Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[208]| XVI.

Eines Tages im Jahre 1836 trat Balzac in voller Erregung und Freude bei seiner Schwester ein, schwang mit den Armbewegungen eines Tambourmajors seinen dicken Stock mit dem Karneolknopf, auf welchen er in türkischer Sprache diese Devise eines Sultans hatte gravieren lassen: »Ich bin Zerbrecher von Hindernissen!« und rief, indem er das Akkompagnement einer Militärmusik und das Rollen von Trommeln nachahmte, in fröhlichem Tone der Familie zu: »Beglückwünscht mich, Kinder, denn ich stehe ganz einfach im Begriff ein Genie zu werden.« Er hatte die Idee gefaßt, alle seine schon geschriebenen und noch zu schreibenden Romane unter einander zu verbinden und zu der »Comédie humaine« zu gestalten.

Der Plan war grandios und so eigenartig, daß er in der Geschichte der sämtlichen Litteraturen noch nicht aufgetaucht war; er war eine Ausgeburt desselben systematischen Geistes, der im Anfange seiner Laufbahn Balzac zu der Idee einer die Jahrhunderte umspannenden Reihe geschichtlicher Romane inspiriert hatte, freilich ein viel interessanterer und fruchtbarerer Plan. Denn falls er gelang, wurde seinen dichterischen Erzeugnissen eine Macht der Illusion, eine solche Überzeugende Kraft zu Teil, als ob sie geschichtliche Thatsachen gewesen wären; und es wurde ferner nicht nur ein kleiner Ausschnitt des Lebens, ein Stück Welt symbolisch und künstlerisch zum Spiegelbild des Ganzen erweitert, sondern das Geleistete hätte einen berechtigten Anspruch darauf erheben können, im wissenschaftlichen Sinne ein Ganzes zu sein. Dante hatte in der »Göttlichen Komödie« |209| die Weltanschauung und Lebenserfahrung des Mittelalters in einen poetischen Brennpunkt gesammelt, sein ehrgeiziger Nebenbuhler wollte durch zwei bis drei Tausend lebendiger Gestalten, die als Typen jede für sich hunderte von ähnlichen vertraten, die vollständige Psychologie aller Gesellschaftsklassen seines Landes, und damit indirekt auch die seines Zeitalters, liefern.

Man kann nicht leugnen, daß das Resultat ein ganz einziges wurde. Der Staat Balzacs hat wie der wirkliche seine Minister, seine obrigkeitlichen Personen, seine Generale, seine Finanzmänner, Gewerbtreibende, Kaufleute und Bauern. Er hat seine Priester, seine hauptstädtischen und Land-Ärzte, seine Weltmänner, Modeherren, Maler, Bildhauer und Zeichner, Dichter, Schriftsteller und Journalisten, seine altadeligen Familien und seine noblesse de rohe-, seine eitelen und verderbten wie seine liebenswürdigen und geopferten Frauen, seine genialen Schriftstellerinnen wie seine provinziellen Blaustrümpfe, seine alten Jungfern und seine Schauspielerinnen, endlich sein Heer von Courtisanen. Und die Illusion ist überraschend. Denn da die Personen aus einem der zahlreichen Romane immer in dem anderen wieder vorkommen; da wir sie auf den verschiedensten Stadien ihres Lebens treffen und die Veränderungen, die mit ihnen vorgehen, beobachten können; da sie, selbst wenn sie nicht austreten, doch unaufhörlich in den Gesprächen der handelnden Personen auf die Szene gebracht werden; da die Angabe ihres Aussehens, Anzuges, Aufenthaltsortes, ihrer täglichen Lebensweise und ihrer Gewohnheiten nicht nur umständlich und genau, sondern zugleich so lebhaft ist, daß es Einem vorkommt, als müsse man die beschriebene Persönlichkeit in der bestimmten Straße, die sie bewohnt, oder bei jener der ganzen Roman-Aristokratie bekannten Dame, die sie nachmittags zu besuchen pflegt, finden können – so scheint es fast unmöglich, daß all diese Gestalten Hirngespinnste sein sollten, nein, man denkt sich unwillkürlich das Frankreich der damaligen Zeit von ihnen bevölkert.

|210| Und zwar ganz Frankreich! Denn er hat nach und nach fast alle die verschiedensten Städte und Gegenden seines Vaterlandes beschrieben.*)*

