Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[257]| XX.

Bis auf den Roman »Armance« (1827) – ein mißlungenes Buch, dessen Held, ein begabter Mann, das Mädchen, das er liebt, unglücklich macht, weil er unter einer körperlich-seelischen Krankheit leidet, deren nicht näher bezeichnete Natur gleichartig mit jener zu sein scheint, welche in Swifts und Kierkegaards Leben eine Rolle spielt – veröffentliche Beyle vor 1830 keine größere poetische Arbeit. Das Jahr 1830, das überhaupt einen Zeitabschnitt bezeichnet, macht auch Epoche in Beyle’s Schriftstellerleben. Er schreibt oder entwirft in diesem Jahre seine beiden großen Romane »Rouge et Noir«, der 1881, erschien, und »La Chartreuse de Parme«, der erst im Jahre 1889 vollendet wurde und gleichzeitig mit der größten von Beyle’s italienischen Chroniken, »L’Abbesse de Castro«, an die Offentlichkeit trat.

Diese beiden Romane behandeln die Zeit unmittelbar nach Napoleons Sturz, und beide in gleichem Geiste. Beiden könnte man als Motto die Stelle im Einleitungskapitel zu Mussets »Confessions d’un enfant du siècle« geben, wo es heißt: »Und wenn die Jünglinge von Ruhm sprachen, antwortete man ihnen: Werdet Priester! und wenn sie von Ehre sprachen, antwortete man: Werdet Priester! und wenn sie von Hoffnung, von Liebe, von Kraft und und Leben sprachen; immer dieselbe Antwort: Werdet Priester!« – »Rouge et Noir« spielt in Frankreich, »La Chartreuse« in Italien. In beiden Büchern ist die Hauptperson ein junger Mann, der heimlich für Napoleon schwärmt und sich glücklich gefühlt hätte, |258| wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, im vollen Sonnenschein des Lebens unter ihm zu kämpfen und sich auszuzeichnen, der aber nach Napoleons Sturz kein anderes Mittel weiß, um Carriere zu machen, als zu heucheln, und allmählich eine immer größere Virtuosität in dieser Kunst entwickelt. Sowohl Julian wie Fabrice haben eigentlich mehr Anlage zum Kavallerieoffizier; nichtsdestoweniger werden sie beide Geistliche, der eine durchläuft ein katholisches Seminar, der andere wird Bischof. Nicht mit Unrecht hat man Beyle’s Romane wahre Handbücher der Heuchelei genannt; die Stimmung, welche ihnen zu Grunde liegt, ist der tiefe Ekel und Groll, den die triumphierende Heuchelei ihrem Verfasser einflößte; er giebt dieser Stimmung, aus welcher er sich befreien will, den vollständigsten Ausdruck, indem er, ohne den geringsten Unwillen zu äußern, die Heuchelei als die Macht schildert, welche die ganze damalige Zeit beherrschte; jeder, der vorwärts wollte, mußte ihr unbedingt huldigen. Beyle versucht dabei, sich bis zur Höhe eines modernen Macchiavelli zu erheben, indem er nicht selten seinen Hauptpersonen Beifall spendet, wenn die undurchdringliche Heuchelei ihnen gelingt, wie er umgekehrt es mißbilligt, wenn sie sich überrumpeln oder hinreißen lassen und sich unversehens zeigen, wie sie sind. Etwas Gezwungenes und Peinliches ist unzertrennlich von dieser ironischen Erzählungsweise.*)*

