Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[3]| I.

In den Jahren 1824–48 bringt Frankreich eine große und bewunderungswürdige Litteratur hervor. Nach den Umwälzungen der Revolution, den Kriegen des Kaiserreiches und der Erschöpfung während der Regierung Ludwigs XVIII. war eine Jugend aufgewachsen, die sich mit seltner Leidenschaft der so lange vernachlässigten höheren Geisteskultur widmete. Während der Revolutionszeit und der Napoleonischen Kriege hatten die jungen Franzosen Anderes zu thun gehabt, als die Litteratur und die Künste ihres Landes zu erneuern; die besten Kräfte des Volkes waren in die Kanäle der Politik, des Soldatenwesens oder der Administration hineingeleitet worden. Nun wurde eine große Summe geistiger Kraft, die lange gebunden gewesen, frei.

Das Zeitalter der Revolution und des Julikönigtums läßt sich als das entscheidende Auftreten der bürgerlichen Gesellschaft auf der historischen Bühne bezeichnen. Während der Restauration fängt die industrielle Periode der Geschichte an. Dies beruht, was Frankreich betrifft, darauf, daß die neue Verteilung des Nationalvermögens, welche die Revolution vollführt hatte und die zu verteidigen Napoleons ökonomische Mission gewesen war, jetzt ihre Früchte zu tragen begann. Der Gewerbefleiß und der Verkehr waren frei geworden, Monopole und Privilegien gefallen, die parzellierten Kirchen- und Klostergüter, die zerstückelten und öffentlich verkauften Majorate und Emigrantengüter waren einer vielfachen Verteilung unterworfen worden, und demzufolge fing das befreite, flüssig gewordene Kapital an, das Triebrad der Gesellschaft und |4| dadurch der vorherrschende Wunsch jedes Einzelnen zu werden. Nach der Julirevolution ersetzt allmählich die Geldmacht die Adelsherrschaft und macht das Königtum sich unterthan. Der Reiche läßt »sich in den Adelsstand erheben, erwirbt sich Pairsrechte und gebraucht durch die Verfassung immer mehr die monarchische Staatsform zu seinem Besten. So wird die Jagd nach dem Gelde, der Kampf ums Geld, die Verwendung des Geldes zu großen industriellen und kaufmännischen Unternehmungen der vorherrschende soziale Zug der Zeit, und diese Prosa, die gegen die revolutionäre und kriegerische Begeisterung des vorigen Zeitraums so stark absticht, schreckt in auffallender Weise die Dichter und Künstler von dem Leben und Treiben der Zeitgenossen zurück und trägt das ihrigesbei, der Poesie dieses Zeitalters ihr romantisches, d. h. der umgebenden Wirklichkeit entfremdetes Gepräge zu geben. Man suchte und fand Poesie in der Vorzeit und der Fremde, oder man schuf, ungestört durch die unmittelbaren Umgebungen, erträumte Helden und Ideale. Nur ein einziger der um das Jahr 1830 auftauchenden Dichter, einer der größten, Balzac, fühlte sich nicht von dem Zeitalter abgestoßen, sondern machte unerschrocken die neugeborene Kapitalmacht, den neuen Beherrscher der Seelen, das Geld, zum Helden einer großen Epopöe; die übrigen Künstler der Zeit entfernten sich, wie scharf sie auch selbst manchmal ihren Vorteil ins Auge faßten, in ihren Schwärmereien und Poesien so viel wie möglich von der neuen Wirklichkeit.

Das Decennium vor und nach 1830, das litterarisch und künstlerisch der merkwürdigste und fruchtbarste Zeitraum ist, war, politisch betrachtet, eine glanz- und farblose Zeit. Es gruppiert sich um die Julirevolution, aber diese bildet, so zu sagen, nur einen Blutflecken in all dem Grau.

