Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[222]| XVII.

Michelet datiert in seiner Geschichte Frankreichs eine neue Epoche des französischen Geistes von dem Zeitpunkte an, wo der Kaffee allgemeines Getränk wird. Die Sache ist auf die Spitze getrieben, doch könnte man ohne Übertreibung wohl behaupten, daß man in Voltaires Stil und Schreibart die Inspiration des Kaffees wie bei so vielen früheren Dichtern die des Weines spürt. Die Arbeitsweise Balzacs veranlaßte ihn, durch übermäßiges Kaffeetrinken die Kräfte zum anstrengenden Nachtwachen zu erneuern. Er richtete sich dadurch körperlich zu Grunde. Ich weiß nicht, wer von ihm einmal das treffende Wort sagte: »Er hat von 50000 Tassen Kaffee gelebt und ist an 50000 Tassen Kaffee gestorben.«

Man merkt an seinen Werken die rastlose Eile der Arbeit und die Überreiztheit seiner Nerven; aber wahrscheinlich ist es, daß seine Schriften, bedächtiger ausgeführt, nie dieses Leben erhalten oder sich bewahrt hätten. Das ungeheure Durcheinander einer Weltstadt, die rasende Konkurrenz, das Fieber des Erfindens und der Genüsse, das schlaflose Saufen des großen Webstuhls, das Feuer all’ jener Herde, Essen und Lampen hat ihnen seine Flamme mitgeteilt. Er lebte wie in seinem Element mit der Arbeit hinter sich, vor sich, um sich; sah, wie der Seemann nur Meer sieht, soweit sein Auge reichte, nur seine Arbeit.

In den letzten siebzehn Jahren seines Lebens wurde jedoch sein Eremitenleben durch den täglichen geistigen Verkehr mit einer in weiter Ferne wohnenden Frau, der er über jeden Tag seines |223| Lebens Bericht erstattete, in der Arbeit unterbrochen und belebt. Der Roman »A1bert Savarus« stellt in leichter Verkleidung das Verhältnis dar. Auf einer Reise hatte Balzac die Bekanntschaft der Madame Hanska, einer russischen Gräfin, gemacht. Ein, nur durch seltenes Zusammentreffen irgendwo in Europa, unterbrochener Briefwechsel zwischen ihnen, der von 1883 an datiert, wurde immer inniger und führte 1850 zu Balzacs Verheiratung mit der so lange bewunderten, damals seit einigen Jahren verwitweten Dame, deren Einfluß auf Balzac sich nur schwer bestimmen läßt, da man ihr so verschiedenartige Erzeugnisse wie den swedenborgschen Roman »Séraphita« und die feine, verständige Erzählung »Modeste Mignon« verdankt. Obwohl Balzac Jahre lang diese Verbindung mit glühender Sehnsucht gewünscht hatte, schob er sie doch aus eigenem Antrieb auf, bis seine Schulden vollständig bezahlt waren, um sie mit Ehren eingehen zu können. Er ließ ein schönes Haus für seine Braut in Paris einrichten und begab sich als glücklicher, wenn auch nicht mehr jugendlicher Bräutigam nach ihrem Gut in Kleinrußland. Da stellte, noch bevor die Hochzeit in Berditschew gefeiert war, eine durch vieljährige Überanstrengung hervorgerufene töltliche Krankheit sich bei ihm ein. Das eheliche Zusammenleben der beiden Liebenden war ein kürzes. Im März 1850 erfolgte die Hochzeit, drei Monate später war Balzac eine Leiche. Man erinnerte sich unter seinen Freunden des türkischen Sprichwortes: Wenn das Haus fertig ist, so kommt der Tod.