*) Issoudun in »Un ménage de garcon« Douai in »Le Recherche de l’absolu«, Alençon in »La vieille fille«, Besanzon in »A1bert Savarus«, Saumur in »Eugénie Grandet«, Angoulème in »Les deux poètes«, Tours in »Le curé de Tours«, Limoges in »Le curé de village«, Sancerre in »La muse du département« u. s. w.
Weit davon entfernt, die Provinz zu verschmähen, sucht er seine Ehre darin, die Eigentümlichkeiten, die in Resignation verlaufenden Tugenden sowie die in der Kleinlichkeit fußenden Laster ihres stagnierenden Lebens mit vertrauter Kenntnis darzustellen. Doch vor allem lebt in seinen Werken Paris, und sein Paris ist nicht das Paris vor vierhundert Jahren wie in »Notre–Dame de Paris«, auch nicht das ideale Paris Victor Hugos, das abstrakte Jerusalem des Geistes und der Aufklärung, sondern die wirkliche moderne Stadt mit all ihrer Freude, ihrem Elend und ihrer Schmach, das einzige Weltwunder der modernen Zeit, das die sieben des Altertums weit hinter sich läßt, der große Polyp mit den hunderttausend Armen, der Nahes und Fernes an sich zieht, der große Krebsschaden, der Frankreich verzehrt. Balzac zeichnet in seinen Werken das Paris seiner Zeit gleichsam in Rembrandtschen Radierungen, mit seinen engen Straßen, mit seinem Lärm und Geschrei, mit seinen Straßenrufen am frühen Morgen und seinen vielstimmigen Abendchören, die er mit der unglaublichen Gewalt eines Musikers wiedergiebt, welcher, wie die Eingeweihten der antiken Mysterien, Trommeln gegessen und Cymbeln getrunken hat.*)*
*) Man lese z. B. die bewunderungswürdige Einleitung der leider ein so widerliches und anstößiges Thema behandelnden Erzählung »La fille aux yeux d’or«, in welcher die Hast, die Stimmung und der Reichtum des Pariser Lebens mit einer Wortkunst wiedergegeben ist, die orchesterartig wirkt.
Er kennt Alles von Paris, die Architektur seiner Häuser, die Möbel seiner Wohnungen, die Atmosphäre seiner Bureaux und Werkstätten, die Genealogie seiner Vermögen, die Reihenfolge der Besitzer seiner Kunstgegenstände, die Toiletten seiner |211| Damen, die Schneiderrechnungen seiner Dandies, die Prozesse der Familien, den Gesundheitszustand, die Ernährung, die Bedürfnisse, die Wünsche aller Schichten der Bevölkerung. Er hatte die Stadt durch alle Poren eingesogen. Während die zeitgenössischen Romantiker sich immerfort aus der schwachen; nebelumhüllten Sonne von Paris, fort von seinen modernen Spießbürgern, nach Spanien, Afrika, dem Orient sehnten,« war ihm keine Sonne lieber als die von Paris und kein Gegenstand als Stoff interessanter. Während man rings um ihn die Schatten einer fernen oder vergangenen Schönheit heraufzuzaubern strebte, wirkte das wirklich Häßliche so wenig abstoßend auf ihn wie die Nessel auf den Botaniker, die Schlange aus den Naturforscher oder die Krankheit auf den Arzt. An Fausts Stelle würde er gewiß niemals die altgriechische Helena aus dem Grabe beschworen haben; weit lieber hätte er nach seinem Freund Vidocq, dem einstigen Verbrecher, jetzigen Polizeipräfekten von Paris, geschickt, um sich von ihm seine Erlebnisse und Beobachtungen erzählen zu lassen.

Durch Beobachtung sammelte er eine unendliche Reihe von einzelnen Zügen, die Aufzählung all des Beobachteten jedoch wirkt in seinen Einleitungen oft ermüdend und verwirrend. Lange, lange beschreibt er bisweilen eine Häuslichkeit, eine Gestalt, ein Gesicht, ja eine Nase, und trotzdem erhält der Leser davon kein greifbares Bild, er langweilt sich vielmehr. Aber dann kommt ein Punkt, wo seine eigentümliche schöpferische, glühende Phantasie all’ die dem treuen Gedächtnisse entlehnten vulgären Elemente so umbildet und verschmilzt wie Benvenuto Cellini die Teller und Löffel bei dem Guß seines Perseus. Goethe sagt von sich (Tagebuch, 26. Februar 1780): »Durch Aggregation begreife ich nichts. Aber wenn ich recht lang Holz und Stroh zusammengeschleppt habe und immer mich vergebens zu wärmen suche, wenn auch schon Kohlen darunter liegen und es überall raucht, so schlägt doch endlich die Flamme in einem Wink übers Ganze zusammen.« Bei |212| Balzac ist der Rauch und Qualm in den beschreibenden Partien des fertigen Werkes noch immer spürbar, aber die Flamme bleibt niemals aus.

