nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Briefe an sie als »Lettres à une autre inconnue« in Druck gab, bestimmte sie den Ertrag zu Seelenmessen für das Heil ihres antikirchlichen Freundes.

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