Er kam, als Balzac eben auf dem Gipfel seiner geistigen Höhe stand. Nie hatte er bessere, tiefere Bücher geschrieben als in den letzten Jahren vor seinem Tode. Er stand deswegen auch auf der Höhe seines Ruhmes. Derselbe war langsam gestiegen. Als Balzac zwanzig bis dreißig Romane geschrieben hatte, ohne noch eine ausgebreitetere Anerkennung gewonnen zu haben, fingen die Talente der jüngeren Generation an, sich ihm zu nähern und seiner litterarischen Laufbahn mit Respekt zu folgen. Er empfahl ihnen Fleiß, |224| einsames Leben und (nicht ganz im Scherz) Keuschheit, wenn sie es in der Litteratur zu etwas bringen wollten – doch gestattete er Briefe an den geliebten Gegenstand, »weil sie den Stil bildeten«. Es wunderte sie, diesen Rat von den Lippen eines Mannes zu hören, dessen Werke regelmäßig von der Presse mit einem in allen Tonarten variierten Geschrei über ihre Immoralität empfangen wurden; sie wußten nicht, daß dies immer die erste und letzte Injurie der litterarischen Ohnmacht gegen das ist, was in der Litteratur Lebensund Manneskraft hat. Trotz der Anfeindungen erhielt sein Name immer volleren Klang; es ging nach und nach den Zeitgenossen auf, daß sie in Balzac einen der wahrhaft großen Schriftsteller, die einer Kunstart ihren Geist aufprägen, besaßen. Er hatte nicht nur die moderne Form des Romans begründet, sondern als echter Sohn eines Jahrhunderts, in welchem die Wissenschaft sich immer mehr in die Kunst hineindrängt, eine Methode der Beobachtung und Beschreibung inauguriert, die von Andern ergriffen und angewandt werden konnte. Sein Name war schon an sich groß; wer aber eine Schule stiftet, dessen Name ist Legion.

Daß er jedoch bei Lebzeiten nicht seinen vollen Ruhm erwarb, das beruht auf zwei verschiedenartigen Mängeln seiner Werke.

Sein Stil war unsicher, bisweilen gewöhnlich, bisweilen schwülstig, und der Mangel an stilistischer Vollendung ist immer ein schwerwiegender, weil, was die Kunst von der Nichtkunst sondert, eben jene Verbannung des Approximativen ist, die man Stil nennt; dieser Mangel ist besonders den rhetorisch so fein fühlenden Franzosen ein Ärgernis. Nach seinem Tode drangen aber seine Werke auch im Auslande durch und hier wurde jener große Mangel nur als ein sehr geringer empfunden. Wer eine Sprache genügend versteht, um sie zu lesen, nicht genau genug, um alle Feinheiten derselben zu würdigen, der vergiebt leicht stilistische Fehler, wenn große und fesselnde Eigenschaften Ersatz für sie bieten. In dieser Lage war eben das große europäische, romanlesende Publikum. |225| Die gebildeten Italiener, Österreicher, Polen, Russen u. s. w. lasen mit ungemischtem Vergnügen Balzac, an seiner nicht vollendeten Form nahmen sie dagegen wenig Anstoß. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß diese Gebrechen der Dauer seiner Werke nicht doch einmal Eintrag thun werden. Den Lauf der Zeiten übersteht nichts Formloses oder nur teilweise Geformtes. Die ungeheure »Comédie humaine« wird, wie das zehntausend Stadien lange Gemälde, von dem Aristoteles erzählt, nicht als ein einziges Kunstwerk angesehen werden und von den Fragmenten des Ganzen werden nur diejenigen in der Weltlitteratur bestehen bleiben, die wegen ihrer künstlerischen Vollendung solchen Vorzug verdienen. Als kulturhistorisches Material allein wird man sie nach Jahrhunderten nicht lesen.

Zu den Mängeln der Form gesellte sich bei Balzac die noch größere Schwäche des reinen Ideengehalts. Er konnte zu seinen Lebzeiten nicht vollständig gewürdigt werden, weil er nur als Dichter groß war. Man hatte sich gewöhnt, in dem Dichter einen geistigen Führer zu sehen, und Balzac war kein solcher. Sein mangelndes Verständnis für die großen religiösen und sozialen Fortschrittsideen des Jahrhunderts, die Victor Hugo und George Sand und viele andere so früh und so mächtig ergriffen, verdunkelte den Eindruck der großen Gaben, die er der Naturforscher des menschlichen Geistes besaß. Seine politischen und religiösen Doktrinen, die rein absolutistisch waren, wirkten abschreckend Anfangs lächelte man wohl, wenn der sensualistisch und revolutionär angelegte Romandichter sich auf die Doktrinäre der weißen Fahne, auf Joseph de Maistre und Bonald berief; nach und nach sah man ein, daß er von allen diesen Dingen durchaus unklare Vorstellungen besaß.