Denn er war nicht allein ein Beobachter, sondern ein Seher. Wenn er Nachts zwischen 11 und 12 einem Arbeiter mit seiner Frau begegnete, die von dem Theater nach Hause gingen, so erlustigte er sich daran, Straße auf, Straße ab ihnen bis zu dem Hause jenseits der äußeren Boulevards, welches sie bewohnten, zu folgen. Während die Mutter das Kind an der Hand führte, tauschten sie zuerst ihre Gedanken über das Stück aus, das sie gesehen hatten, dann sprachen sie vom Gelde, das sie am folgenden Tage ausgezahlt erhalten sollten, und gaben es im Gespräch auf zwanzigerlei Weise wieder aus; sie wurden uneinig und verrieten im Streite ihre Charaktere, und Balzac hörte so eindringlich ihren Klagen über die Länge des Winters, über den Preis der Kartoffeln und über das teure Heizmaterial zu, daß er, um seinen energischen Ausdruck – in der Einleitung zu »Facino Cane« – zu gebrauchen, »ihr Leben mitlebte, ihre Lumpen auf seinem Rücken fühlte und mit seinen Füßen in ihren löcherigen Schuhen ging.« Ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse gingen in seine Seele über, sie verschmolz mit der dieser Leute bis zu einem solchen Grade, daß er zuletzt neben ihnen wachend und doch wie träumend wandelte. Er teilte ihre Entrüstung über die Werkstattsaufseher, die sie tyrannisierten, über die schlechten Kunden, welche sie immer wiederkommen ließen, ohne sie zu bezahlen. In diesem Rausche des Gemütes legte er alle seine eigenen Gewohnheiten ab und wurde ein Anderer, wurde sein Zeitalter. Die Personen seiner Werke waren ihm nicht mehr erdichtete Gestalten, sie lebten in ihm und für ihn; nach und nach wurden sie ihm so gegenständlich, daß er zu seinen Bekannten von ihnen wie von wirklichen Persönlichkeiten sprach. Wenn er eine seiner Reisen nach den darzustellenden Lokalitäten antrat, sagte er wohl: »Ich reise nach Aleneon, wo Fräulein Cormon, nach Grenoble, wo der Doktor Bénassis wohnt.« |213| Er teilte seiner Schwester Nachrichten aus seiner erdichteten Welt wie aus einem realen Bekanntenkreis mit: »Weißt Du, wen Felix de Vandenesse heiratet? Ein Fräulein de Grandville. Es ist eine sehr glückliche Heirat, die er da eingeht, die Grandville sind reich trotz der vielfachen Ausgaben, zu denen Fräulein de Bellefeuille dieser Familie Anlaß gegeben hat.« Ja eines Tages, als Jules Sandeau von seiner kranken Schwester erzählte, unterbrach Balzac, der einige Zeit zerstreut zugehört hatte, ihn mit den Worten: »All das ist gut, lieber Freund; aber kehren wir zu der Wirklichkeit zurück, sprechen wir von Eugenie Grandet.« Es war notwendig, mit solcher Macht die Illusion selbst zu empfinden, um sie Anderen annähernd mächtig mitteilen zu können. Seine Phantasie hatte die gebieterische Gewalt, die keinen Zweifel aufkommen läßt, το πιθανον nannten es die Griechen. Man unterwarf sich ihr auch im gewöhnlichen Leben. Unter den hundert Projekten, die er erfand, um von seinen Schulden . loszukommen, war einmal auch dieses: auf dem kahlen, baumlosen Feld des kleinen Landeigentums Les Jardies, das er, um seiner Mutter ein Unterpfand zu geben, gekauft hatte, sollten ungeheure Treibhäuser angelegt werden, die, weil dort keine Bäume den Brand der Sonne beeinträchtigten, nach seiner Meinung sehr wenig Feuerung brauchen würden. In diesen Treibhäusern wollte er hunderttausend Ananas ziehen, die, für fünf Francs anstatt wie sonst für zwanzig verkauft, nach Abzug der Kosten dem glücklichen Besitzer die schöne jährliche Einnahme von 400,000 Francs sichern würden, »ohne daß er das geringste Manuskript zu liefern habe«. Balzac, der schon in Gedanken den tropischen Geruch der Treibhäuser einatmete, stellte mit solcher Überzeugungskraft seinen Plan dar, daß seine Freunde allen Ernstes auf dem Boulevard ihm einen passenden Laden für den Verkauf der noch nicht gepflanzten Ananas suchten, sowie die Form und Farbe des dort anzubringenden Schildes mit ihm erörterten. Ein anderes Mal glaubte er, ich weiß nicht durch welchen Vernunftschluß, den Ort entdeckt zu haben, wo Toussaint Louverture vor Paris an |214| dem Ufer der Seine seine Schätze vergraben hatte, und so unwiderstehlich schilderte er seinen zwei Vertrauten, Jules Sandeau und Théophile Gautier, die Wahrscheinlichkeit, dieselben dort ausgraben zu können, daß diese beiden sonst keineswegs naiven Freunde sich um fünf Uhr eines Morgens, mit Hacken bewaffnet, wie Verbrecher aus Paris schlichen und die Erde aufzuwühlen begannen, natürlich ohne das Geringste zu finden. Für keine Phantasie ist das Wort Einbildungskraft so bezeichnend gewesen.