*) Z. B.: »Julian antwortete gewandt auf diese Einwendungen, das heißt, was den Wortlaut betraf; aber der Ton, in dem er sprach, und die schlecht verhehlte Lebhaftigkeit des Blickes beunruhigten Herrn Chélan. Doch darf man nicht zu gering von Julian denken; er fand genau die Ausdrücke, deren ein Heuchler, welcher auf Sammetpfoten geht, sich bedienen würde. Das war für sein Alter alles Mögliche. Was Ton und Gebärden anbelangt, so hatte er jaunter Bauern gelebt und niemals Gelegenheit gehabt, große Vorbilder zu studieren; doch kaum war es ihm später im Leben vergönnt, sich solchen zu nähern, als er sich bewunderungswürdig vervollkommnete, sowohl bezüglich seiner Gebärden als auch dessen, was er sagte.« An einer andern Stelle, als Julian bei einem brutalen Gefängnisdirektor zu Mittag speist, ist er indigniert über die Gesellschaft, in welcher er sich befindet; er sagt sich, daß auch er vielleicht eine derartige Stellung erreichen könne, wenn er Gemeinheiten begehen wolle, wie sie den Anwesenden schon zur Gewohnheit geworden. O Napoleon! denkt er, wie süß war es, zu deiner Zeit sein Glück zu machen, indem man sein Leben in der Schlacht wagte, anstatt wie nun, dadurch, daß man die Leiden der Unglücklichen vermehrt! – Beyle fügt hinzu: »Ich gestehe, daß die Schwachheit, die Julian hier an den Tag legt, mir eine geringe Meinung von ihm giebt. Er gleicht hier den Revolutionsmännern mit gelben Handschuhen, die alles umwenden, aber sich nicht den geringsten Riß vorzuwerfen haben wollen.«

|259| Beyle, durch und durch Verstandesmensch, mit einer wahrhaft philosophischen Beobachtungsgabe und einer stets lebendigen Reflexion, hat nur wenig Sinn für die Außenwelt und nur geringes Talent, sie mit ihren Formen und Farben wiederzugeben Das Einzige, was ihn interessiert, sind die Vorgänge in dem Gefühlsund Sinnenleben; und wie er selbst Psycholog ist, stellt er fast lauter Psychologen dar. Seine Personen besitzen in der Regel eine Klarheit über das, was sich in ihrem Innern vollzieht, die weit über das Gewöhnliche hinausreicht. Hierin beruht der eigentümliche Bau seiner Romane. Sie bestehen vorzugsweise aus aneinander geketteten, ganze, häufig sogar viele Seiten füllenden Monologen. Beyle entfaltet vor uns das stumme Gehirnleben seiner Personen, rollt es auf und leiht dem inneren Gespräch Worte. Der Monolog ist bei ihm niemals der lyrische, dithyrambische Ausbruch, wie er es mitunter bei George Sand sein kann – nein, er ist das schrittweise, kleingehackte und doch kurz zusammengefaßte Fragen und Antworten der stummen Überlegung

Der tief liegendste Zug von Beyle’s Hauptpersonen, die sämtlich, mit dem Maßstab der üblichen Moral gemessen, im höchsten Grad gewissenlos und unsittlich sind, ist, daß sie selbst sich in ihrem Innern eine Moral geschaffen haben. Dies ist etwas, was alle Menschen thun könnten, aber was nur die höher entwickelten Menschen erreichen. Hierin beruht ihre merkwürdige Überlegenheit gegenüber anderen Persönlichkeiten, denen wir in Büchern oder im Leben begegnet sind. Sie halten ein ideales Vorbild, das sie selbst sich geschaffen, sich un|260|aufhörlich vor Augen, bilden sich danach und geben sich nicht eher zufrieden, als bis sie sich Selbstachtung erkämpft. Darum kann Julian, der wegen eines Mordversuches an einem wehrlosen Weib hingerichtet wird, sich in seiner Todesstunde damit trösten, daß er nicht isoliert auf Erden gelebt habe, weil er stets die Idee »der Pflicht« vor Augen hatte. Es erhellt deutlich, daß Beyle diesen Charakterzug, mit welchem er seine Helden ausstattet, seinem eigenen Wesen entnahm. In einem seiner Briefe von 1822, heißt es z. B.: »Ein Tag, an dem ich in Zorn gerate, ist für mich verloren; aber sobald ich sehe, daß man sich eine Unverschämtheit gegen mich herausnimmt, bilde ich mir ein, man werde mich verachten, falls ich mich nicht erzürne.« Dies ist genau die Art, wie Julian und Fabrice räsonnieren. So zwingt Julian sich, seine Hand liebkosend auf diejenige Madame de Renal’s zu legen; so zwingt Fabrice sich, aus Trotz die wahre, aber höhnische Bemerkung zu wiederholen, die er bei Waterloo über die Flucht der französischen Soldaten gemacht. Julian ist Franzose und scharfdenkend, Fabrice Italiener und naiv, aber sie begegnen sich in derjenigen Eigenschaft, welche man die moralische Produktivität nennen könnte. Wie Julian im Gefängnis zu sich selbst sagt: »Die Pflicht, die ich mir – ob mit Recht oder Unrecht – vorschrieb, war wie der starke Baumstamm, an welchen ich mich während des Unwetters lehnte,« so sagt der leichtsinnige Fabrice, der sich eine augenblickliche Furcht vorwirft (gleichfalls zu sich selbst): »Meine Tante meint, was ich am meisten bedürfe, sei, mir selbst vergeben zu lernen. Ich vergleiche mich immer mit einem vollkommenen Vorbild, das nicht existieren kann.« Man findet dieselbe geistige Überlegenheit und Selbständigkeit bei Fräulein de la Mole in »Rouge et Noir« und bei Mosca in »La Chartreusse«. Mosca, von dem die Zeitgenossen naiverweise glaubten, er sei nach Metternich’s Modell gezeichnet, steht, obschon Minister an einem legitimistischen Hof, dem System, welchem er dient, mit völlig ebenso freiem Geiste gegenüber, wie Beyle’s junge Hauptpersonen zu thun |261| pflegen. Mosca schwärmt sogar insgeheim für Napoleon und ist in seiner Jugend Offizier in dessen Heer gewesen. Wenn er sein großes, gelbes Ordensband anlegt, geschieht es mit einem Scherz auf den Lippen: »Es kommt uns nicht zu,« sagt er, »das Prestige der Macht niederzureißen; das besorgen die französischen Zeitungen rasch genug; die Ehrfurchtsmanie wird kaum unsere Lebenszeit ausdauern.«

