In seinem neunzehnten Jahre lernte Mérimée im Salon der Frau Pasta den zwanzig Jahre älteren Henri Beyle kennen. Notwendigerweise mußte dieser einen bedeutenden Einfluß auf den jüngeren Geistesverwandten ausüben. Es ist zwar nicht möglich, diese Einwirkung direkt nachzuweisen, da Mérimée , bevor er die Bekanntschaft Beyle’s machte, nichts geschrieben hat; wenn man aber die Werke der beiden Schriftsteller vergleicht, findet man eine auffallende Übereinstimmung ihrer Eigentümlichkeiten. Der Vergleich ist um so lehrreicher, als durch ihn die Eigenart Prosper Mérimée’s am schärfsten hervortritt. Daß Mérimée auch Beyle beeinflußte, halte ich für absolut ausgeschlossen, es sei denn, daß man unter Einfluß ein Mitteilen rein äußerlicher Kenntnisse verstehe; in diesem Fall wäre Beyle sicher Mérimée für manchen kunsthistorischen Wink in »Mémoires d’un Touriste« verpflichtet. Doch im übrigen war Beyle offenbar derjenige, dessen Geist reifer und mehr in sich abgeschlossen war. Wenn daher der jüngere der beiden Freunde in seiner biographischen Notiz über den älteren vor allem hervorhebt, daß sie trotz ihrer Freundschaft ihr Lebelang kaum zwei Ideen gemeinsam gehabt, so ist diese augenscheinliche Übertreibung vermutlich durch den Wunsch verursacht worden, die naheliegende Nutzanwendung seiner eigenen Äußerungen über Beyle auf ihn selbst abzuwehren.
« Beyle und Mérimée gleichen einander vor allem in ihrer Liebe zum Thatsächlichen. Jeder, der Mérimée gelesen, weiß, daß, |280| was er schildert, die nackte Begebenheit ist, die sich genau ver- folgen läßt, die scharf gezeichnete Thatsache. Er gesteht selbst in der Vorrede zu seinem Roman »Chronique du règne de Charles IX«, daß ihn in der Geschichte nur Anekdoten interessieren, und unter diesen zog er diejenigen vor, welche ein Bild von den Sitten und Charakteren eines ganzen Zeitalters gaben. Genau dasselbe läßt sich von Beer sagen. Ja, man kann behaupten, daß die Anekdote bei ihm die natürliche Form seines Gedankens ist: er denkt in Anekdoten, in Anekdoten malt er das Individuum, durch Biographieen schildert er eine Epoche. Sein Haß gegen das Unbestimmte führt ihn zu derjenigen Form historischer Darstellung, welche ihm die konkreteste zu sein scheint: zu der novellistischen Erzählung einer Thatsache, dem objektiv hingestellten kleinen Drama. Die so von ihm erzählten Anekdoten sind in ihrer markigen Kürze packend, niemals alltäglich, stets ein bezeichnender Ausdruck für das Wesen der Sache. Insofern hat Mérimée große Ähnlichkeit mit ihm; und wenn ein moderner Dichter, einer der wenigen Deutschen, welche Beyle lieben und schätzen (Paul Heyfe), in einer seiner Novellen dessen kurze italienische Geschichten lobt, »die starken, rücksichtslosen Leidenschaften ohne jede Selbsttäuschung, mit einer – kalten oder heißen – Unbedenklichkeit bis aufs Messer,« so ist dieser Ausspruch, Wort für Wort, auch auf Mérimée’s Novellen anwendbar.