Die erste Hälfte des Decenniums, die Regierungszeit Karls X., ist das Zeitalter der klerikalen Reaktion. Unter Karl X. bezeichnen die drei Ministerien Villèle, Martignac und Polignac nicht sowohl |5| drei Stadien, als vielmehr drei verschiedene Tempi der Reaktion: Allegro, Andante und Allegro furioso. Unter dem Ministerium Villèle erreichten die Jesuiten eine fast uneingeschränkte Macht. Die Klöster wurden wieder errichtet; man schuf Gesetze von wahrhaft mittelalterlicher Strenge wider Gotteslästerung, Entweihungen des Feiertages und der Kirche (z. B. Todesstrafe für Kirchenraub); die Austeilung von Almosengeldern geschah nur gegen Vorzeigen von Zeugnissen des Beichtvaters; endlich wurde 1827 ein Preßgesetz vorgelegt, das die Bestimmung hatte, alle Gegner der kirchlichen Interessen zum vollständigen Schweigen zu bringen, das jedoch die Regierung, durch den Widerstand der Pairskammer gezwungen, zurückziehen mußte. Die Nationalgarde sollte aufgelöst, die Censur wiedererrichtet werden; das Ministerium hatte aber in der Kammer die Mehrzahl gegen sich und trat im Jahre 1828 zurück. Auf den allzu rücksichtslosen Klerikalismus folgte unter Martignac ein Ministerium der Konzessionen, das dem Jesuitenregiment einige schwache Dämme zu setzen versuchte; es erreichte aber nichts, da der König bei der ersten Niederlage, die das Ministerium in der Kammer erlitt, die Gelegenheit ergriff, es zu verabschieden und Polignac, den früheren Gesandten in London, welcher der Mann nach seinem Herzen war, mit der Bildung des neuen Ministeriums zu betrauen. Polignac glaubte an das Königtum als den Schatten Gottes aus Erden, glaubte (und wurde durch Visionen in seinem Glauben gestärkt), göttliche Sendung erhalten zu haben, dem Königtum seinen früheren Glanz zurückzugeben. Die Regierung wurde aber so unpopulär, daß die einzige kriegerische That der Zeit, die Eroberung Algiers, vom Volke kalt aufgenommen und von der starken Opposition geradezu mit Trauer begrüßt wurde. Als die Auflösung der Kammer, trotz der Hirtenbriefe der Bischöfe und der persönlichen Einmischung des Königs in den Wahlkampf, zur Wiederwahl der Opposition führte, so geschah der Staatsstreich. Die Katastrophe, die dreitägige |6| Straßenschlacht folgte, und das Ministerium wurde von den Wellen der Volksbewegung, die Thron und Königshaus mit sich rissen, fortgespült.

Obwohl die erste Hälfte des Decenniums dergestalt politisch ein Zeitalter der äußersten Reaktion war, so hatte sie doch sozial und geistig ein ganz anderes Gepräge.

Zunächst erzeugte der Druck selbst den Drang nach Freiheit. Der Bürgerstand, der zuletzt durch das Pariser Proletariat und die studentische Jugend das Königshaus stürzte, hatte sich während des ganzen Zeitraums in steigender Unzufriedenheit befunden. Die Folge war unter anderm, daß die schöne Litteratur, die von Anfang an parallel mit der Regierungspolitik der historischen Reaktion gegen das achtzehnte Jahrhundert Ausdruck gegeben und die als Schwärmerei für Katholizismus, Königtum und Mittelalter begonnen hatte, ungefähr zur Zeit, wo Chateaubriand aus dem Ministerium Villèle gestoßen wurde, ihren Charakter von Grund aus zu verändern anfing. Außerdem hatte aber das geistige Leben in den höchsten Kreisen, die den Ton und den Stil der schönen Litteratur bestimmten, nur in ganz ferner Beziehung zu der politischen Reaktion gestanden. Die Restauration war ja, von einer Seite gesehen, eine Nachblüte des achtzehnten Jahrhunderts im neunzehnten: das Zeitalter der Humanität in demjenigen der Industrie. Von dem gepuderten Hofe ging höfische Sitte, von den Salons des alten Adels die freiere Denkweise in religiösen und moralischen Fragen aus, die der Stolz des vorigen Jahrhunderts gewesen war. Es galt in diesen Kreisen als nationale Überlieferung, Litteratur und Kunst mit vielseitiger Bildung und weitgehenden Sympathien entgegenzukommen. Eine nachsichtige Skepsis in religiöser, eine geniale Ungebundenheit und feinfühlende Toleranz in sittlicher Hinsicht, das war die Atmosphäre, in der die gute Gesellschaft atmete und die sie um sich verbreitete, und keine konnte für eine in starkem Wachstum sich befindende poetische Vegetation |7| günstiger und befruchtender sein. Während der Druck der Reaktion in politischen Dingen freien Sinn erzeugte, gestattete die Bildung der tonangebenden Gesellschaft der jungen Litteratur offenen Raum für freie Empfindungs- und Denkweise außerhalb der Politik und erforderte nur Feinheit und Vollendung der Form. Sie war also imstande, einer beginnenden geistigen Bewegung aufs glücklichste freie Zügel zu geben oder, wie die Engländer sagen, zu starten.

