Mit Balzac auf gleicher Stufe stehend erscheint uns von dem Standpunkte aus, den wir heute einnehmen, ein französischer Schriftsteller, den ihm an die Seite zu stellen in damaliger Zeit niemand eingefallen wäre – eine litterarische Existenz, die ebenso unbemerkt und bescheiden auftrat, wie diejenige Balzacs geräuschvoll und weithin sichtbar war. Unter den Zeitgenossen zollte merkwürdigerweise nur Balzac jenem anderen volle, unverkürzte Anerkennung Es war Henri Beyle. Dem jüngeren Geschlecht in Frankreich gelten heutigen Tages Beyle und Balzac als ein sich ergänzendes Paar, ebenso wie Lamartine und Victor Hugo. Die Zusammenstellung der beiden Schriftsteller mag auch insofern sonderbar erscheinen, als der eine an die hundert Romane, der andere nur einige kleine und zwei größere geschrieben hat; aber die Qualität dieser wenigen Bücher ist so außerordentlich, daß sie den Verfasser derselben auf gleichen Rang mit dem Schöpfer des modernen Romans erhebt. Auch unter Beyle’s übrigen Schriften (biographischen, theoretischen, kritischen und reifebeschreibenden Inhalts – er hat im ganzen an die zwanzig Bände hinterlassen) sind einzelne, welche einen ebenso großen litterarischen Einfluß ausübten, wie seine dichterische Produktion.
Zu Balzac verhält sich Beyle, wie ein reflektierender Geist sich zu einem beobachtenden, wie ein Denker in der Kunst sich zu einem Seher verhält. Wir blicken Balzacs Personen ins Herz, wir sehen hinein in die »dunkle Purpurmühle der Leidenschaft«, welche ihre Triebkraft ist; Beyle’s Personen dagegen werden vom Kopf aus gelenkt, dem |229| »offenen Licht- und Laut-Raum.«*)*
Dies beruht darauf, daß auch Beyle eine logische Natur war, gleich Balzac, daneben aber ein sprudelnd reicher, von ureigner Lebenskraft überströmender Mensch. Zu Victor Hugo verhält Beyle sich ungefähr so, wie Leonardo da Vinci zu Michel Angelo. Hugo formt aus seiner plastischen Phantasie eine Menschheit, die, überirdisch kolossal und muskulös, in einer ewig kämpfenden und leidenden Stellung festgehalten ist; aus Beyle’s geheimnisvoll zusammengesetzter und verfeinerter Intelligenz entspringt eine kleine Reihe von Männer- und Frauengestalten, welche durch ihren tiefen, rätselhaften Ausdruck, durch ihr anziehendes, bestrickendes, süßes, ja verbrecherisches Lächeln magisch wirken und fesseln. Allerdings steht Michel Angelo ebenso himmelhoch über Victor Hugo wie Leonardo über Beyle; aber wie Hugo sich dem Stile, der aus Michel Angelos Moses spricht, nähert, so hat Beyle’s Herzogin von Sanseverina eine Verwandtschaft mit Leonardos Mona Lisa. Trotz der mächtigen Überlegenheit der großen Italiener eine nicht geringe Ähnlichkeit! Beyle ist der Ideologe unter den französischen Schriftstellern seiner Zeit, Leonardo der Ideologe unter den großen Malern der Renaissance. In den Vorpostenkämpfen gegen den französischen Tragödienstil und gegen den Chauvinismus, dem das klassische Lager huldigte, welches fremde Litteratur aus dem einzigen Grunde, weil sie nicht französisch war, nicht für gültig anerkannte, begegneten wir Beyle schon früher als einem Häuptling. In jenen Gefechten ist auch er ein Bahnbrecher geworden. Überall schuf er und seine Genossen Luft und freie Bewegung. Und wiederum bereitete niemand der Litteratur des Kaiserreiches empfindlichere Niederlagen als dieser Schriftsteller, der in seinem persönlichen Werden ganz und gar als Mann des Kaiserreiches uns entgegentritt. Schon der Umstand, daß Beyle der einzige unter den großen