Doch gleichviel ob die geschilderten Persönlichkeiten durch Begabung hervorragend sind oder nicht, so ist die Art, wie ihr Geistesleben dargestellt wird, einzig dastehend. Wir schauen ihnen nicht bloß in die Seele, sondern wir sehen – wie bei keinem anderen Schriftsteller – die psychologischen Gesetze, kraft deren sie genau so handeln und fühlen müssen, wie es der Fall ist. Kein anderer Romandichter verschafft seinen Lesern in gleich hohem Grade das Vergnügen, welches vollkommene pshchologische Einsicht gewährt.

Madame de Rênal liebt Julian, der in ihrem Hause als Lehrer ihrer Kinder lebt. An einer Stelle heißt es: »Mit Scham und Schrecken entdeckte Madame de Rênal, daß sie ihre Kinder noch inniger liebte, weil sie Julian so gerne hatten.« Mathilde de la Mole peinigt Julian, indem sie ihm die Gefühle anvertraut, welche sie früher für einzelne ihrer Verehrer gehegt. Danach heißt es: »Hätte man geschmolzenes Blei in seine Brust gegossen, er würde nicht so sehr gelitten haben. Wie konnte der arme Mensch, elend wie er sich fühlte, erraten, daß Fräulein de la Mole, nur weil sie mit ihm sprach, so viel Gefallen daran fand, sich ihrer alten Liebeleien zu erinnern?« – Beide Stellen illustrieren ein psychologisches Gesetz.

Julian hat aus Ehrgeiz, aber mit innerlichem Widerwillen den geistlichen Beruf erwählt. Bei einer festlichen Gelegenheit sieht er in der Dorfkirche einen jungen Bischof knieen, von lauter hübschen jungen Mädchen umringt, die, wie es scheint, seine schönen Spitzen, seine anmutigen Manieren, seine feine, |262| sanfte Physiognomie nicht genug bewundern können: Dies Schauspiel ließ in unserm Helden das letzte Bedenken schwinden. »In diesem Augenblick würde er sich für die Inquisition geschlagen haben, und das in gutem Glauben.« Besonders dieser Zusatz, »und das in gutem Glauben«, ist bewunderungswürdig. Man vergleiche hiermit eine Stelle aus »La Chartreuse«: Mosca mußte während eines Aufstandes bei dem Tode des Fürsten – eines Fürsten, den er gründlich verachtete, und den dieeigene Geliebte Mosca’s hat vergiften lassen – sich an die Spitze der Soldaten stellen und im Namen des jungen, gleich erbärmlichen Fürsten den Haufen auseinandersprengen. In dem Briefe, worin er seiner Geliebten das Geschehene mitteilt, heißt es: »Aber das Wunderliche ist, daß ich in meinem Alter eine augenblicklicheBegeisterung fühlte, als ich meine Rede an die Garde hielt und ihrem Cujon von General die Spauletten abriß. In diesem Augenblick hätte ich ohne Schwankenmein Leben für den Fürsten hingegeben; ich muß gestehen, daß es eine sehr dumme Art gewesen wäre, desselben ledig zu werden.« – Beide Stellen zeigen mit seltener Feinheit, wie künstliche Begeisterung gleichsam durch Ansteckung entsteht und verblendet.

