Henri Beyle ist ohne Zweifel einer der vielseitigsten Geister aus jener reichen Periode. Am schärfsten unterscheidet ihn von den französischen Romantikern seiner Umgebung der Grundzug, daß er in direkter Linie vom 18. Jahrhundert, insbesondere von dessen streng rationeller und sensualistischer Philosophie abstammt, so daß niemals in seiner Seele, auch in keiner noch so kurzen Jugend- oder Übergangsperiode, sich ein Funken von der üblichen romantischen Pietät für die religiösen Traditionen findet; er ist mit einer Entschiedenheit, die sein ganzes Leben hindurch nicht in einem einzigen Punkt ihn verläßt, ein philosophischer Gegner von allem, was in jener großen romantischen Bewegung Reaktion gegen den Geist des 18. Jahrhunderts hieß. Niemals ließ er sich im geringsten durch Chateaubriand oder Madame de Staël beeinflussen – er war weder Kolorist wie ersterer noch beredt wie die letztere – ebenso wenig durch André Chénier, Hugo und Lamartine. Der Sinn für Metrik mangelte ihm, er war weder lyrisch noch pathetisch; seine Vorbilder als Romantiker waren keine inländischen. Seine Treue gegen die von den Romantikern aller Länder so gering angesehenen Philosophen Condillac und Helvetius blieb unverbrüchlich, ja unerschütterlich selbst in der Zeit, als das Verdammungsurteil über sie ein allgemeines war.
Er lebte und starb als leidenschaftlicher Atheist. Es war in seiner Überzeugung, daß die Welt nicht von einem Gott Vater |244| gelenkt werde, gleichsam ein Element von Feindschaft gegen das Wesen, an das er nicht glaubte, ein Zorn über die Schrecken des Erdenlebens, der sich Luft in dem traurig-witzigen Worte machte: »Ce qui excuse Dieu, c’est qu’il n’existe pas.« Niemals versäumte er eine Gelegenheit, seinen Unwillen gegen die positive Religion an den Tag zu legen. Fühlte er sich einmal veranlaßt zu schreiben, »die einzig wahre Religion«, so unterließ er nicht, in Paranthese hinzuzufügen »(des Lesers)«, und erwähnte er ausnahmsweise die christliche Moral, so versuchte er, sie auf die weise Berechnung zu reduzieren, »Trüffeln nicht zu essen, um sich den Magen nicht zu verderben.«
Als Moralphilosoph (auch als Privatmann) war er ein ausgeprägter Epikuräer. Er erkannte keine andere Triebfeder des Handelns an, als den Egoismus, das heißt, den Drang nach Vergnügen und die Furcht vor Schmerz, und es bedurfte nach seiner Auffassung keiner anderen Erklärung dafür, auch nicht für die sogenannten heroischen Handlungen, da die Furcht vor Selbstverachtung, d. h. die Furcht vor einem Übel hinreichend sei, einen Menschen ins Wasser zu werfen, um dadurch einen andern zu erretten. (Siehe Beyles Auseinandersetzung in dem höchst interessanten Brief vom 28. Dezember 1829.) Unter tugendhaften Handlungen versteht er solche, die beschwerlich für den, der sie ausführt, aber nützlich für Andere sind.
Er war durch und durch und ausschließlich Psycholog; als beobachtender Tourist, als Forscher in alten Chroniken, als Romanund Novellenschreiber immer nur Psycholog. Der Menschenseele galt sein stetes Studium, er ist einer der ersten modernen Schriftsteller, für welche die Geschichte als Wissenschaft sich auf ein psychologisches Problem beschränkt. Aber die Wissenschaft von dem Menschen war für Beyle, vermöge seiner Glücksmoral, die Wissenschaft vom Glücke. Um das Glück drehten sich alle seine Gedanken. Unter Charakter verstand er die einem Menschen zur Gewohnheit gewordene Art, das Glück aufzusuchen; und wenn er unter den verschiedenen Rassen |245| die italienische vorzog, war es, weil die italienischen Männer und Frauen ihm am sichersten und geradeswegs dem Glück entgegen zu gehen schienen.