Schriftstellern des Jahres 1880 war, welcher die Kaiserzeit mitdurchlebt hatte, weist ihm eine hervorragende |230| Stellung in der romantischen Gruppe an. Dieser Mann, welcher die Schlachten von Marengo und Jena mitgemacht, der dem Einzug in Mailand und in Berlin beigewohnt, der an dem Feldzug nach Rußland Teil genommen, bei dem Brand von Moskau als Augenzeuge zugegen war, ist der einzige, der voll und ganz in seinen Schriften auf napoleonischen Boden wurzelt. Er allein von der ganzen Gruppe hat mit Napoleon Worte gewechselt, er allein konnte sich rühmen, daß er mit Byron verkehre. Er ist nur ein Jahr jünger als Nodier; doch während dieser als Vorläufer nicht viel mehr war als ein Herold, dessen Fanfarenstöße ausschreckten und weckten, war Beyle ein Ritter mit Lanze und Fahne, einer der Ulanen, die ganz allein eine Stadt einnehmen. In Nodiers geistigem Leben war die französische Revolution der Punkt, in welchem alle seine Geistesstrahlen zusammenliefen, sie beherrschte bei ihm Alles – er wurde nicht müde, ihre leitenden Männer, ihre Opfer, ihr Gefängnisleben, ihre Verschwörungen, ihre geheimen Gesellschaften zu schildern – in Beyles geistigem Leben waren Napoleons Siegeslauf und Fall das Bewegen schaffende Prinzip.Marie Henri Beyle ist in Grenoble am 23. Januar 1783 geboren. Seine Familie gehörte der höheren Bourgeoisie, dem Rechtsadel, an. Erst acht Jahre alt verlor er seine Mutter; er empfand diesen Verlust sehr tief, immer wieder wandten sich seine Gedanken ihm zu. Der Vater war verschlossen und gab sich wenig mit seinen Kindern ab; er behandelte sie mit äußerster Strenge und überließ die Erziehung ärmlichen Geistlichen, welche der Sohn als Tyrannen und Heuchler verabscheute. Frühzeitig bildete sich zwischen Henri und dem Vater ein Haß aus, der niemals ganz erlosch. Im Hause seines Großvaters mütterlicherseits, einem überaus feingebildeten Arzte, wurde dem Knaben all’ das Gute zu Teil, was seine Kindheit durchzog; demungeachtet wurden die harten Erziehungsgrundsätze des Vaters so streng befolgt, daß Henri im vierzehnten Jahre nicht mehr als ein oder zwei gleichaltrige Kinder kannte. Dieser Knabe, in welchem die Keime |231| zu der tiefsten Originalität lagen, in dessen Naturell eine hartnäckige Selbständigkeit den Grundzug bildete, er, dessen Temperament eine heftige, nach ungewöhnlichen Handlungen dürftende Energie in sich barg und in dem ein früh erwachtes, glühendes Sinnenleben sich zu äußern strebte, wurde einem so starken, so anhaltenden und so unbedingten Druck der Erziehung unterworfen, daß die leidenschaftlichste innere Empörung die notwendige Folge davon sein mußte. Da die Abbés, welche während der Revolution in beständiger Angst lebten und immer vor ihren Folgen zitterten, den Knaben zum Katholiken und Royalisten zu erziehen bestrebt waren, wurde der Jüngling in naturnotwendigem Widerspruch gegen diese Lehren revolutionär gesinnt und entwickelte sich zum Bonapartisten sowie zum Freidenker in des Wortes verwegenster Bedeutung. Der ununterbrochene Streit zwischen dem Willen seiner Verwandten und seinen eigenen Wünschen erzeugte außerdem in ihm einen solchen Argwohn, ein so tiefes Mißtrauen zu den Menschen, daß es nicht mehr aus seinem Charakter zu tilgen war; zu der Angst, von Anderen aus eigennützigen Interessen zum Besten gehalten und betrogen zu werden, kam bald die Furcht, sich selbst zu täuschen, und daraus entstand die Gewohnheit, beständig auf der Hut zu sein, sich unter Selbstkontrolle zu halten.