Kein Romandichter hat jemals wie Beyle die inneren Kämpfe der Vorstellungen und der durch sie hervorgerufenen Gemütsbewegungen dargestellt. Bei ihm sieht man wie durch ein Vergrößerungsglas oder wie bei einem Präparate, wo die feinsten Äderchen durch Einsprengung von Farbstoff deutlich erkennbar sind, das Wechsel- und Stärkeverhältnis zwischen den Glücks- und Unglücksgefühlen der Menschen, die leiden und handeln. Mosca hat einen anonymen Brief erhalten, der ihm berichtet, seine Geliebte sei einem Andern gewogen. Die Mitteilung, für deren Richtigkeit vieles spricht, schlägt ihn zuerst völlig nieder. Dann grübelt er als verständiger Mann und als Diplomat unwillkürlich darüber nach, von wem der Brief wohl herrühren könne. Er findet heraus, daß |263| der Fürst denselben verfaßt haben müsse. »Als diese Aufgabe gelöst war, wurde die kleine Freude, welche das Vergnügen über die augenscheinlich richtige Lösung mit sich brachte, bald verwischt durch den Schmerz, den er von neuem empfand, als vor seinem inneren Blick die jugendliche Erscheinung seines Nebenbuhlers auftauchte.« – Beyle unterläßt nicht, die flüchtige Befriedigung über die Entdeckung zu erwähnen, welche für einen Augenblick die Qualen der Eifersucht unterbricht. – Nur wenige Tage trennen Julian von dem Tage, an dem er das Schaffot besteigen muß. Er sieht inzwischen in seinem Gefängnis häufig seine Geliebte, von der er seit Jahren getrennt war, und lebt in seiner Liebe, fast ohne an das Bevorstehende zu denken: »Durch seltsame Wechselwirkung der Leidenschaft, wenn diese im höchsten Grad und ohne irgendwelche Verstellung vorhanden ist, teilte Madame de Rênal beinahe seine Sorglosigkeit und sanfte Heiterkeit.« Diese letztere so kühne Bemerkung scheint mir von der überraschendsten Tiefe. Beyle hat richtig gefühlt und ausgesprochen, wie energisch eine die ganze Seele füllende glückliche Leidenschaft alle finsteren Gedanken (selbst den Gedanken an den gewissen Untergang) aus dem Bewußtsein verscheucht, so oft sie sich aufdrängen wollen; er hat gezeigt, daß die Leidenschaft bei ihrem Ringen mit der Vorstellung von einem bevorstehenden Unglück diese als machtlos überwindet, wo sie dieselbe nicht als absolut undenkbar von sich weisen kann. Solche Stellen bei Beyle sind es, welche bei einem Vergleich alle anderen Schriftsteller flach erscheinen lassen.

Seine Persönlichkeiten sind niemals schlichte, gewöhnliche Menschen, sondern er versteht, denselben – auch den weiblichen Figuren – ein eigenes Gepräge von Größe zu geben. Sie haben einen gewissen verschrobenen und doch echten Heroismus, einen Aufschwung, der das ganze Seelenleben mit sich fortreißt, und, wenn es zur Entscheidung kommt, feinere Gefühle und stärkere Herzen als die Durchschnittsmenschen. Man achte auf die kleinen |264| Züge, die seine Frauengestalten charakterisieren. Von Madame de Renal heißt es in »Rouge et Noir«: »Sie war eine von jenen edlen, schwürmerischen Seelen, welche, wenn sie die Möglichkeit zu einer edelmütigen Handlung sehen, wegen des Unterlassens dieselben Gewissensbisse empfinden, wie Andere wegen der Verbrechen, welche sie begingen.« Mathilde de la Mole sagt: »Ich fühle mich selbst auf gleicher Höhe mit allem Kühnen und Großen, was jemals existierte […] Welche große That schien nicht, ehe sie unternommen wurde, eine Unmöglichkeit! Erst wenn sie vollführt ist, kommt sie der Menge möglich vor.« Mit welcher Meisterschaft sind nicht in diesen beiden kurzen Zitaten zwei entgegengesetzte Formen weiblichen Hervorragens gezeichnet: die Hingebung neben der Tollkühnheit! Man fühlt, wie wahr Beyle gesprochen, als er in einem Briefe an Balzac sein künstlerisches Vorgehen so definiert: »ich nehme irgend eine männliche oder weibliche Persönlichkeit, die ich gut kenne, behalte die Grundzüge des betreffenden Wesens bei, nur statte ich sie in geistiger Hinsicht besser aus (ensuite je lui donne plus d’esprit).«