Selbständig, originell und leidenschaftlich, wie er war, stellte er als erste Bedingung des Glücks die auf, daß Jeder er selbst sei und nur auf sich selbst baue. Aus seinen Schriften klingt in zahlreichen Varianten die Aufforder ung an den Leser: Traue Niemand! Glaube nur das, was du gesehen, hege keine Bewunderung für etwas, das nicht dir selbst Vergnügen macht, nimm im voraus an, daß dein Nächster Nutzen davon hat zu lügen! Sein bis zur Unendlichkeit wiederholter Vorwurf gegen die Franzosen ist der, daß sie zu eitel find, um die Freude kennen zu lernen, oder vielmehr, daß sie für keine höhern Freuden empfänglich sind als für diejenigen der Eitelkeit, diese aber schätzte er seinerseits sehr gering. Nach seiner Auffassung mißt der Franzose stets an seinem Nachbar, ob er selbst Vergnügen fühle, glücklich sei u. s. w. Er wagt nicht, diese Frage aus sich selbst zu entscheiden. Die Furcht, den Andern nicht zu gleichen, die Furcht davor, was die Andern über Einen sagen würden, ist nach Beyles Auffassung das herrschende Gefühl in Frankreich. Im Gegensatz dazu hegte er selbst, nicht zufrieden mit seiner angeborenen Originalität, immer die Furcht, sich Andern gleich zu zeigen – ein Zug, der ihn zu Bizarrerie und Affektation trieb. Er, welcher beständig die Rücksichtnahme auf die Umgebung verspottete, welcher Offenheit, Selbsthingebung, Aufrichtigkeit und Naivetät liebte und verherrlichte, war stets damit beschäftigt, sich selbst zu studieren und zu überwachen. Die Pflichten, deren Erfüllung er sich vorschrieb, zielten stets dahin, irgend einem Andern zum Trotz zu handeln oder sich für irgend eine vermeintliche Beleidigung zu rächen. Der Gedanke, was der Nächste sagen und thun würde, plagte ihn ebenso sehr wie den geringsten Spießbürger; nur mit dem Unterschied, daß Beyle’s Aufmerksamkeits dahin zielte, der Nachahmung zu entgehen. Immer war er bestrebt, das Gegenteil |246| von dem zu thun, was dem Nächsten gefiel. – In dieser ewigen Opposition gegen den Spießbürger liegt etwas echt Romantisches. Nicht weniger romantisch ist der Zug, daß dieser Mann, der beständig Natürlichkeit und Rücksichtslosigkeit predigte, sein ganzes Leben hindurch eine Leidenschaft dafür bewahrte, sich zu verbergen, zu verkleiden und Andere zu mystifizieren, indem er seine persönlichen Erfahrungen und Ansichten hinter einem wahren Wust von Umschweifen und Vermummungen verbarg.
In einer tief innern Einsamkeit war von Anfang an sein Leben verflossen. Sein überströmender Fond von Gefühl war in sich selbst zurückgestaut worden. Er betrachtete sich unter den traurigen Eindrücken seiner Kindheit schon frühzeitig als verschieden von allen Andern, wohl auch als den Andern überlegen, aber solcherweise, daß er selbst seine Überlegenheit als Verschiedenartigkeit definierte.*)*
Er war sich bewußt, daß er als anders geartet nicht auf eine allgemeine Sympathie zählen könne, so wenig wie auf ein allgemeines Verständnis. Daher sein Wunsch als Schriftsteller, in einer Sprache schreiben zu können, die nur von einigen Auserwählten verstanden würde (une 1angue sacrée); daher auch sein Wunsch, einen einzigen Leser zu finden, einzig dastehend in jeder Bedeutung des Wortes;*)* daher endlich sein Zusatz unter »La Chartreuse de Parme«: To the happy few.Aus dieser Quelle stammt auch sein Hang zur Verborgenheit. |247| Nicht nur, daß er alle seine Bücher pseudonym herausgab – bis auf eine einzige Ausnahme als de Stendhal (wahrscheinlich nach der Stadt Stendal in Preußen, dem Geburtsort Winckelmanns) – in vielen derselben (z. B. in »De l’amour«) tritt der Verfasser zudem unter einer ganzen Schaar wechselnder Pseudonyme auf. Jede Meinung, zu der er sich nicht gerne