In seinem Wesen war etwas, das sich von der Provinz herleiten läßt, in welcher er geboren wurde und wo seine Familie nachweislich seit ein paar hundert Jahren anfässig war. Die Bewohner der Dauphine sind lebhaft, starrsinnig, raisonnierend, ebenso verschieden von den Provenealen im Süden wie von den Parisern im Norden. Der Proveneale giebt seinen Gefühlen lärmend und mit vielen Worten Ausdruck, er flucht und schilt, wenn er zornig oder gekränkt ist; der Pariser ist höflich, witzig, oberflächlich – er will glänzen. Die Charaktere in der Dauphiné zeigen eine hervorragende Hartnäckigkeit; sie sind tief und fein zugleich; sie merken sich die ihnen widerfahrene Kränkung und rächen sie, wenn es an der Zeit ist, aber |232| nie machen sie sich in Scheltworten Luft. In Beyle’s Familie herrschte der Glaube, daß das Geschlecht mütterlicherseits aus Italien stamme. Beyle’s Mutter las Dante und Ariosto in der Originalsprache, damals etwas ganz ungewöhnliches für eine Provinzdame. Vielleicht könnte man seine eigene leidenschaftliche Vorliebe für das italienische Wesen daraus erklären. Übrigens war ja die Dauphine bis 1349 ein von Frankreich getrennter und in seiner Politik halb italienischer Staat. Beyle bildete sich zudem ein, daß Ludwig X1., der als Dauphin mehrere Jahre das Land regiert hatte, den anohnern der Provinz etwas von seinem umfichtigen Genie, das stets vor fremdem Einfluß auf der Hut war, mitgeteilt habe. So unwahrscheinlich diese Voraussetzung auch ist, für ihn erscheint sie doch charakteristisch.
Frühzeitig prägte sich bei Henri Veyle durch den Einfluß seiner Umgebung jener Zug von Mißtrauen, den er im Vaterhause empfangen, noch tiefer aus. Als er endlich die so lang ersehnte Freiheit erlangte, das heißt, als er in eine Schule kam wie andere Knaben, erlitt er eine große Enttäuschung. Der starke, untersetzt gebaute Knabe mit dem lebhaften Blick und der sprechenden Physiognomie, der in der Schule wegen seines festen Ganges, seiner herkulischen Glieder und seines runden Herkules-Kopfes den Beinamen »der wandernde Turm« bekam, war trotz des ironischen Zuges um den Mund ein Enthusiast. Er fand in seinen Mitschülern nicht die munteren, liebenswürdigen und edelgesinnten Kameraden, wie er sich dieselben vorgestellt, sondern statt dessen eine Bande höchst egoistischer Rangen. »Diese Täuschung,« sagte er, als er einmal seinem Freunde Colomb davon erzählte, »hat sich im Laufe meines ganzen Lebens wiederholt. Auch ich,« fuhr er fort, »machte kein Glück bei meinen Kameraden; jetzt fehe ich’s ein, daß ich damals in meinem Wesen eine sehr lächerliche Mischung von Hochmut und dem Drang nach Vergnügen zeigte. Ich setzte dem schneidendsten Egoismus der anderen Knaben meine spanisch adeligen Ehrbegriffe, |233| entgegen und fühlte dann doch halbe Verzweiflung, wenn sie mit einander spielten und mich stehen ließen.« Man vergleiche diese Worte mit der bitteren Täuschung des jungen Fabrice (in »La Chartreuse de Parme«, 1839), der während der Schlacht von Waterloo die Soldaten, denen er begegnet, um ein Stück Brot bittet und von ihnen mit einem schlechten Witz abgespeist wird: »Dies harte Wort und das allgemeine Grinsen, das folgte, überwältigten Fabrice. So war der Krieg also nicht jener edle, gemeinsame Aufschwung von Geistern, die den Ruhm über Alles liebten, so wie er sich denselben nach Napoleons Proklamationen gedacht hatte!« Man kann sich leicht vorstellen, welche Erinnerungen an so manche wilden Ausbrüche von tierischem Egoismus Beer während seines Feldzuges gesammelt hatte, augenscheinlich hat er aus solchen die Erfahrungen seines Fabrice zusammengestellt. Er machte sich von Anfang an einen zu idealen Begriff von dem Kameradschaftsgefühl, sowohl zwischen Schuljungen als später zwischen den Soldaten.