Und diese Phantasie, welche die Anderen beherrschte, war sein eigener Tyrann. Sie ließ ihm keine Ruhe, begnügte sich nie mit der Ersinnung eines Planes, mit den süßen aber zwecklosen Freuden der künstlerischen Gedanken und Träume, sie zwang ihn, unaufhörlich sich in der Stimmung der Ausführung, in der schöpferischen Gewohnheit zu erhalten, ohne welche die flüchtige Inspiration verfliegt. Wenn er in seinem Roman »La Cousine Bette« mit Rücksicht auf die Faulheit des genialen Wenzelas Steinbock das Wort eines großen Dichters citiert: »Ich setze mich in Verzweiflung an die Arbeit und verlasse sie in Trauer«, so ist das augenscheinlich nur eine gewissermaßen bescheidene Form des Selbstcitates. Und er fügt hinzu: »Mögen die Uneingeweihten es wissen! Wenn sich der Künstler nicht ohne zu überlegen in sein Werk versenkt, wie Curtius in den Schlund, wie der Soldat in die feindliche Schanze sich stürzt, und wenn er in diesem Krater nicht arbeitet wie der Minengräber, der durch einen Einsturz verschüttet ist; wenn er die Schwierigkeiten ängstlich erwägt, statt sie eine nach der anderen zu überwinden, so wird er Zeuge des Selbstmordes seines Talentes.« Die Produktionsweise, die er schildert, ist seine eigene, aber nicht die einzige, nicht einmal die höchste. Ruhigere, weniger moderne Künstler haben sich den Kopf frei und die Augen unumwölkt oberhalb des siedenden Kraters der Arbeit bewahrt. Sie haben sich dadurch das sichere Urteil erhalten, das sie verhinderte, jemals stoffartig und langweilig wie der Verfasser des »Curé de village« und» des »Médecin |215| de campagne« zu wirken. Aber das ist wahr: eine gewisse dunkle Glut, etwas Packendes, das den modernen Nerven ein Bedürfnis geworden, fehlt wiederum allzu oft ihren Werken.