Von seinen beiden Romanen ist »Rouge et Noir«, der auf französischem Boden spielt, unbedingt der bedeutendere; in »La Chartreuse de Parme« hat man nur ausnahmsweise das sichere Gefühl, wirklichen Grund und Boden unter seinen Füßen zu haben. Beyle hat sich nun einmal sein eigenes Italien nach seinen phantastisch ausgefaßten Jugenderfahrungen gebildet, und dieses Italien macht auf uns einen wenig zuverlässigen Eindruck. Er zeigt in seinen Romanen wie auch in seinen Abhandlungen, daß italienische Gemüter wegen ihrer lebendigen Einbildungskraft weit mehr als französische von Mißtrauen und Hirngespinsten geplagt sind, daß aber dagegen ihre Freuden heftiger und dauernder sind, daß sie einen lebhafteren Schönheitssinn und weniger Eitelkeit besitzen. Zuweilen überrascht er durch völkerpsychologische Bemerkungen, die, vorausgesetzt daß sie richtig sind – was ich glaube – eine ungewöhnliche Tiefe haben. So heißt es einmal von der Herzogin |265| von Sanseverina, daß sie, die selbst sich einer Vergiftung schuldig gemacht, außer sich geriet vor Gram, daß ihr Geliebter von Gift bedroht wurde: »Ihr kam nicht von fern die moralische Reflexion, die für eine Frau, welche in einer der nordischen, die persönliche Prüfung gestattenden Konfessionen erzogen worden, so natürlich gewesen wäre: Ich habe mich selbst des Giftes bedient und werde nun durch Gift gestraft. In Italien scheinen solche Reflexionen in leidenschaftlichen Augenblicken so thöricht, wie in Paris unter ähnlichen Umständen ein Kalauer erscheinen würde.« Was Beyle von dem italienischen Naturell am innigsten und tiefsten ansprach, war offenbar der rein heidnische Untergrund, den keine Religion weder des Altertums noch des Mittelalters zu beseitigen vermochte. Bei allem Scharfsinn in der Rassen-Psychologie, wie er in »La Char- · treuse de Parme« sich findet, spricht dennoch dieses Buch den modernen Leser weniger an, da es weit mehr als »Rouge et Noir« Spuren rein äußerlicher Romantik aufweist: Verkleidungen, Mord, Gefängnis- und Fluchtscenen, Vergiftungen u. s. w. Dagegen ist eine tiefe innere Romantik diesen beiden Büchern gemein.