Ungefähr von 1798 an verlegte er sich mit Leidenschaft auf die Mathematik, und zwar, wie er seinen Freunden sagte, aus dem bezeichnenden Grunde, weil er, welcher die Heuchelei verabscheute, diese in allen Wissenschaften zu entdecken wußte, während er sie in der Mathematik für unmöglich hielt. Zum Teil trug wohl auch zu seinem Eifer der strahlende Ruhm bei, welcher gerade zu jener Zeit von dem jungen französischen General in Italien ausging, den die Mathematik durch die Artilleriewissenschaft von einem Sieg und Triumph zum anderen geführt hatte.
Nachdem er seine Studien beendigt, kam er am 10. November 1799 in Paris an, gerade einen Tag nach dem 18. Brumaire. Er hatte einen Empfehlungsbrief an die Familie Daru, welche mit seinen Eltern verwandt war. Pierre Daru, der nach dem Staatsstreich zum Generalsekretär des Krieges und zum Inspektor der Revuen ernannt worden war, stellte Beyle in seinem Ministerium an. Ich glaube, eine Erinnerung an jene Volontär-Stellung bei |234| Daru in Julians Anstellung beim Grafen de la Mole (in »Rouge et Noir«) zu finden. Colomb erzählt, daß Beyle an einem der ersten Tage, als Daru ihm einen Brief diktierte, in der Zerstreuung »ce1a« mit doppeltem l schrieb und eine scherzhafte, doch deshalb nicht weniger demütigende Zurechtweisung empfing; genau derselbe Zug findet sich im Roman. Nichtsdestoweniger war Daru augenscheinlich als Beschützer bei weitem zartfühlender und liebenswürdiger als der Graf de la Mole, denn von Anfang bis zuletzt blieb er seinem jungen Schützling ein treuer Helfer. Es war ein Spiel des Schicksals, daß dieser Mann, der neben seiner eminenten Begabung für die kriegerische Administration hervorragende litterarische Talente besaß, der durch seine Horaz-Übersetzung und seine historische Prosa ein gutes Zeugnis für den litterarischen Stil des Kaiserreiches giebt, wie er überhaupt eine Art Mittelpunkt für dessen Litteraten wurde – daß dieser Mann fast während aller feiner Feldzüge in seiner nächsten Nähe einen von den Bahnbrechern der folgenden Litteraturperiode hatte, natürlich ohne die Begabung in seinem Untergebenen zu ahnen, wie dieser selbst sich derselben noch nicht völlig bewußt war.
Als Daru und sein jüngerer Bruder unter dem Kriegsministerium Carnot’s zur Zeit des denkwürdigen italienischen Feldzuges von 1800 den Befehl erhalten hatten, zum Heer in Italien zu stoßen, forderten sie beide Henri Beyle auf, dort mit ihnen zusammenzutreffen, ohne daß sie ihm jedoch auf eine bestimmte Anstellung Aussicht eröffnen konnten. Der siebenzehnjährige Jüngling, der bei seinem in gleichem Grad energischen wie poetischen Temperament nur von Thaten träumte, der für den ersten Konsul schwärmte, ließ sich das nicht zweimal sagen. Er packte zwanzig Bände originaler Autoren in seinen Mantelsack, reiste nach Genf, bestieg dort, ohne jemals reiten gelernt zu haben, ein Pferd, das Daru als krank zurückgelassen und das nun wieder brauchbar geworden war, und ritt am 22. Mai, zwei Tage später als Napoleon, unter vielen Schwierigkeiten |235| über den St. Bernhard. In den ersten Tagen des Juni erreichte er Mailand, die Stadt, wo er endlich die Lebensfreude kennen lernen sollte, die Stadt, welche in seinem Ideenkreise eine so beständige und bedeutende Rolle spielt. Er wurde Zeuge des Sturmes von Jubel und Begeisterung, womit man in Oberitalien die Abschüttelung des österreichischen Joches begrüßte, am 