In der großen Vorrede zu »La Comédie humaine« sprach sich Balzac über seine Absicht und sein Ziel aus. Er fängt damit an, seine Geringschätzung der gewöhnlichen Geschichtsschreibung zu äußern. »Wenn man«, sagt er, »die trockenen und widerlichen Register liest, welche die Geschichte genannt werden, so bemerkt man, daß die Schriftsteller in allen Ländern und zu allen Zeiten es vergessen haben, uns die Geschichte der Sitten zu liefern.« Diese Lücke will er, so weit er es vermag, ausfüllen; er will das Inventar der Leidenschaften, Tugenden und Laster der Gesellschaft durch das Zusammendrängen der gleichartigen Charaktere zu Typen aufstellen und so mit vieler Geduld und Ausdauer über das Frankreich des nennzehnten Jahrhunderts das Buch schreiben, das unglücklicherweise Rom, Athen, Thrus, Memphis, Persien, Indien uns nicht hinterlassen haben. Man sieht, wie gering er über die Geschichte dachte; seine geringen historischen Kenntnisse erleichterten ihm das harte Urteil. Er war in Wirklichkeit auch nicht der Historiker, sondern wie er selbst es richtig und schlagend ausgedrückt hat, der Naturforscher seines Zeitalters. Er beruft sich auf Geoffroy St. Hilaire, der die Einheit der Organisation in den verschiedenen Arten nachwies. Er fühlt sich dem Gelehrten der Naturwissenschaft gegenüber als ein Doktor der sozialen Wissenschaften. »Die Gesellschaft macht aus dem Menschen, je nach der Umgebung, in welcher sich seine Handlungsweise entfaltet, ebenso viele verschiedene Menschen wie es in der Zoologie Varietäten giebt. Die Unterschiede zwischen einem Soldaten, Arbeiter, Beamten, Advokaten, Müßiggänger, Gelehrten, Staatsmann, Kaufmann, Seemann, Dichter, Armenhäusler, Priester sind, obwol schwerer zu begreifen, ebenso bedeutend wie die, welche einen Wolf, Löwen, Esel, Raben, Hai, Seehund, Schaf von einander trennen.« Diese Analogie ist mehr geistreich als zutreffend, |216| besonders weil Balzac selbst gleich einräumen muß, daß in der sozialen Welt die Frau durchaus nicht immer das Weibchen des Gatten ist, und überhaupt weil dasselbe Individuum in dem sozialen Reiche aus dem einen Stand in den anderen übergehen kann, während der Übergang vom Hai zum Raben im Laufe einer Haiexistenz unbekannt ist.

Was Balzac eigentlich meint und zu meinen Recht hat, ist, daß seine Betrachtungsweise der Menschenwelt in der Regel durchaus derjenigen des Naturforschers entspricht. Er moralisiert und verdammt niemals, er ist niemals Prediger und Rhetor, er vergißt nie, weder aus Ekel noch aus Begeisterung, wahrhaft darzustellen, es giebt für ihn, wie für den Naturforscher, nichts was zu klein und nichts was zu groß wäre, um analysiert und erklärt zu werden. Durch das Mikroskop gesehen, ist die Spinne größer und reicher organisiert als der größte Elephant; wissenschaftlich betrachtet, ist der majestätische Löwe nur ein Paar Kiefer, das auf vier Beinen geht. Die Art der Ernährung, die Form des Zahns zieht die des Kiefers, des Schulterblattes, der Muskel und der Klauen nach sich und erklärt die Majestät. Genau so wird das, was, unter gewissen Verhältnissen beobachtet, als widerliches und schmutziges Verbrechen erscheint, anders aufgefaßt, als Reduktion der großen glänzenden Laster erscheinen, und Balzac hat den Blick dafür.

Schon in »Eugénie Grandet« kommen Wendungen vor, die es zeigen. Wenn der Zeitpunkt sich nähert, da Eugenie ihrem Geizhals von Vater gestehen muß, daß sie ihre Dukaten nicht mehr besitzt, sie sogar verschenkt hat, schreibt er z. B.: »In drei Tagen sollte eine fürchterliche Handlung sich abspielen, eine bürgerliche Tragödie ohne Gift und Dolch und Blutvergießen, die sich aber schrecklicher gestalten sollte, als alle in der berühmten Familie der Atriden vollführten Dramen.« Das heißt: Mein bürgerlicher Roman ist tragischer als eure klassischen Trauerspiele. In einem anderen Roman, wo die Vorsteherin einer erbärmlichen Pension sich in Wehgeschrei über das |217| Wegziehen ihrer Pensionäre ergießt, sagt Balzac: »Obwol Lord Byron Tasso recht schöne Klagen in den Mund gelegt hat, so sind sie doch weit entfernt die tiefe Wahrheit derer zu erreichen, die Madame Vauquer entschlüpften.« Das heißt: Die kleinliche Gemeinheit, die ich schildere, ist, energisch aufgefaßt, interessanter als alle edlen Abstraktionen. In »Größe und Verfall Cäsar Birotteau’s« spielt er nicht allein in dem Titel scherzhaft auf das Buch Montesquieu’s über das Römerreich an, sondern vergleicht mit genialer Tollkühnheit seine detaillierte Schilderung der erfolgreichen Arbeit und des Fallissements eines braven Pariser Parfumeurs mit den Wechselfällen der trojanischen Kriege und der Napoleonischen Laufbahn: »Troja und Napoleon sind nur Epopeen. Möchte diese Geschichte das Epos bürgerlicher Schicksalsfälle sein, an welche kein Dichter gedacht hat, so entblößt jeglicher Größe scheinen sie, während sie eben die großartigsten sind; es handelt sich hier nicht um einen einzelnen Mann, sondern um eine ganze Heerschar von Qualen.« Das heißt: Nichts ist in der Poesie an und für sich groß oder klein; ich vermag in den Kämpfen eines Parfumeurs ein Heldengedicht zu lesen, ich empfinde und beweise, daß die Handlungen eines unscheinbaren Privatlebens, wenn man sie mit ihren Ursachen und Prinzipien verknüpft, ebenso wichtig und spannend sind, wie die größten Umwälzungen in dem Leben der Völker. Als in seinem Meisterwerk »Un Ménage de garçon« der hübsche und schlaue Raufbold Maxence Gilet im Duell gefallen ist, sagt der Dichter: »So starb einer jener Männer, die imstande sind Großes zu leisten, wenn sie in der günstigen Umgebung verbleiben, ein Mann, der von der Natur als verzogenes Kind behandelt war, denn sie gab ihm den Mut, die Kaltblütigkeit und den politischen Sinn eines Cäsar Borgia.« So schlagend ist dies letzte Wort, daß es dem Leser scheint, als verstehe er erst jetzt Max vollständig, wenn er sein Wesen in der Beleuchtung dieses Namens sieht.