Nichtsdestoweniger hat bei Beyle und Mérimée der novellistische Stoff, den sie behandeln, einen so verschiedenen Sinn, daß man unschwer entdeckt, wo der Einfluß des älteren Schriftstellers auf den jüngeren seine Grenze hat. Beyle’s vorherrschende Eigenschaft ist das Bestreben, allgemeine Ideen zu bilden. Für ihn ist der Charakterzug in den Begebenheiten immer nur ein Beispiel, welches ein psychologisches Gesetz illustriert, immer nur ein Spezimen eines allgemeinen Gesellschaftszustandes oder einer Rasseneigentümlichkeit, die darzustellen er sich angelegen sein läßt. Wenn er z. B. sein Buch »De 1’amour« mit Anekdoten überfüllt, geschieht es nur, um auf eine eindringliche |281| und praktische Weise zu erklären, was er mit den verschiedenen Namen meint, die er den Abarten des Gefühles und den Entwickelungsstufen dieser Varietäten giebt. Damit der Leser seine Schlußfolgerungen leicht fasse und gelten lasse, liefert Beer sein Material in Anekdoten. In seinen Romanen wirkt diese Neigung zu verallgemeinern fast störend. Allzuhäufig wird dem Leser erklärt: »So und so handelte sie, weil sie eine Italienerin war, eine Französin würde natürlich sich ganz anders benommen haben.« Bei Mérimée findet sich niemals eine Spur an etwas Ähnlichem: nirgends Reflexionen oder Digressionen, sondern strenge Genauigkeit und Bestimmtheit in der Darstellung des Faktischen; darüber hinaus Nichts. Hat er sich sein Kuriosum gewählt – am häufigsten irgend einen Überrest von Wildheit primitiver Sitten, welcher ihn in der Gegenwart anzieht, wie eine alte Medaille unter den heute gültigen Scheidemünzen den Sammler oder wie den Reisenden ein altes Gebäude inmitten einer modernen Stadt – dann handelt es sich für ihn einzig darum, dasselbe auf möglichst auffallende Weise über das allgemeine Niveau der Flachheit und Leere unserer Tage zu erheben. Er reißt alles Beiwerk nieder, was das merkwürdige Überbleibsel aus der Vorzeit hindern könnte zur Geltung zu kommen; aber es auf den allgemeinen Begriff – es sei nun ein sozialer, religiöser oder politischer – dessen Spur es an sich trägt und von dem es ein spezieller Fall ist, zurückzuführen, das fällt ihm niemals ein. Der Totalüberblick paßt nicht für ihn; die Vogelperspektive überläßt er Anderen. Ihn interessiert irgend ein Unikum, das er in der Wirklichkeit gefunden; er zeichnet es ab und flößt ihm während der Reproduktion etwas von seinem eigenen Leben ein; aber er hält den Fall als Unikum fest. Dieser realistische Zug in seiner Darstellungsweise zeigt sich auch bei seiner Auffassung von fremden Werken; man merkt ihn z. B., wenn er (in seinen »Portraits historiques et littéraires«) gegen jegliche symbolische Auslegung des Don Quixote eifert, in welchem er |282| durchaus nichts Anderes als eine Parodie der Ritterromane sehen will. »Laßt«, sagt er, »pedantischen deutschen Professoren das Verdienst, die Entdeckung gemacht zu haben, daß der Ritter von la Mancha das Symbol der Poesie, sein Waffenträger dagegen das der Prosa sei; ein Kommentator wird immer in den Werken eines genialen Mannes tausend schöne Intentionen entdecken, an welche dieser nicht dachte.« Wie viel feiner sagt dagegen ein Kritiker wie Sainte-Beuve über Don Quixote: »Dieses Buch war eine Gelegenheitsschrift und ist ein Weltbuch geworden. Es hat sich für immer einen Platz in unser Aller Phantasie erobert. Jeder Leser hat nach Lust und Laune daran mitgearbeitet und hat sich’s nach seinem Geschmack zurechtgelegt. Cervantes dachte nicht daran, aber wir thun es. Jeder von uns ist den einen Tag Don Quixote, den andern Sancho Pansa. Mehr oder weniger deutlich findet sich bei Jedem diese Verbindung des exaltierten Ideals mit gesundem Menschenverstande, der sich an die Erde hält. Bei Vielen ist es sogar nur eine Frage der Zeit, man schläft als Don Quixote ein und erwacht als Sancho Pansa.« Beyle hätte diesen Satz getrost unterschrieben; Mérimée würde die Scheu vor allgemeinen Ideen davon abgehalten haben.