selbst bekennt, jede Anekdote, die einen Einblick in sein Privatleben gewähren könnte, wird unvermeidlich bald einem Alberic, bald einem Lisio, bald »dem liebenswürdigen Oberst So und So« zugeschrieben. Beyle hat sich in seinen Schriften ebenso viele verschiedene Beschäftigungen wie Namen beigelegt: bald ist er Kavallerieoffizier, bald Eisenhändler, bald Zollbeamter, bald Handlungsreisender; er tritt bald als Mann, bald als Frauenzimmer auf, abwechselnd als adelig oder bürgerlich, als Engländer oder Italiener. Am liebsten hätte er in einer Chiffresprache für Eingeweihte geschrieben. In dieser Sucht, auf falsche Fährte zu leiten, steckte offenbar etwas von der Geheimniskrämerei des Diplomaten; dazu kam ein in seiner Privatkorrespondenz fast in Verfolgungswahn ausartendes Mißtrauen gegen die Polizei. Er hatte in seiner Jugend sowohl die Polizei Napoleons als auch diejenige Ósterreichs kennen gelernt, und sah in Gedanken beständig seine Briefe aufgefangen und geöffnet. Darum unterschrieb er fast niemals einen Privatbrief mit seinem Namen. Ich finde in seiner Korrespondenz mehr als 70 pseudonyme Unterschriften, von den absonderlichsten bis zu den gewöhnlichsten Namen: Conickphile, Arnolphe II., C. de Seyßel, Chopin d’Ornonville, Toricelli, Francois Durand u. a. m.; er nennt sich bald »Capitaine«, bald »Marquis«, bald »Ingenieur«, er unterzeichnet sich bald nur mit seinem Alter, bald mit der Straße und Hausnummer. Grenoble nennt er Cularo, Civita-Vecchia Abeille. Es belustigt ihn, seinem Namen eine fingierte Ortsbezeichnung beizufügen, wie z. B. Théodore Bernard (du Rhöne), ja er unterzeichnet sogar einen öffentlichen Vorschlag an die Juli|248|regierung betreffs eines neuen Wappenschildes für Frankreich fol gendermaßen:
Es war ihm ein solches Ergötzen, sich unkenntlich zu machen oder sich selbst zu travestieren, daß der Satz »odi profanum vu1gus et arceo« wohl als Ausdruck für das gelten kann, was für ihn persönlich die Bedingung zum Glücke war. Worin bestand es selbst für ihn?
Augenscheinlich von Anfang an in verwegener That und in leidenschaftlicher Liebe. Das Grauen, womit man, hingerissen von einer Sache oder einer Persönlichkeit, sein Leben aufs Spiel setzt, das Beben, in welches glückliche Liebe die Seele versetzt, waren für ihn die höchsten Momente des Menschenlebens. Da wo er in der Einleitung zu »La Chartreuse« von Mailand spricht, bemerkt er sehr charakteristisch: »Der Abmarsch des letzten österreichischen Regimentes bezeichnete den Umsturz der alten Ideen: sein Leben gering zu achten, kam in die Mode. Man sah, daß, um nach Jahrhunderten der Heuchelei und Schalheit glücklich zu sein, man etwas mit wirklicher Leidenschaft lieben und es verstehen müsse, sein Leben aufs Spiel zu setzen, wenn der Augenblick es erforderte.«
Die beiden Leidenschaften: die Liebe zum Krieg und die Liebe zum Weibe, waren bei Beyle nur zwei Äußerungen für eine und dieselbe Grundleidenschaft, die Liebe zu dem, was er »le divin imprévu« das göttliche Unvorhergesehene, zu nennen pflegt, diese Leidenschaft, in welcher er vollständig Poet ist. Inwiefern der Krieg, besonders wie Napoleon ihn führte, diesen Hang befriedigte, bedarf keiner Erläuterung; inwiefern Italien, besonders die italienischen Frauen, demselben genug thaten, erklären Beyle’s eigene Worte. In einem Brief aus Mailand vom 4. September 1820 heißt es: »Nachdem ich fünfzehn Jahre in Paris zugebracht, ist nichts auf der Welt mir so gleichgültig wie eine hübsche Französin. |249| Oft führt sogar mein Widerwille vor dem Vulgären und Affektierten mich über diese bloße Gleichgültigkeit noch hinaus. Sobald ich einer jungen Französin begegne, vor allem dann wenn sie