Die starke Sinnlichkeit seines Wesens; die zügellose Kraft seiner Phantasie führten ihn zur Mystik in Wissenschaft und Religion. Der tierische Magnetismus, der nach 1820 in der Litteratur eine so große Rolle spielte, war als Erklärungsgrund der seelischen |226| Vorgänge ein Gegenstand seiner besonderen Vorliebe. In »La Peau de chagrin«, »Séraphita«, »Louis Lambert« wird der Wille als eine Kraft gleich der des Dampfes, als »ein Fluidum, das nach Belieben Alles, sogar die absoluten Gesetze der Natur modifizieren könne,« definiert. Balzac war trotz des modernen Charakters seines Geistes Romantiker genug, um sich »den geheimen Wissenschaften« zuzuneigen.

Er war durch Natur und Erziehung darauf angewiesen, die Fülle des Lebens verständnisvoll zu genießen. Aber schon jung in die Korruption der Gesellschaft eingeweiht, sah er sich erschreckt nach Zaum und Zügel für die verwilderte Menschheit um und fand nichts anderes als die bestehende Kirche. Daraus erklärt sich bei ihm der oft so peinliche Widerspruch zwischen sinnlichen Instinkten und asketischen Tendenzen, besonders da, wo er über das Verhältnis der beiden Geschlechter reflektiert. Dieser Kontrast ist es, der die Romane »Le Lys dans la vallée«, nach seiner Ansicht sein Meisterwerk, und »Les Mémoires de deux jeunes mariées« so unangenehm und unrein wirken läßt. Deswegen ferner ein bei ihm allzuhäufig vorkommender Widerspruch zwischen philosophischen Grundansichten und klerikalen Tendenzen. In der Vorrede seiner sämtlichen Werke erklärt er zuerst, daß der Mensch an sich weder gut noch schlecht sei, und daß die Gesellschaft ihn immer nur besser mache, äußert sich also unbewußt so scharf wie möglich gegen die Grundansicht der Kirche; wenige Zeilen später preist er den Katholizismus als das einzige »vollständige Unterdrückungssystem der verderblichen Tendenzen der Meuschheit«, und fordert, daß der ganze Unterricht in die Hände der Geistlichkeit gelegt werde. Die Überzeugung von diesen »verderblichen Tendenzen« führte ihn immer wieder dazu, das Volk, das Gesinde, die Bauern als gemeinsamen Feind zu betrachten und darzustellen (man sehe sein komisches Pathos gegen die Dienstboten in »Cousine Bette«, seine Schilderung der Bauern in »Les Paysans«); er gefiel sich in Ausfällen gegen die |227| Demokraten, die Liberalen, die beiden Kammern, die parlamentarische Regierungsform überhaupt.«

Bei all seinen großen und glänzenden Vorzügen fehlte Balzac ein Etwas, für welches die Franzosen kein Wort haben, wohl aber die Deutschen; es fehlte ihm an ruhiger Bildung, oder genauer gesagt, an der Ruhe, die die Bildung bedingt. Sein rastloser, immer phantastisch hervorbringender Geist hat sie niemals erworben. Aber er besaß doch, was für den Dichter wichtiger als alle Bildung ist: ein wahrheitsliebendes, in die Tiefe gehendes Genie. Wer nur das Schöne sucht, der schildert von den Gebilden menschlicher Vegetation nur Stamm und Krone; er dagegen hat die menschliche Pflanze mit ihren Wurzeln gemalt, ihm war es besonders wichtig, daß auch das Netzwerk der Wurzel, das unterirdische Leben der Pflanze, welches das überirdische bedingt, in seiner ganzen Originalität vor dem Auge der Leser entfaltet wurde. Die Lücken seiner formellen und ideellen Bildung werden, trotzdem sie auf Schritt und Tritt stören, die Nachwelt doch nicht abhalten, sich an seinem Genie zu erbauen.

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