Beyle und Mérimée haßten, übereinstimmend in ihrem Hang zur Wirklichkeit und in ihrer Vorliebe für knappe Form, die klassische französische Rhetorik in gleich hohem Grade, ja mehr als das, sie unterschieden sich von fast allen zeitgenössischen Romantikern dadurch, daß sie jene Rhetorik nicht durch Lyrik ersetzen wollten. Beyle hat nie einen Vers geschrieben; ihm mangelte das Gehör für den einfachsten metrischen Rhythmus; bei aller Schwärmerei, die er sich einbildete für die italienischen Dichter zu haben, betrachtete er die metrische Form als bloßes Gedächtnismittel und fand sie abgeschmackt, wenn sie nicht zum Auswendiglernen einer Wortreihe diente. Einem ähnlichen Unwillen gegen die Versform begegnen wir auch bei Mérimée. Er hat eine solche Scheu vor |283| der weichlichen, schwärmerischen Musik des Reims, daß die zahlreichen Gedichte; die in seinen Werken vorkommen, ohne Ausnahme in Prosa geschrieben sind; ja, er opfert sogar bei den von ihm übersetzten Gedichten eher deren charakteristischen Reiz, als daß er sie in gebundener Rede wiedergiebt. Die Vermutung liegt nahe, er habe sich nicht zugetraut, die metrische Form beherrschen zu können. Ich glaube jedoch eher, daß sein Stolz zu empfindlich war, um ein Gedicht fremden Augen auszusetzen und Kritik darüber zu ertragen. Da er, wie die »Briefe an eine Unbekannte« beweisen, imstande war, englische Verse zu schreiben, wird es ihm kaum an Sprachfertigkeit gefehlt haben. Aber er entwickelte diese Fähigkeit nie; sein Unwille gegen Herzensergüsse, seine große Schüchternheit führten dasselbe Resultat herbei wie bei Beyle der Mangel an Gehör.«
Doch Mérimée geht in diesem Punkte sowie in anderen noch weiter als sein Lehrer. Auf dem Grunde von Beyle’s Seele lag ein lyrischer Hang; derselbe kam zum Ausbruch in seiner hattnäckigen Schwärmerei für Napoleon, für Italien, für das sechzehnte Jahrhundert, für Cimarosa und Rossini, Correggio und Canova, in all’ den Superlativen, womit seine Feder nicht weniger freigebig war als diejenige Balzacs. Mérimée dagegen begnügt sich nicht damit, die lyrische Form aus seinen Werken zu verbannen; er verzichtet auf die Lyrik an und für sich; sein Wesen ist bis an den Hals zugeknöpft. Die Prosa, welche er schreibt, ist die am wenigsten lyrische, die es giebt. Wenn der alte Spruch: »Ohne Lyrik kein Dichter!« wahr wäre, müßte man Mérimée den Namen eines Dichters verweigern.
Lassen wir einen Augenblick den Vergleich mit Beyle und betrachten wir, um den vollen Eindruck von Mérimées dichterischem Positivismus zu gewinnen, seine Erzählungen neben den um dieselbe Zeit erschienenen Erstlingswerken George Sands! Obwohl das, was in deren Büchern dargestellt wird, etwas ganz Objektives ist, |284| das Leben des jungen weiblichen Herzens, unbewußte Keuschheit, das Bedürfnis der Hingebung und die Empfänglichkeit für die Leidenschaft, welche keine Frau vor ihr mit solcher Geistesüberlegenheit uns enthüllt hatte, so hat die Verfasserin doch in den Tiefen ihrer Seele eine Sache, wofür sie ficht: sie hat eine Unbill zu rächen, einer Erbitterung genug zu thun; sie sieht die Leiden des weiblichen Geschlechtes nicht als kühle Beobachterin an; sie sucht nicht zu verhehlen, daß ihr Herz geblutet hat. Mérimée dagegen hat keine Sache, keine Theorie, nicht die leiseste politische oder soziale Tendenz. Er schwärmt für Nichts und glaubt an Nichts, an kein philosophisches System, an keine Schule in der Kunst, an keine Lehre der Religion, kaum an einen geschichtlichen Fortschritt. In seinem weltmännischen Skeptizismus verhält er sich allen Reformatoren, Missionären, Weltverbesserern und Volksbeglückern gegenüber ablehnend; er läßt die Frage unbeantwortet, ob er mit ihren Bestrebungen einverstanden sei; er hat taube Ohren für sie. George Sand zeigt, was die französische Ehe ist, und fragt mit bebender Stimme ihr Publikum: »Was sagt Ihr denn, kann solches geduldet werden?« Mérimée schreibt »La double Méprise« und schließt die Erzählung, ohne eine Miene zu verziehen.