unglücklicherweise wohlerzogen ist, erinnere ich mich augenblicklich an mein Vaterhaus und meine Schwestern, ich sehe alle Bewegungen der Dame voraus bis zur flüchtigsten Abschattierung ihrer Gedanken. Darum halte ich mehr von der schlechten Gesellschaft, weil man dort mehr überraschende Anregung findet. Soweit ich mich selbst kenne, so ist dies die Saite in meiner Seele, welche die Menschen und Dinge in Italien zum Schwingen gebracht haben – vor Allem die Frauen. Man denke sich mein Entzücken, als ich in Italien fand, was zu entdecken kein Reisender durch seine Erzählung mich des Vergnügens beraubt hatte, nämlich daß dort gerade in der guten Gesellschaft sich die meisten Überraschungen bieten. Diese merkwürdigen Geister [Genien, sagt Beyle] lassen sich nur durch Mangel an Geld oder durch die reine Unmöglichkeit verhindern, ihrer Eingebung zu folgen; wenn sich noch Vorurteile finden, so ist es in den unteren Klassen.«
Was Beyle am höchsten liebt, ist also mit anderen Worten die Energie in Handlungen wie in Gefühlen – Energie, gleichviel ob sie als die geniale Unwiderstehlichkeit des Feldherrn oder als die grenzenlose Zärtlichkeit der Frau auftritt. Darum treibt er, der kalte, trockene Spötter, einen förmlichen Kultus mit Napoleon;*)*
darum liebt er die Mailänderin; darum versteht und schildert er als Schriftsteller das fünfzehnte und sechzehnte Jahrhundert in Italien weit besser als die Gegenwart Er trug sich lange mit dem charakteristischen Plan, eine »Geschichte der Energie in Italien« zu schreiben, |250| und man kann sagen, daß seine, nach alten Handschriften kopierten, bearbeiteten oder nachgedichteten italienischen Chroniken die Psychologie der italienischen Energie gegeben haben.Eine Andeutung genügt, um zu zeigen, daß dieselbe Liebe zu dem Unvorhergesehenen, die ihn in den Krieg getrieben, später, als die Kriegsperiode abgeschlossen war, ihn zum Reisenden, Emigranten, Kosmopoliten machte. Er erwähnt einmal in einem seiner Briefe, als er Reiseordre bekommen hat und ihr nur ungern Folge leistet, weil zarte Bande ihn an die Stelle binden, ausdrücklich des Vergnügens, das er gleichwohl unwillkürlich fühlt, »sobald die Rede davon ist zu reisen und etwas Neues zu sehen.« Und ebenso einleuchtend ist es, daß derselbe Drang zu dem Unvorhergesehenen, das heißt, dem Originellen und Rücksichtslosen, dem in tieferem Sinne Genialen, der ihn zu den Frauen zog und die Ursache war, heftiger und zärtlicher als Andere zu lieben, sich in der leidenschaftlichen Liebe zur Musik und zur bildenden Kunst verrät, die ihn zum Enthusiasten, Dilettanten, Cicerone und Biographen machte. Er liebte Cimarosa und Correggio, Ariosto und Byron, wie man eine Frau liebt. Man studiere z. B. sein Verhältnis zu Byron. Der Welt gegenüber beurteilte er ihn streng und kalt; in seinem persönlichen Verkehr mit Byron trat er voll Stolz auf, stritt mit ihm über Napoleon u. s. w.; er ließ sogar einen gewinnenden Brief von Byron, den dieser ihm sieben Jahre nach ihrer ersten Begegnung schickte, unbeantwortet, weil derselbe (in seiner Verteidigung Walter Scotts) ihm eine Spur von Heuchelei zu verraten schien. Aber man lese, in welchen Ausdrücken er da, wo er sich keinen Zwang anzuthun braucht, seine Gefühle bei der ersten Begegnung mit Byron schildert: »Ich war damals in »Lara« verliebt. Vom nächsten Augenblick an sah ich Lord Byron nicht mehr wie er wirklich war, sondern wie mir schien, daß der Verfasser von »Lara« sein müsse. Als das Gespräch in der Loge ins Stocken zu kommen drohte, versuchte Herr von Breme mich zum Sprechen zu bringen; |251| aber es war mir rein unmöglich, ich war zu erfüllt von Ehrfurcht und Zärtlichkeit. Wenn ich’s gewagt hätte, würde ich Lord Byrons Hand geküßt haben und in Thränen ausgebrochen sein […] Erfüllt von zärtlicher Besorgnis, gab ich ihm den Rat, sich eine Droschke zu nehmen.*)*