Die Julidynastie wurde gegründet, das dreifarbige Bürgerkönigtum errichtet, Ludwig Philipp auf den französischen Thron emporintriguiert, schwierig gestellt als König von Gnaden der Revolution.

Schon in dem ersten Luftrum seiner Regierung offenbarten sich die entscheidenden Eigentümlichkeiten seines Regiments. Einmal der Mangel an Haltung nach außen hin, unvermeidlich für eine Königsmacht, die sich ausschließlich auf den wohlhabenden Mittelstand stützte. Der vorsichtige und friedliebende König bereitete Frankreich eine Demütigung nach der anderen. Im Interesse des Weltfriedens schlug er den Thron aus, den die Belgier seinem zweiten Sohne anboten, und aus demselben Grunde ließ er Osterreich ungestört die italienischen Revolutionen unterdrücken, die von dem französischen Volke mit Recht als Töchter der Julirevolution aufgefaßt wurden. Er war außer stande, die Unterdrückung des polnischen Aufstandes und die Übergabe Warschaus, die in Frankreich eine förmliche Volkstrauer hervorrief, zu hindern. Das Land verlor als Großmacht mit jedem Tage mehr an Ansehen und Gewicht. Hierzu kam, daß es nach innen der Regierung in ebenso hohem Grade an Würde fehlte. Die unaufhörlichen Geldforderungen des Königshauses, die von den Kammern fast immer abgewiesen wurden, machten den peinlichsten Eindruck.

Ludwig Philipp war einen Augenblick populär gewesen, war als der Soldat von Valmy und Jemappes, der Roi Citoyen, als |8| vormaliger verbannter Schullehrer, den Lafayette selbst »die beste Republik« genannt hatte, mit Erwartungen und Sympathien begrüßt worden. Aber er hatte die Gabe nicht, sich die Volksgunst zu erhalten, wie eifrig er sich auch anfangs darum bemühte. Er war ein begabter, besonders ein kluger Mann. Er führte ein schönes Familienleben, war häuslich und ordnungsliebend. Seine Söhne besuchten die öffentlichen Schulen. Er selbst ging täglich, ohne Begleiter, im bürgerlichen Rock, den berühmten Regenschirm in der Hand, durch die Straßen von Paris, immer bereit, ein »Hoch dem König!« mit einem freundlichen Wort oder einem Händedruck zu belohnen. Aber die kleinbürgerlichen Tugenden, die er an den Tag legte, sind nicht die, welche die Franzosen an ihren Herrschern lieben. Das Wort »Wir wollen einen König haben, der zu Pferde sitzt«, das seiner Zeit dem Podagristen Ludwig XVIII. entgegengeschleudert wurde, bezeichnet das Gefühl, das beitrug, Ludwig Philipp zu stürzen.