Von ihrer tiefen Gemütsbewegung ausruhend, wendet George Sand sich dem primitiv Menschlichen zu und zeichnet in einfachen, großen Zügen bald, wie in »Mauprat«, die Macht und das Glück treuer Liebe, bald, wie in den Bauernerzählungen oder wie in »Jean de la Roche« das angeboren Edle der Menschennatur in einfältigen und ergreifenden Idealen. Mérimée glaubt nicht an das Ideal und hat kein Talent zur Idylle. Über allen seinen Bildern liegt ein dunkler, bräunlicher Ton; der Aufschwung des Herzens zu einer Reinheit, die es liebt, oder zu einem Heldenmut, den es bewundert, ist seiner Kunst fremd. In der Tiefe ihres Herzens ist George Sand Lyriker. Ob sie Eros zum Helden ihres Werkes macht, ihm jedes Recht einräumt und ihre ganze Sympathie schenkt, |285| selbst wenn er eine Unwürdige beseelt (wie in dem merkwürdigen Roman »Valvèdre«), oder ob sie über den Mut, die Charakterstärke der besten ihres eigenen Geschlechtes hingerissen wird – immer teilt sie selbst die Gemütsbewegung ihrer Personen, sie lebt in einem Tumult wechselnder Stimmungen, jubelt, weint, seufzt und lacht. Mérimée dagegen konzentriert seine Sensibilität so stark wie möglich und gebietet dem in seinem Herzen verschlossenen Gefühl Schweigen, das absolute Schweigen eines Zellengefangenen. Direkt darf es sich nicht mitteilen, nie spricht es unmittelbar in seinem eigenen Namen; nur indirekte Offenbarung durch völlig verantwortliche Persönlichkeiten wird ihm gestattet. Hierdurch erreicht der Dichter, daß die Physiognomieen dieser Persönlichkeiten Umrisse von einer selten oder nie gesehenen Schärfe erhalten, und daß jene die kürzeste und kräftigste Sprache reden. So hat sein Gefühl, je inniger und zärtlicher es ursprünglich war, eine um so stolzere Haltung nach außen hin erreicht. Mérimée schildert nicht einmal bei der Frau das im engeren Sinne Weibliche. Beyle, in diesem Punkte so ganz entgegengesetzt, machte in einem seiner Briefe treffend gegen ihn geltend, daß seinen Romanen »die zärtliche Feinheit« mangele.*)*
Seine Frauengestalten sind in ihrer Leidenschaft männlich und konsequent, fast ohne Ausnahme Charaktere; selbst die leichtsinnigsten unter ihnen gehen mit Standhaftigkeit in den Tod (Arsène Guillot, Julie de Chaverny, Carmen). Keine von ihnen hat den an Correggio gemahnenden Schmelz, welchen Beyle seinen weiblichen Figuren zu geben vermochte.«Wenn Beyle mehr lyrisch ist als Mérimée und einen tieferen Sinn für das Weibliche besitz, so beruht dies vorzugsweise darin, daß er im Grunde seiner Seele ein phantasiereicher Enthusiast war. Man braucht bei ihm nur den Verstandesmenschen abzuschälen, so kommt der Enthusiast zum Vorschein. Darum |286| schilderte Beyle auch so gerne die Begeisterung, während kein Stoff Mérimée ferner liegt. Man vergleiche sie z. B. als Schlachtenmaler, man halte die beiden besten Schlachtengemälde in Prosa, die es überhaupt giebt, gegen einander – Mérimée’s berühmtes, nur wenige Seiten umfassendes »Die Erstürmung der Schanze« und Beyle’s nicht weniger berühmte Schilderung der Schlacht von Waterloo. Der Unterschied ist ein frappanter: bei Beyle die Begeisterung eines Jünglings für Napoleon, mit milder Ironie und dennoch mit lebhafter Sympathie dargestellt; bei Mérimée nur die düstere, traurige Seite des Kampfes, der halb mechanische Sturm aus eine Redoute; der Krieg als Krieg ist es, welchen er ohne Rücksicht auf Vaterlandsliebe, Begeisterung oder irgend welches andere höhere Motiv als das des Soldaten-Stoizismus und der Aussicht auf Beförderung mit so fester Künstlerhand malt wie ein Gérôme.