Noch andere Männer außer Beyle haben den Krieg und das Reisen, die Frauen und die Kunst geliebt; aber das absolut Eigentümliche und so außerordentlich Moderne an ihm ist der Trieb und die Fähigkeit, mitten unter der Aktion und der Leidenschaft sich Rechenschaft über sich selbst zu geben. Unablässig untersucht und beobachtet er sein Ich, hat so zu sagen die Hand beständig an seinem eigenen Pulse; er konstatiert mit nie versagender Kaltblütigkeit seinen Zustand und dessen Ursachen und zieht aus seinen Wallungen eine Kette von allgemeinen Ideen. Man folge ihm in eine Schlacht. Während der Kanonade bei Bautzen notiert er:
»Wir sehen zwischen 12 und 3 Uhr alles sehr gut, was man von einer Schlacht sieht, das heißt nichts. Das Vergnügen besteht darin, daß man ein Bischen [dies »ein Bischen« ist bezeichnend] bewegt ist bei der Gewißheit, daß hier vor unsern Augen etwas Fürchterliches geschieht. Der majestätische Lärm der Kanonen trägt viel zu dieser Wirkung bei; mir scheint, wenn sie pfiffen oder flöteten, würde die Gemütsbewegung nicht so stark sein. Ein Pfeier könnte ebenso furchtbar sein, aber niemals so schön.«
Oder man höre ihn, wenn er verliebt ist:
»Das Entstehen der Liebe.Was in der Seele vorgeht, ist folgendes:
1. Die Bewunderung.
2. Man sagt zu sich selbst: Welche Freude es sein würde, sie zu küssen, von ihr geküßt zu werden u. s. w.
|252| 3. Die Hoffnung. Man erwägt alle Umstände […] Selbst bei den zurückhaltendsten Frauen werden die Augen feucht im Moment der Hoffnung; die Leidenschaft ist so stark, das Vergnügen so heftig, daß sie sich durch unzweideutige Zeichen verrathen.
4. Die Liebe ist da. Lieben heißt, beim Anblick und bei der Berührung eines geliebten Gegenstandes, der uns liebt, Freude empfinden, froh bewegt sein, ihn mit allen Sinnen und so nah als möglich wahrnehmen.
5. Die erste Krystallisation beginnt. Man findet eine Befriedigung darin, die Frau, deren Liebe man gewiß ist, mit tausend Vorzügen auszuschcmücken; mit unendlichem Behagen geht man alle einzelnen Momente seines Glückes durch […] Man lasse den Kopf eines Liebenden vierundzwanzig Stunden arbeiten, und man wird eine Erscheinung gewahren wie die folgende: Bei Salzburg wirft man einen entlaubten Ast hinunter in die verborgenste Tiefe der Saline; wenn man ihn nach zwei oder drei Monaten wieder herauszieht, ist er mit glänzenden Krystallen überzogen: an die kleinsten Zweige, nicht dicker als die Kralle einer Blaumeise, haben sich unzählige, scheinbar bewegliche, blitzende Diamanten angesetzt, und lassen den ursprünglichen Ast nicht mehr erkennen. Was ich Krystallisation nenne, das ist die Thätigkeit des Geistes, in Allein, was sich ereignet, neue Vorzüge des geliebten Gegenstandes zu erkennen. – Da spricht gelegentlich ein Reisender von der Kühle in Genuas Orangenhainen – welche Wonne, diese Kühle mit ihr vereint zu genießen! […] Dieses Phänomen ist in unsrer Natur begründet, die das Verlangen nach Vergnügen in uns weckt und uns dabei das Blut in den Kopf jagt, sowie in dem Gefühl der Zunahme unseres Vergnügens in dem Maße, wie wir neue Vollkommenheiten am geliebten Gegenstande finden, und endlich in der Idee: sie ist mein. Der Wilde kommt nicht weiter als zur einfachen Bewunderung des begehrten Weibes. Er empfindet wohl auch Vergnügen, aber die ganze Thätigkeit seines |253| Gehirns ist davon in Anspruch genommen, das flüchtende Raubtier zu verfolgen, um sich Nahrung zu verschaffen […] Obgleich nun also der Leidenschaftliche seiner Geliebten alle Vorzüge beilegt, kann seine Aufmerksamkeit doch noch geteilt sein, denn der Geist ermüdet bei allem Einförmigen, selbst bei dem vollkommenen Glücke. Doch hierzu kommt dann folgendes, was die Aufmerksamkeit festhält:
6. Der Zweifel entsteht. Nachdem zehn oder zwölf Blicke oder auch eine Reihe anderer Handlungen dem Liebenden Mut eingeflößt und seine Hoffnung bestärkt haben […] begehrt er äußerliche Bürgschaft für sein Glück. Er begegnet Gleichgültigkeit, Kälte oder Zürnen, wenn er allzu große Sicherheit an den Tag legt […] So gelangt er dazu, an dem Glücke zu zweifeln, das er sich versprach. Er wird bedenklicher hinsichtlich der Gründe, welche ihm Hoffnung zu geben schienen. Er will sich mit den übrigen Freuden des Lebens trösten, findet aber, daß sie nicht mehr für ihn existieren. Die Furcht vor einem schrecklichen Unglück und zugleich der Hang zu tiefem Nachdenken erfaßt ihn.
7. Zweite Krystallisation. Die Diamanten derselben sind die Bekräftigung des Gedankens: Sie liebt mich. In jeder Viertelstunde der Nacht, welche auf die Entstehung des Zweifels folgt, sagt der Liebende nach der Verzweiflung einiger Augenblicke zu sich selbst: »Ja, sie liebt mich,« und er entdeckt weitere Vorzüge an ihr. Doch aufs neue bemächtigt sich seiner der Zweifel, er richtet sich auf, ihm stockt der Atem, und er fragt sich: Liebt sie mich denn wirklich? Und mitten unter diesen quälenden und süßen Erwägungen fühlt der arme Liebende lebhaft: Das Zusammenleben mit der Geliebten würde ein Vergnügen sein, das kein anderes in der Welt aufwiegen oder ersetzen könnte.«
Man findet nicht viele solch seiner und scharfer Analysen einer Leidenschaft. Nicht mit Unrecht hat die Art, wie Beer Rechenschaft über das giebt, was während einer Leidenschaft in |254| der Seele vorgeht, seine besten Kritiker, wie Taine und Bourget, an Spinoza’s meisterhaften dritten Teil seiner Ethik: De Affectibus erinnert. Es war in diesem Kriegsmann, Administrator, Diplomaten und Liebenden ein beträchtliches Stück von einem Philosophen. Er war bestrebt, jedes Phänomen des Gefühlslebens in seine Elemente aufzulösen; dafür zeigte er den Zusammenhang zwischen den Ideen und Gemütsbewegungen, welche in zusammengefaßtem System die Anlagen und den Charakter der Individuen bestimmen. Er achtete nicht weniger auf die verschiedene Stärke der Gefühle wie auf ihre verschiedenartigen Verkettungen und Assoziationen; er suchte den Grund des verschiedenartigen Gepräges der einzelnen Charaktere in den tiefsten nationalen und klimatischen Ursachen; er skizzierte eine Rassen-Psychologie. Ohne jemals eine streng wissenschaftliche Methode zu verfolgen, hatte er einen lebendigen Trieb, beim Studium der Seelenzustände in wissenschaftlicher Weise vorzugehen; er tastete fortwährend nach einem Anhaltspunkt für Zahlenbestimmungen, für Maß und Gewicht. Er schildert an einer Stelle den Besuch des Königs in einer kleinen Stadt mit Festaufzug, Te Deum und Weihrauchwolken in der Kirche, Gewehr- und Kanonensalven außerhalb derselben, und schließt: »Die Bauern waren außer sich vor Entzücken und Frömmigkeit; ein solcher Tag vernichtet die Wirkung von hundert Nummern jakobinischer Zeitungen.« An anderer Stelle erzählt ein landflüchtiger Revolutionär, wie der Aufstand, an dessen Spitze er stand, gescheitert sei, nur weil er nicht drei Menschen hinrichten lassen und sieben oder acht Millionen aus der Kasse, zu welcher er den Schlüssel besaß, unter seine Anhänger verteilen wollte. »Wer das Ziel will, muß die Mittel wollen,« erwidert Beyle’s Held, »wenn ich, anstatt ein Staubkorn zu sein, die Macht besäße, so würde ich drei Menschen hängen lassen, um das Leben von vieren zu erretten.« (»Rouge et Noir« I. 105, II. 45.)