4. Juni nahm er als Freiwilliger an der Schlacht von Marengo teil. Nachdem er einige Monate bei der Intendantur angestellt war, trat er – wie eine komische Anmerkung zum 5. Kapitel von »Rouge et Noir« dem Leser meldet – in das sechste Dragonerregiment als Wachtmeister ein, wurde bei Romanego zum Unterlieutenant ernannt und in dieser Stellung bald darnach als Adjutant dem General Michaud beigegeben. In allen folgenden Treffen, besonders bei Castelfranco, zeichnete er sich sowohl durch seinen Mut als auch durch den Eifer aus, womit er die verschiedenen Aufträge, die ihm anvertraut wurden, ausführte. Will man ein genaues Bild haben von den Gefühlen, welche den jungen Beyle erfüllten, als er der Schlacht von Marengo beiwohnte, so muß man sich die kindlich enthusiastische und heroische Stimmung von Fabrice de Dongo vergegenwärtigen, welche dieser als Zeuge der Schlacht von Waterloo kundgiebt. Diese Schilderung verdankt zweifelsohne der treuen Wiedergabe persönlicher Erlebnisse einen Teil ihrer unvergleichlichen Meisterschaft. Jener Zeitraum, der mit dem Ritte des Jünglings über die Alpen beginnt und mit seinem Austritt aus der Armee nach dem Frieden von Amiens endet, war in Beyle’s Erinnerung die Zeit vollkommenen Glückes in seinem Leben, reich an bunten, romantischen Eindrücken, eine Zeit, die verwegene Thaten in sich faßte, das erste Duell, jugendliche Liebesgeschichten, die Poesie des Bivouac- und Salonlebens in einem schönen Lande, wo die fremden Sieger von einer sorglosen, naiv leidenschaftlichen Bevölkerung, welche durch keine Skrupel gehindert war, den Durst nach Freude zu stillen, als Befreier und Heldenbegrüßt wurden.
Als er von diesem seinem ersten großen Ausflug wieder nach |236| Grenoble heimgekehrt war, wo alles beim alten geblieben, wo seine Familie Ehrfurcht für all’ das fühlte, was er verachtete, während sie alles verabscheute, wofür er Begeisterung hegte, erhielt der junge Brausekopf nach verschiedenen heftigen Auseinandersetzungen die Erlaubnis, einen Aufenthalt in Paris zu nehmen. Hier studierte er Montaigne, Montesquieu und die Philosophen des 18. Jahrhunderts, dann aber auch Cabanis und de Trach, mit dem er viele Jahre später innig vertraut werden sollte, dessen »Ideologie« jedoch er schon von seiner frühesten Jugend an auf das lebhafteste bewunderte. Außerdem nahm er Unterricht im Englischen.
Diese Zeit ruhigen Studiums, das ein paar Jahre ausfüllte, wurde durch eine burleske Episode unterbrochen. Im Jahre 1805 verliebte sich Beyle während eines Aufenthaltes in seiner Vaterstadt in eine junge, hübsche Schauspielerin, und da er, der seine Liebe erwidert wußte, nicht getrennt von seiner Schönen leben mochte, diese aber bald darauf in Marseille engagiert wurde, fiel ihm kein anderes Mittel ein, ihr dahin zu folgen, als das: in ein dortiges großes Kolonialwarengeschäft als Kommis einzutreten. Während eines Jahres, solange dauerte feine Leidenschaft, fühlte er sich auf seinem Comptoirstuhl ganz glücklich; als aber die Schauspielerin sich plötzlich mit einem Russen vermählte, kehrte Beyle nach Paris zurück und kam einer Aufforderung Martial Daru’s, ihm zum Heer zu folgen, nach. Er hatte gerade seine litterarischen Arbeiten wieder begonnen, nahm aber dennoch das Angebot an; der Schlacht von Jena, Napoleons Siegeseinzug in Berlin wohnte er bei. Zum Intendanten über die Domänen des Kaisers in Braunschweig ernannt, benützte