Und wenn er zu Pferde saß, nahm er sich nicht gut aus. Als er im Juni 1832 nach einem der unzähligen Putsche in Paris den Belagerungszustand erklärt hatte und über 50,000 Nationalgardisten und Linientruppen, die auf den Boulevards Spalier bildeten, Revue hielt, ritt der König nicht in der Mitte der Straße, sondern an der rechten Seite, wo die Nationalgarden standen, und den ganzen Weg entlang lag er seitwärts vom Pferde herabgebeugt, um so vielen wie möglich die Hand zu drücken; als er zwei Stunden später desselben Weges zurückkehrte, ritt er an der linken Seite, wo er mit den Linientruppen dasselbe Manöver fortsetzte. Dabei lächelte er beständig; der dreieckige Hut, der ihm tief in die Stirne gedrückt saß, gab ihm ein unglückliches Aussehen. Er bat gleichsam mit den Augen um Verzeihung, daß er sie alle in Belagerungszustand erklärt hatte. Welch ein Anblick für eine erregbare, phantasiereiche Bevölkerung! für eine Bevölkerung, deren älteres Geschlecht Napoleon Bonaparte »mit seinem marmornen Cäsargesichte, |9| seinen unbewegten Augen und seinen unnahbaren Herrscherhändenk« hatte vorbeireiten sehen.*)*

*) Ein Ausdruck von Heinrich Heine, der als Zuschauer der Scene beiwohnte, sie geschildert und den Vergleich angestellt hat. Heinrich Heine: Sämmtliche Werke. VII I, S. 325.

Trotz der Popularitätsjagd des Königs war der Schlund zwischen seinem Hof und dem Volke nicht weniger tief, als er zwischen diesem und dem patriarchalischen Königtum der Restaurationszeit gewesen war. Der alte Adel hielt sich entfernt von dem neuen Hofe und die Stände sonderten sich von einander ab; die Grundbesitzer sahen mit Unwillen und Haß, wie die Börsenfürsten die Macht an sich rissen; Legitimisten und bürgerliche Optimaten, Politiker und Künstler hörten auf mit einander zu verkehren. Die Salons der Restaurationszeit schlossen sich einer nach dem anderen. Damit verschwand auch die aristokratische Heiterkeit und Natürlichkeit. Zugleich mit dem alten Regime wurden die elegante Großexistenz, die graziöse Frivolität, »die durch Anmut gemilderte Lebhaftigkeit und Keckheit« der vornehmen Dame begraben. An ihre Stelle trat in den reichen Bankierkreisen, die das Königshaus protegierte und die der Kronprinz vor seiner Vermählung besuchte, der englische Sport und das Klubwesen, vereint mit einer plumpen Neigung zu materiellen Genüssen und geschmacklosem Luxus.*)*

*) Hillebrand: Geschichte Frankreichs. II, S. 20 ff.
Der König war ursprünglich Voltairianer gewesen und hatte in seinen Familienverbindungen zum Protestantismus geneigt; aber besorgt für seinen Thron wie er war, schlug er schnell um, demütigte sich (übrigens vergeblich), um den Schutz der Geistlichkeit zu gewinnen, und bald wurde der Ton des Hofes devot. Die Heuchelei, welche die vornehme, reaktionäre Litteratur gefördert hatte, fing an, sich in der Bourgeoisie zu verbreiten; »der Unglaube begann wenigstens bei Frauen für eine Geschmacklosigkeit zu gelten.« Die Sitten erhielten ein mehr englisches Gepräge, wurden äußerlich |10| strenger, innerlich roher. Das Urteil der Gesellschaft wurde den Kunstgriffen des Millionärs gegenüber tolerant und den Verirrungen des weiblichen Herzens gegenüber pharisäisch. Faubourg St. Honoré, das Finanzviertel, gab den Ton an.

Kein Wunder, daß der Regenschirm bald das Symbol dieses Königtums und das Wort Juste-milieu, das Ludwig Philipp einmal nicht ohne Feinheit von der einzuschlagenden Bahn gebraucht hatte, der Spitzname für alles Schwache, Unenergische, für eine Macht ohne Glanz und Würde ward.

Fassen wir also unter Vorstehendem das Decennium von 1880 ins Auge, so erkennen wir leicht, daß es, ästhetisch beobachtet, trostlos erscheinen mußte.

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