Obschon Beyle in mancher Hinsicht ein höchst moderner Geist – seine immer wiederkehrende Prophezeihung: »Ich werde gegen das Jahr 1880 gelesen werden!« ist genau in Erfüllung gegangen – so ist er nichtsdestoweniger in seinem Seelenleben und seiner Charakterzeichnung entschieden Romantiker, so zu verstehen jedoch, daß seine Romantik diejenige starker Seelen und kritischer Geister ist; sie bildet das Element von bis an Wahnsinn grenzender Schwärmerei und bis zur Selbstaufopferung gehender Zärtlichkeit, das sich zuweilen bei fonst entschiedenen und rationellen Charakteren vorfindet. Diese Romantik wirkt in Beyle’s sich selbst sonst so klaren Personen wieder stärkste Sprengstoff: sie ist in einen festen Körper eingeschlossen, aber sie bewahrt darin ihre Kraft. Ein Stoß – und der Dynamit sprengt die Glaskugel, Tod und Verderben ringsum verbreitend. Man sehe nur Julian, Mathilde, die Herzogin von Sanfeverina u. s. w. |266| Ab und zu scheinen diese Persönlichkeiten eher dem 16. Jahrhundert, das Beyle mit so vieler Andacht studierte, als unseren Tagen anzugehören. In Beziehung auf Fabrice bemerkt er selbst einmal, daß dessen erste Anspornung ganz im Geiste jenes Jahrhunderts lag, und nach seiner eigenen Darstellung lebt Mathilde völlig in dem Frankreich desselben Jahrhunderts. Doch mit dieser Romantik der Energie und der kühnen Thaten vereint Beyle gerade jene Form romantischer Schwärmerei, die dem Jahre 1880 in Frankreich entspricht. Sein Julian, ein genialer, aber von dem Geist der Restaurationszeit unterdrückter Plebejer, welcher sich von der herrschenden goldenen Mittelmäßigkeit überstrahlt sieht, wird von Hunger und Durst nach Erlebnissen verzehrt; auf ohnmächtigen Haß angewiesen, macht er, um sich über seine ursprüngliche gesellschaftliche Stellung zu erheben, von jedem Mittel Gebrauch, steht aber, selbst wenn er augenblicklich triumphiert, stets auf dem Kriegssuß mit seiner Umgebung und ist ewig unbefriedigt. Als aufrührerischer Melancholiker, als rachedurstiger Plebejer, als Unglücklicher, der sich im Krieg mit der Gesellschaft befindet (»l’homme malheureux en guerre avec la société« nennt ihn Beyle), ist er ein ungefähr gleichaltriger, aber klügerer Bruder jener Stiefkinder der Gesellschaft, die Hugo zeichnet – Didier, Gilbert, Ruh Blas – mit Alexandre Dumas’ jugendlichem Helden, dem Bastard Antony, mit Mussets Frank, George Sands Lélia und Balzacs Rastignac nah verwandt.

Als Schriftsteller betrachtet, stammt Beyle aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Er hat sich nach Montesquieu gebildet, erinnert bisweilen an Chamfort, ist ein Bewunderer von Paul Louis Courier, welcher gleich ihm vom Soldatenstand zur Litteratur übergegangen war und dessen bildlose Sprache und verstandesklare, klassische Reinheit ihm im höchsten Grade zusagte. Doch wenn Courier sich vor Allem den Wohllaut und die vollendete Durchsichtigkeit des Stiles angelegen sein ließ, wenn er einmal von einem Schriftsteller des Altertums rühmend sagt, er hätte den |267| Pompejus in der Schlacht bei Pharsalus für den Sieger gelten lassen, wofern der Satz dabei eine größere Rundung gewonnen – so bezeichnet dies den Standpunkt, welcher Beyle am fernsten liegt. Beyle hatte als Stilist weder Farben- noch Formensinn. Er wollte und konnte nicht für das Auge schreiben; das Bild war ihm nichts im Vergleich mit der Idee; er suchte niemals auch nur flüchtig sich der Schreibweise Chateaubriands oder Hugos zu nähern. Ebensowenig wandte er sich an das Ohr, wenn er schrieb; die poetische Prosa war ihm ein Greuel; er haßte den Stil in Madame de Staël’s »Corinne« und spöttelte über George Sands Vortragsweise. Aus Trotz gegen die poetische Beredtsamkeit schrieb er an Balzac die bekannten Worte: »Als ich La Chartreuse verfaßte, las ich jeden Morgen zwei bis drei Seiten im Code civil, um den rechten Ton zu treffen und immer natürlich zu sein; ich mag den Sinn des Lesers nicht durch künstliche Mittel bethören.« Nicht leicht kann ein Dichter eine größere und zugleich unverständigere Geringschätzung des Künstlerischen ausdrücken. Nichtsdestoweniger besitzt Beyle künstlerische Eigenschaften. Sind auch seine Bücher als Ganzes erbärmlich komponiert, mangelhaft in der Zeichnung, so sind doch viele Einzelnheiten meisterlich ausgemalt; ist sein Stil auch ohne alle Musik – was übrigens bei einem Verehrer italienischer Musik, der er ist, befremdet – so wimmelt es doch darin von unvergeßlichen Sätzen. Beyle besitzt nicht die Kunst, eine Seite im Zusammenhang zu schreiben, aber er hat das Genie, durch ein Wort einen Zug schlagend hervorzuheben. In dieser Beziehung ist er George Sands Antipode, denn ihr gelingt die Seite stets weit besser als das Wort, wie Beyle das Wort unendlich viel besser als die Seite. Für Balzac hegte er eine aufrichtige Bewunderung, aber dessen Stil war ihm ein Greuel. Man sieht dies am besten aus einer Stelle in »Mémoires d’un Touriste«, wo er bemerkt, Balzac habe seine Romane zuerst in einer vernünftigen Sprache geschrieben und nachher erst in den |268| schönen romantischen Stil gekleidet mit Ausdrücken wie »es schneit in mein Herz« u. a. m. Seiner eigenen Diktion haften alle jene Vorzüge und Mängel an, welche seiner philosophischen und aphoristischen Denkweise in natürlicher Folge entsprangen; einerseits ist dieselbe gedankenreich und nüchtern, andererseits nachlässig und von einer Reflexion zur andern springend.*)*