er in den beiden folgenden Jahren diese Gelegenheit, etwas Deutsch zu lernen und sich mit der deutschen Litteratur bekannt zu machen; im übrigen zeichnete er sich durch seinen Diensteifer aus. Er sollte eine Kontribution von fünf Millionen ausschreiben, statt dessen schrieb er sieben aus; dies nannte man |237| damals »1e feu sacré« haben. Als der Kaiser davon hörte, frug er, welcher Auditor dies gethan und sagte: »Das hat er gut gemacht«. Beyle erwarb sich übrigens Ehre auch auf andere, mehr sympathische Weise. 1809 hatte man ihn mit dem Proviant und mit den Kranken in einer kleinen deutschen Stadt zurückgelassen, deren Bevölkerung, sobald die Garnison abgezogen war, die Sturmglocke ertönen ließ, um die Magazine zu plündern und das Lazareth anzugreifen. Die Offiziere verloren den Kopf; aber Beyle ließ die Rekonvalescenten, die Verwundeten und Kranken, Alles, was außer Bette sein konnte, bewaffnen, stellte die wenigst Waffenfähigen als Posten an die Fenster, die er in Schießluken verwandeln ließ, und unternahm mit den Übrigen in bunter Schar einen Ausfall, der den Auflauf auseinander sprengte.
Er folgte der Armee nach Wien und wurde bei den Unterhandlungen verwendet, die Napoleons Vermählung mit Marie Louise vorangingen; zum Inspektor über das Mobiliarvermögen und die Bauten der Krone ernannt, erlangte er Zutritt bei Hofe und wurde der Kaiserin vorgestellt.
Nach einem neuen Aufenthalt in Mailand erhielt er 1812 die Erlaubnis, den Feldzug gegen Rußland mitzumachen. Er hatte schon in den frühern Kampagnen seine Abenteuerlust mehr als befriedigt, hatte Ekel und Gram empfunden beim Anblick der vielen Leichen und oft, wenn sein Wagenrad die Eingeweide der Gefallenen durchschnitt, das Bedürfnis gefühlt, sich durch ein Phantasieleben von diesen Gräueln loszureißen, und um Zusendung poetischer Werke nach Hause geschrieben. Aber der Krieg lockte ihn stets aufs neue. Wir sehen ihn, der später eine so feine und tiefe Beobachtung der Völkerpsychologie in seinen Büchern niederlegen sollte, während des Überganges der großen Armee über den Niemen die Physiognomie und das Temperament der verschiedenen Rassen, aus denen sie bestand, studieren. Man fühlt, welche Beisteuer zu den interessantesten und befruchtendsten Erfahrungen die Beteiligung an einem |238| solchen Zug und der Anblick eines solchen Heeres dem künftigen Schriftsteller gewähren mußte. Dennoch hat er bereits in Smolensk genug. Er schreibt von da aus:
»Wie sich ein Mensch doch verändert! Die Schaulust, die ich szin alten Tagen hatte, ist ganz gestillt; seitdem ich Mailand und Italien gesehen, stößt alles mich durch seine Plumpheit zurück. Wirst Du glauben, daß ich ohne irgendwelchen persönlichen Grund zuweilen nahe daran bin, Thränen zu vergießen. In diesem Ozean von Barbarei kein Ton, der zu meiner Seele stimmt! Alles ist grob, schmutzig, stinkend, im buchstäblichen und bildlichen Sinnes. Es blieb mir höchstens das kleine Vergnügen, mir aus einem verstimmten Klavier ein wenig vorspielen zu lassen von einem Menschen, der ebenso musikalisch ist wie ich katholisch. Der Ehrgeiz besitzt keine Macht mehr über mich; das schönste Ordensband würde mir kein Ersatz scheinen für das, was ich dulde. Die Höhen, die mein Geistbewohnt – wo er in einem schönen Klima Bücher ausdenkt, Cimarosa hört und Angela liebt – stelle ich mir als liebliche Hügel vor; fernab von ihnen in der Ebene drunten liegen die giftigen Sümpfe, in die hinab ich nun gesunken bin […] Kannst Du Dir denken, daß ich ein großes Vergnügen daran finde, mich mit den offiziellen Dokumenten, Italien betreffend, zu befassen? Ich hatte zwei oder drei italienische Geschäftsangelenheiten, die, selbst nachdem sie geordnet waren, meine Einbildungskraft beschäftigten wie ein Roman.«