Beyle und Mérimée stimmen zusammen hinsichtlich ihrer innerhalb der romantischen Schule besonderen Haltung gegenüber der Religion. Die französischen Romantiker standen ja ursprünglich ebenso wenig wie die deutschen in einem feindlichen Verhältnis zum Katholizismus. Einige unter ihnen waren von Anfang an gläubig, die Beziehungen der Übrigen zur Religion waren die der Pietät oder der Gleichgültigkeit. Mérimée war, gleich Beyle, vom ersten Schritt an grundheidnisch in seinem Gedankengang und Gefühlsleben. Seine Freidenkerei hatte einen leidenschaftlichen Charakter. Zwar war er nicht naiv genug, um, wie Beyle, eine Art von Feindschaft gegen den persönlichen Gott zu hegen, aber er teilte Beyle’s Abscheu vor den Repräsentanten der Religion. Indes kam der Unwille gegen das Christentum bei ihm nicht so direkt zu Worte als bei Beyle, der sich jeden Augenblick verrät. Er haßt den Katholizismus nicht wie jener, sondern er lächelt über ihn. Niemals läßt er mehr als eine Fingerspitze aus seinem schwarzen Domino hervorsehen. Es amüsiert ihn, verliebte Pfaffen |287| zu schildern, und wenn eine dieser Personen von der Taufe, der Beichte oder andern religiösen Ceremonien spricht, schickt er der Rede gern die Parenthese voran: (»im tiefsten Nasenton«). Höchstens drückt er sich, wenn er in seinem eigenen Namen spricht, vorsichtig und leicht ironisch aus wie in dem folgenden Passus: »Das Buch, welches Frau von Piennes nahm, war ein Gebetbuch; ich will den Titel desselben nicht nennen, erstens um dem Verfasser nicht Unrecht zu thun, zweitens weil man mir vielleicht den Vorwurf machen würde, irgend einen boshaften Schluß über diese Art von Werken im allgemeinen ziehen zu wollen. Es genügt zu sagen, daß besagtes Buch von einem neunzehnjährigen jungen Mann verfaßt und bestimmt war, verhärtete Sünderinnen in den Mutterschoß der Kirche zurückzuführen, daß Arsene sehr ermüdet war und in vergangener Nacht kein Auge geschlossen hatte. Als Pagina 3 vorgelesen wurde, begab sich, was bei jedem anderen Werk ebenso unvermeidlich eingetroffen sein würde: Arfène schloß die Augen und sank in Schlummer.«
Der Hauptunterschied zwischen Beyle und Mérimée liegt hier wiederum darin, daß Beyle viel weniger skeptisch war als Mérimée. Jener war ein Materialist aus der Schule der Encyklopädisten und als solcher dogmatisch, doktrinär. Er hatte seine Philosophie, an die er glaubte: den Epikuräismus; seine Methode: die psychologische Analyse; seine Religion: die Vergötterung der Schönheit im Leben wie in der Musik, der Litteratur und bildenden Kunst. Mérimée hat keine Philosophie – man kann nicht weniger doktrinär sein als er mit feiner halb stoischen, halb skeptisch genußsüchtigen Gemütsstimmung es ist; er hat keine Religion, er betet Nichts an. Er hütet sich endlich vor der Begeisterung wie vor einer Krankheit. Man fühlt das recht schlagend, wo er in seinem großen Aufsatz über Grote’s »Griechische Geschichte« auf die Schlacht bei Thermopylä und aus Leonidas zu reden kommt. Er erzählt, daß er selbst einige Jahre zuvor drei Tage bei Thermopylä verbracht, und |288| gesteht, daß er, »so prosaisch er auch sei«, nicht ohne innere Bewegung den kleinen Hügel erklommen habe, wo die letzten der Dreihundert starben. Indes läßt er sich nicht von dieser Stimmung überwältigen. Er hat die Pfeilspitzen der Perser untersucht und gefunden, daß sie aus Feuerstein waren; den Europäern gegenüber seien diese Asiaten als arme Wilde zu betrachten. Wenn man Ursache habe, sich über etwas zu verwundern, sei es, daß sie überhaupt durch den Paß drangen. Er kritisiert Leonidas: dieser handelte sehr unklug darin, daß er sich selbst auf den uneinnehmbaren Posten stellte und den anderen weniger schwer zu verteidigenden Engpaß einem Feigling überließ. Gewiß – er starb als Held; aber man stelle sich, wenn möglich, seine Rückkunft nach Sparta vor, nachdem er den Barbaren den Schlüssel zu Hellas’ ausgeliefert hatte.