*) Um einen Überblick zu haben, wie schlecht und wie gut Beyle schreiben kann, lese man Folgendes: »Ce raisonnement, si juste en apparence, acheva de jeter Mathilde hors d’elle même. Cette âme altière, mais saturée de toute cette prudenee sèche, qui passe dans le grand monde pour prendre fidèlement le coeur humain, n’était pas faite pour comprendre si vite le bonheur de se moquer de toute prudence qui peut être si vif pour une âme ardente.« Man ahnt, was Beyle sagen will, obgleich der Satz, abgesehen von seiner stilistischen Unbehülflichkeit, nicht einmal logisch richtig ist. Unmittelbar darauf folgt der durch seinen Scharfsinn und Witz gleich überraschende Satz: »Dans les hautes classes de la société de Paris, où Mathilde avait vécu, la passion ne peut que bien rarement se dépouiller de prudence, et c’est du cinquième étage qu’on se jette par la fenêtre
Aber sie besitzt einen großen und schwerwiegenden Vorzug: sie ist von einem wahren horror vacui beseelt, sie hat einen solchen Schrecken vor dem Leeren und dem Vagen, daß kaum mehr eine so inhaltsreiche, kernige Darstellung zu finden ist wie die seine.

Er pflegte zu sagen, daß nur Pedanten und Priester vom Tode schwatzen; er fürchtete denselben nicht, betrachtete ihn aber als eine häßliche, traurige Sache, von der man so wenig als möglich reden solle. Als ihn im Jahre 1842 der Tod ereilte – wie er sich ihn gewünscht, plötzlich und unvermutet – war sein Name dem Publikum beinahe unbekannt. Nur drei Personen waren bei seiner Beerdigung zugegen, und niemand von ihnen sprach ein Wort. Was die Presse über ihn sagte, war, wenn auch wohlgemeint, doch nur ein Zeugnis dafür, wie wenig diejenigen ihn verstanden, die ihn am meisten anerkannten. – Seitdem ist sein Ruhm beständig gestiegen! Man fing an, ihn als einen mehr oder weniger affektierten und originellen Sonderling zu betrachten; |269| später war man, selbst wenn man ihm große Geistesgaben einräumte, immerhin geneigt, eine isolierte Erscheinung, einen in seiner Paradoxie unfruchtbaren Geist in ihm zu erblicken. Ich meinesteils sehe in ihm nicht nur einen Hauptrepräsentanten des Geschlechtes von 1830, sondern eiu unüberspringbares Glied der großen Ideenbewegung des Jahrhunderts; denn als Psychologe hatte er keinen geringeren Nachfolger als Taine und als Dichterkeinen geringeren Schüler als Prosper Mérimée.*)*

*) Die besten Artikel über Beyle sind: die Kritik Balzacs über »La Chartreuse« diejenige Taine’s über »Rouge et Noir«, Mérimée’s Vorwort als Einleitung zu Beyle’s »Correspondance inédite« (etwas ausführlicher in »Portraits historiques« enthalten), Colombs biographischer Essai, Sainte-Beuve’s zwei Artikel in »Causeries du lundi«, T. 9, A. Bussiere’s Artikel in der »Revue des deux mondes« vom 15. Januar 1843, derjenige Zola’s in »Les romanciers naturalistes« und Paul Bourgets Artikel in der »Revue nouvelle« vom 15. August 1882. Alfred de Bougy’s »Stendhal« ist nur Plagiat und Wichtigthuerei.

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