Immer diese Doppelnatur in seinem Wesen! Der Drang, die Phantasie zu nähren, verbunden mit Thatenlust und dem Trieb, Thaten zu sehen, spricht auch aus seinem Tagebuch von Moskau. Während des Brandes schreibt er: »Das Feuer näherte sich rasch dem Hause, das wir verlassen hatten. Unsere Wagen blieben fünf bis sechs Stunden aus dem Boulevard stehen. Dieser Unthätigkeit müde ging ich hin, um das Feuer zu sehen und blieb eine Stunde oder zwei bei Joinville […] wir tranken eine Flasche Wein, |239| und erholten uns dadurch. Ich las einige Zeilen in einer englischen Übersetzung von »Pau1 et Virginie«, die mitten unter der allgemeinen Roheit mir wieder ein bischen geistiges Leben gab.«
Beyle wurde für die Zeit des schreckenvollen Rückzuges aus Rußland zum Generaldirektor ernannt, der die Verpflegung der drei Plätze Minsk, Witebsk und Mohilew zu besorgen hatte; er erwarb sich besonderes Verdienst bei Orscha, indem er hier dem Heere Lebensmittel für drei Tage verschaffte, die einzigen Lebensmittel, welche dasselbe zwischen Moskau und der Beresina erlangte. Die Kaltblütigkeit und Entschiedenheit, welche Beyle von frühester Jugend an eigentümlich waren, verließen ihn auch hier nicht. Es ist oft erzählt worden, wie er an einem der schlimmsten Tage, als er wohlrasiert und sorgfältig gekleidet sich bei seinem Chef Daru meldete, mit dem Kompliment empfangen wurde: »Sie sind ein tapferer Mann, Herr Beyle, Sie dachten auch heute daran, sich zu rasieren.«
Er verlor bei diesem Rückzug alles: seine Pferde, seine Wagen, seine Bagage, sein Geld, ja selbst der Notschilling ging verloren, mit dem sich zu versehen er für angezeigt gehalten. Als er abreiste, hatte seine Schwester die sämtlichen Knöpfe eines seiner Überröcke abgenommen; Goldstücke zu 20 und 40 Francs, sorgfältig mit Tuch überzogen, ersetzten deren Stelle. Bei seiner Heimkehr fragte sie ihn, ob ihm dies Geld von Nutzen gewesen sei. Mit vieler Mühe besann er sich darauf, daß er einem Kellner irgendwo in der Nähe von Wilna eben diesen Überrock geschenkt, weil er ihn für abgetragen hielt. Dieser Zug ist bezeichnend dafür, wie Beyle, als Diplomat so umsichtig, so vergeßlich als Poet war.
Er trat von neuem sein Amt in Paris an. Im Jahre 1813 folgte er dem Hauptquartier des Kaisers nach Mainz, Erfurt, Lützen, Dresden; er wurde Chef der Intendantur in Schlesien; dann suchte er wegen seiner geschwächten Gesundheit Zuflucht am Comosee, in |240| der Gegend, wohin es ihn beständig, wie zu einer Insel der Glückseligkeit, zog. Ein dolce far niente füllte hier die Pausen aus, die eine glückliche Liebe ihm übrig ließ. Er spielte noch eine Rolle bei Napoleons Wiederkehr im Jahre 1814; aber mit Napoleons Sturz war seine Karriere in äußerlichem Sinne vorbei. Er verlor alles: sein Amt, sein Einkommen, seine gesellschaftliche Stellung, seine Aussichten; er trug den Verlust nicht nur ohne Klage, sondern mit Heiterkeit; mit philosophischem Gleichmut fand er sich in das Unvermeidliche und war von nun an Kosmopolit, Kunstliebhaber, Dilettant und Schriftsteller.