Das Resultat, zu dem Mérimée gelangt, ist also, daß Herodot die Geschichte als Poet erzählt hat, und zwar als Grieche, der vor allem das Schöne reliefartig hervortreten lassen will; schließlich wirft er die Frage auf, ob die Fiktion hier wohl mehr wert sei als die Wirklichkeit. Unter hundert Menschen würden darauf neunundneunzig ohne Bedenken mit »Ja« antworten – Mérimée thut es nicht. Die historischen Tragödien der jüngsten Vergangenheit vor Augen – es war im Jahre 1849 – antwortet er: »Vielleicht; aber gerade durch den Mißbrauch, der mit Thermophlä getrieben wurde, durch die Vorspiegelung, wie leicht es sei, daß dreihundert freie Männer drei Millionen Sklaven bekämpften, brachten Italiens Redner die Piemontesen dazu, sich allein in einen Krieg mit den Osterreichern zu stürzen.« Man vergleiche mit solcher Skepsis Mérimée’s die innige Treuherzigkeit, womit Beer die unzuverlässige Chronik über Beatrice Cenci kopierte.
Die Zeit um 1830 war die Epoche, in welcher Frankreichs vornehmste Schriftsteller besonders vor dem Chauvinismus auf ihrer Hut waren. Beyle und Mérimée repräsentieren beide in be|289|sonders hohem Grade die Opposition gegen die Nationaleitelkeit. In Beyle’s Mund klingt das Wort »französisch« fast wie ein Schimpfwort; er pflegte die Franzosen spöttisch »les vainvifs« zu nennen. In seinen Büchern wimmelt es von Ausfällen wie dieser: »Giebt es etwas Komischeres, als einem Pariser Charaktertiefe zuzutrauen?« Er nennt sein Vaterland »das häßlichste Land auf der Welt, welches von Einfaltspinseln als das schöne Frankreich bezeichnet werde.«*)*
Wir sehen, daß er zuletzt sogar seine Nationalität verleugnete. Mérimée, der für spanische Sitten ungefähr so schwärmte wie Beer für die italienischen, besaß den ursprünglich romantischen Hang zum Fremden, zum Exotischen; auch er erblickte, ganz wie der ältere Freund, einen Hauptzug des französischen Charakters in dem beständigen Achten auf das Urteil des Nächsten (le qu’en dira-t-on), dieser besten Grundlage für die gesellschaftliche Heuchelei, wodurch alle Originalität verloren gehe und das Leben freudlos werde. Überhaupt schätzte er seine Landsleute ziemlich gering und gab sich keine Mühe ihnen das zu verbergen. Aber er endete damit, umgekehrt wie Beyle, sich zum alten Evangelium des Patriotismus zu bekennen. Es fiel ihm nicht leicht, denn er haßte die patriotischen Phrasen von ganzer Seele. Nichts Geringeres als die vollständige Niederschmetterung Frankreichs war nötig, um seinen Lippen ein Wort der Vaterlandsliebe zu entlocken; in einem Brief vom 13. September 1870 schreibt er: »Mein ganzes Leben hindurch war ich bestrebt, mich frei von Vorurteilen zu halten und mehr Weltbürger als Franzose zu sein; doch alle diese philosophischen Umhängsel können mir jetzt nicht helfen. Ich blute aus all’ den Wunden dieser dummen Franzosen, ich weine über ihre Demütigungen, und wie undankbar und absurd sie auch sind, ich liebe sie trotz alledem!«|290| In seiner Charakteristik Beyle’s hat Mérimée (nach Sainte-Beuve) als einen seiner hervorragendsten Züge dessen Besorgnis hervorgehoben, »düpiert« zu werden. »Daraus entsprang,« sagt er, »dieses künstliche Verhärtetsein, dies verzweifelte Spüren nach niedrigen Beweggründen bei allen edlen Handlungen, dieser Widerstand gegen die ersten Impulse des Herzens, der nach meiner Ansicht bei ihm mehr affektiert als wirklich vorhanden war. Der Widerwille gegen jede Sentimentalität, die Verachtung, welche er dafür empfand, trieben ihn ins andre Extrem, zum großen Ärgernis derjenigen, die ihn nicht genauer kannten und das, was er über sich sagte, buchstäblich nahmen.