|255| Es ist einleuchtend, daß für Beyle das Glück zumeist in Klarheit bestand. Das Ziel, dem er beständig nachstrebte, war in letzter Instanz, Klarheit über seine innern Zustände und klarer Einblick in den Mechanismus der Menschenseele. Er war der Ansicht, daß Erfolg, glückliche Liebe, Glück überhaupt, den Verstand kläre und die Urteilskraft schärfe, so wie er umgekehrt überzeugt war, daß nichts so sehr dazu beitrage, einen Menschen unglücklich zu machen, als Mangel an Klarheit. In einem Brief aus Moskau (1812) schreibt er sehr bezeichnend an einen Freund: »Das Glück, welches Du nun hast, muß Dich notwendigerweise zu den Prinzipien des reinen Bélismus [zu den streng Beyle’schen Prinzipien] führen. Ich las vor acht Tagen Rousseau’s »Confessions«. Ausschließlich vom Mangel an zwei oder drei Beyle’schen Prinzipien rührt es her, daß er so unglücklich war. Diese Manie, in Allem Pflichten oder Tugenden zu sehen, hat seinen Stil pedantisch, sein Leben unglücklichgemacht. Er verkehrt drei Wochen hindurch freundschaftlich mit einem Menschen: bautz, die Pflichten der Freundschaft u. s. w. Dieser Mensch denkt zwei Jahre darnach nicht mehr an ihn; er sucht und findet eine melancholische Erklärung dafür. Der Belismus würde gesagt haben: Zwei Körper nähern sich einander, es entsteht Wärme und eine Gärung; doch jeder Zustand dieser Art ist vorübergehend, er bleibt und ist eine vergängliche Blume, die man mit Wollust genießen soll.« Diese Worte enthalten ein Stück vortrefflicher Lebensphilosophie, welche ein ungewöhnliches Gleichgewicht bekunden würde, falls in Beyle’s eigenem Leben die Praxis durchgehends der Theorie entsprochen hätte. Aber obschon von Natur zu einem kräftigen Sensualisten angelegt, an dessen cynische Derbheit im persönlichen Verkehr seine Bekannten gewohnt waren –– er erschreckte durch seinen Cynismus George Sand, als sie mit Muss et auf der Reise nach Italien mit ihm zusammentraf – und obschon er als Denker so war, wie er es vom Philosophen verlangte: klar, nüchtern, frei von Illusionen – er pflegte zu sagen, daß die |256| Stellung eines Bankiers die beste Vorschule für die Philosophie sei – so barg er doch hinter seinem robusten Temperament und der trockenen Logik eine künstlerische Empfänglichkeit für alle Eindrücke so reizbarer, so weiblicher Art, daß selbst Rousseau nicht empfindsamer sein konnte. Er bewahrte diese Empfindsamkeit bis zu seinem Tode. Unter seinen nachgelassenen Papieren fand sich folgende Aufzeichnung: »Meine Empfindlichkeit ist zu zart geworden; was Anderen nur die Haut streift, verursacht mir blutige Wunden. So war ich im Jahre 1799, so bin ich noch 1840. Doch lernte ich all dies unter einer Ironie verbergen, welche die Menge nicht versteht.«
Selten hat ein Geist gelebt, der mit einer größeren Liebe zu dem Natürlichen und dem Rücksichtslosen mehr Umschweife und Rücksichten vereinigte, selten war ein Geist so wahrheitsliebend und zugleich so stark maskiert, so glühend in seinem Haß gegen die Heuchelei und doch gleichzeitig so wenig aufrichtig und natürlich.
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