Von 1814 bis 1821 lebte Beyle, mit einer einzigen Unterbrechung im Jahre 1817, in seinem geliebten Mailand. Er verließ die Stadt auch während der hundert Tage nicht, da er Napoleons Sache für verloren hielt. Leidenschaftlich für italienische Musik und Gesang eingenommen, wie er war, verbrachte er glückliche Abende im Theater La Scala und lernte in den vornehmsten Kreisen der Stadt, im Haufe des Grafen Porro, in Lodovico de Brême’s Theaterloge, Italiens Dichter und Freiheitsmänner kennen: Silvio Pellico, Manzoni und andere; außerdem machte er die Bekanntschaft berühmter Reisenden, wie Byron, Madame de Staël, Wilhelm Schlegel, überhaupt einer Reihe von Englands und Deutschlands hervorragendsten Persönlichkeiten. Aus einer mehrjährigen Liebesverbindung, die ihn bei seiner Fähigkeit, das Glück zu fühlen, dasselbe nun auch voll genießen ließ, wurde er plötzlich herausgeriffen, als ihn im Sommer 1821 der, übrigens gänzlich grundlose, Verdacht der österreichischen Polizei, die ihn für einen Carbonaro hielt, über Hals und Kopf aus der Stadt vertrieb.
Er kam ganz zerknirscht in Paris an; die Trennung von der Frau, die ihm so teuer war, erschütterte sein Gemüt aufs tiefste. Unter diesem überwältigenden Eindruck ging er daran, sein berühmtes Buch »De 1’amour« zu schreiben. Bisher hatte er nur Biographieen von Haydn und Mozart herausgegeben, die jedoch |241| bloß Bearbeitungen von italienischen und deutschen Schriften waren, sowie die »Histoire de la peinture en Italie«, in demütig-stolzem Ausdruck von ihm dem Gefangenen auf St. Helena gewidmet. Keines dieser Bücher hatte das geringste Aufsehen erregt, das letztere erwarb ihm indes das Wohlwollen und die Freundschaft des Philosophen de Trach.
Beyle hatte sich anfänglich in Paris vollständig isoliert gefühlt: ein Teil seiner alten Freunde, die während des Kaiserreiches seinen Verkehr ausgemacht, war aus der Hauptstadt verbannt worden; die Anderen hatten durch ihre Kriecherei vor den neuen Machthabern seine Achtung verscherzt. Nun fand er bei de Tracy die Blüte der damaligen guten Gesellschaft, Lafayette, den Grafen von Ségur, Benjamin Constant, während er gleichzeitig im Hause der berühmten Sängerin Giuditta Pasta und in einigen ähnlichen Salons mit dem heranwachsenden Schriftstellergeschlecht, Männern wie Mérimée, Jaquemont und Anderen zusammentraf. Von 1821–30 blieb Beyle, abgesehen von einigen Ausflügen nach England und Italien, in Paris anfässig; von 1830 bis zu seinem Tode war er wiederum Beamter, Inhaber einer Art von Sinekure als Konsul, erst ein Jahr in Triest, wo er sich nicht behaglich fühlte, dann für den Rest jener Zeit in Italien in Civita-Vecchia. Der Aufenthalt daselbst war fast gleichbedeutend mit einem solchen in dem naheliegenden Rom. Hier lebte er unter dem Himmel, den er stets geliebt, und inmitten des von ihm bevorzugten Volkes, langweilte sich aber in seiner Einsamkeit und Unthätigkeit über alle Maßen. Allerdings wurde er ein liebenswürdiger und kenntnisreicher Cicerone für diejenigen seiner Landsleute, die ihn aufsuchten und ihm gefielen, doch er sehnte sich beständig zurück nach Paris, obschon er mit einem Überrest von dem Soldatengeist des Kaiserreiches sich nicht mehr als Franzose betrachtete, seit die Regierung Ludwig Philipps 1840 in der orientalischen Frage ohne Schwertstreich Europa nachgegeben hatte. In seinen letzten Lebensjahren war er kränklich. |242| Er starb plötzlich an einem Schlaganfall während eines Urlaubs in Paris.*)*
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