« Diese Furcht, düpiert zu werden, mit all’ ihren von Mérimée aufgezählten Folgen, war bei ihm selbst mindestens ebenso lebendig wie bei Beyle; nur mußte er mit seinem feineren und schwächeren Naturell sich mehr Gewalt anthun, den cynischen Ton anzuschlagen. Auch ihm machte es in seiner Jugend Vergnügen, als ein Ausbund von Immoralität zu gelten, und nur bisweilen, wenn irgend ein Vorfall ihm seinen schlechten Ruf nahelegte, ärgerte er sich darüber, wie z. B. als einmal eine Provinz-Dame nicht geringe Angst davor zeigte, mit ihm allein in der Diligence zu reisen (»Lettres à une inconnue I. 72). Eben sein Abscheu vor der Heuchelei trieb ihn derselben zu; er heuchelte Frivolität und Hartherzigkeit. Aus lauter Besorgnis, hintergangen zu werden, führte er nicht nur die Andern hinters Licht, sondern betrog sich selbst um manchen reinen Genuß des Lebens. Der Betrogene ist oft – nicht nur im Theater, wie der alte Grieche Gorgias sagt – weiser als der Nicht-Betrogene. Wer seine Aufmerksamkeit nicht beständig darauf richtet, sich vor Blößen zu hüten, ist freier und mutiger; er behält mehr Thatkraft und verwirklicht weit vollständiger Möglichkeiten, die in seiner Seele schlummern.
Für Mérimée hatte die ständige Besorgnis vor Blamage bedenkliche Folgen. Zunächst äußerten sich dieselben in der ceremoniellen Steifheit, die er in späteren Jahren zur Schau trug, wenn er als |291| Mitglied des Senates und der Akademie oder als Liebling und Vertrauter der kaiserlichen Familie bei feierlichen Gelegenheiten auftrat. Während er seine Reden hielt, moquierte er sich innerlich über seine Haltung und seine eigenen Worte. Beyle brachte sich niemals in eine Situation, wo er über Dinge, die er geringschätzte, ehrfurchtsvoll sprechen oder Dummköpfen Komplimente sagen mußte. Nicht umsonst hat er die Äußerung gethan: »Wenn ich in einem Gesellschaftssaal einen Mann sehe, der sich mit mehreren Orden im Knopfloch brüstet, so kommt mir unwillkürlich der Gedanke, wasfür eine ungeheure Anzahl von Niederträchtigkeiten, Albernheiten, oft wohl auch von schwarzen Verrätereien er aufhäufen mußte, um so viele Atteste dafür zu bekommen.« – Sodann verschärfte jene Ängstlichkeit Mérimée’s Selbstkritik so sehr, daß sie seine Produktionskraft beeinträchtigte. Beyle’s Motto war dagegen gewesen: Kein Tag ohne eine Zeile! Viel hatte Mérimée niemals geschrieben, aber zuletzt hörte sein dichterisches Schaffen ganz und gar aus. Die Forderungen, der er hinsichtlich der Vollendung und Plastik an sich selbst stellte, mußten ihn notwendigerweise von einem Wettkampfe mit seinem eigenen Ideale abschrecken; jeder Versuch zu einem solchen würde ihn immer wieder in neue bedenkliche Fährlichkeiten gestürzt haben. Lieber ließ er sich an dem genügen, was er schon erreicht hatte, als daß er seine Künstlerehre durch etwas Neues aufs Spiel setzte. Und er entsagte um so leichter, als ja Zurückhaltung überhaupt ein hervorragender Charakterzug von ihm war und kein zügelloser, unbezwinglicher Produktionsbetrieb ihn zu ununterbrochenem Schaffen anspornte.
Beyle machte ihm umsonst seine »Faulheit« zum Vorwurf – war unter deren Ursachen doch eine, welche er nicht verstand und die den Hauptunterschied zwischen ihnen ausmachte. Beyle war Psycholog und Poet, aber kein Künstler, Mérimée war Künstler vom Wirbel bis zur Zehe. Als Künstler und zwar nur als solcher erwarb er seine Größe, in seiner künstlerischen Meisterschaft beruht |292| auch der Fortschritt, den er Beyle gegenüber bezeichnet. Das reiche, geistige Material, welches Beyle zu Tage gefördert, erhielt erst durch Mérimée unvergängliche künstlerische Form.
Seine »Faulheit« war übrigens durchaus nicht absolut. Wenn er als Dichter faulenzte, trieb er Studien verschiedener Art, gab Übersetzungen aus dem Russischen und anspruchslose, aber streng historische Untersuchungen und Arbeiten heraus. Er war Philologe und Archäologe, ein Gelehrter und ein Mann der Wissenschaft. Seine Kunst ist wie eine Oase, die inmitten der Trockenheit seiner Studien liegt; nach allen Richtungen hin ist sie verbündet mit der Wissenschaft und geht fast unmerklich zur Geschichtschreibung über; denn es kommt der Moment, wo die Liebe zum Thatsächlichen und die entschiedene Neigung für scharfe Genauigkeit sich nicht mehr durch Phantasien allein befriedigen läßt. Die Geschichte von Mérimée’s persönlicher Autorschaft ist mit derjenigen der ganzen romantischen Schule verwandt. Er spiegelt im Kleinen eine große Bewegung wieder; denn in Frankreich wie in Deutschland hat die wissenschaftliche Kritik und die strenge Geschichtsforschung den Weg eingeschlagen, welchen die litterarische Kritik der Romantik der Poesie gebahnt. Als von der Poesie die fremden und mittelalterlichen Stoffe aufgegeben wurden, begann die Wissenschaft, dieselben in dem von der Poesie erweckten Geiste zu behandeln. Da bei Mérimée die Dichtung beständig gleichsam aus der Forschung hervorging und viele seiner Novellen, wie »Carmen«, »La Venus d’I11e«, »Lokis«, absichtlich, wenn auch im Scherz, von einem Rahmen archäologischer und sprachlicher Studien umfaßt waren, so ist es nur natürlich, daß die Wissenschaft allmählich von der Peripherie bis ins Centrum seiner Produktion eindrang.
In der Art und Weise, wie bei ihm der Dichter sich mit dem Gelehrten mischt, liegt der letzte Hauptgegensatz zwischen ihm und Beyle. Mérimée steht nicht auf der höchsten Stufe der Wissenschaft; er besitzt zwar schätzbare Eigenschaften, Gründlichkeit und Zuverlässig|293|keit, aber es mangelt ihm der zündende Funke, welcher seine Dichtung so feurig belebt. Nichtsdestoweniger hat er das Wesen des wahren Gelehrten, er spricht nie über Etwas, das er nicht versteht, stellt niemals lose Hypothesen oder geistreiche Paradoxen auf; er geht nur Schritt für Schritt vorwärts. Mitunter kann er trocken und matt werden, aber er begeht keinen Fehler. Ist Mérimée solcherweise ein nüchterner Gelehrter ohne Genie, so ist dagegen Beyle in der Wissenschaft der geniale Dilettant, mit allen Kennzeichen des Genies, aber auch mit all’ denen des Dilettanten. In seinen Büchern wimmelt es von gewagten Behauptungen, unbeweisbaren Vermutungen, von allgemeinen Aussagen über Nationen, in deren Sprache er nicht eingedrungen war, von paradoxen dilettantischen Ansichten; stellte er doch, wie schon oben erwähnt, z. B. Werner’s »Luther« unter allen deutschen Dramen am höchsten. Seine Abhandlungen sind ebenso unterhaltend und reich an Einfällen wie diejenigen Mérimée’s langweilig und trocken; aber dessen Resultate sind auf Felsengrund gebaut, die seinigen nur zu häufig auf Sand.
Sowohl als Gelehrter wie auch als Dichter bezeichnet also Mérimée einen Fortschritt gegen Beyle. Er ist ein weniger umfassender und reicher Geist, aber mit besser geordnetem Inhalt und zugleich Herr über eine künstlerisch abgeschliffene Form.
Du kan slå ord fra Brandes' tekst op i ordbogen. Aktivér "ordbog" i toppen af siden for at komme i gang.