Und wie das Laster, so ist bei Balzac immer die Tugend ein |218| Produkt; obwol er die Schwäche hat, in seinen ziemlich katholisch gefärbten Darstellungen der Pflichttreue und der Wohlthätigkeit bisweilen schwülstig und sentimental zu werden, versäumt er nie, auf die verschiedenen Quellen der Tugend vor unsern Augen hinzuweisen, sei es nun angeborene Kälte der Sinne, Stolz, halbunbewußte kluge Berechnung, angeerbter Adel der Gesinnung, weibliche Reue, männliche Naivetät, oder devote Hoffnung auf Vergeltung in einem zukünftigen Leben.

Um den vollen Eindruck zu erhalten, wie seine dichterischen Kräfte noch in der späteren Periode seines Lebens wachsen, lese man »Un Ménage de garçon«, »Cousine Bette« und »Illusions perdues«.

Der erstgenannte Roman, einer seiner weniger bekannten und gelesenen, giebt in einem großartig düsteren Gemälde die Psychologie einer ganzen kleinen Stadt und einer dort und in der Hauptstadt verzweigten Familie. Die Hauptgestalt ist ein heruntergekommener roher Offizier aus Napoleons Garde, in dem der brutale, gewaltthätige Egoismus eines kräftigen Naturells verkörpert ist. Er ist der miles gloriosus, der statt feige zu sein verbrecherisch entwickelt ist. Der zweite Roman, eines seiner bekanntesten und gelesensten Werke, stellt mit unübertroffener Wahrheit die vernichtende Macht des Erotismus dar. Shakespeare’s »Antonius und Cleopatra« hat dies Thema nicht mit größerer Virtuosität und kaum mit so überzengender Kraft behandelt. »Illusions perdues« endlich ist dem Miß brauch der Presse als demoralisierendem Prinzip gewidmet.

Der Titel dieses merkwürdigen Romans ist für Balzac bezeichnend; gewissermaßen könnte er als Haupttitel für seine gesammelten Werke gelten. Kein anderes einzelnes Werk von ihm giebt seine Ansicht der modernen Kultur in so umfassender Weise wie dieses. Die verderbliche Seite des Journalismus ist hier als Nachtseite des öffentlichen Lebens überhaupt behandelt.

Wie die Mehrzahl der gießen Schriftsteller, die nicht das Greisenalter erlebten, hatte Balzac wenig Ursache, sich an der Kritik |219| die ihm in der Presse zu Teil wurde, zu erfreuen. Man verstand ihn nicht; selbst die Besten, wie Sainte-Beuve, standen ihm zeitlich zu nahe, um seine Größe überschauen zu können, und er seinerseits lebte allein, that gegen alle Pariser Gewohnheit durchaus keinen Schritt, um ein Lob seiner Bücher zu erlangen, ja noch mehr, er hatte durch seine Erfolge viel Neid erregt. In »Illusions perdues« schuf er ein Bild der sogenannten kleinen Presse, das die Journalisten, die sich getroffen fühlten, ihm niemals verziehen. Unter diesen war Jules Janin, der in dem Roman als Etienne Lousteau nicht eben gehässig, aber wahrheitsgetreu porträtiert war, der bedeutendste. Um so pikanter war es und ist es noch, dessen Kritik des Buches zu lesen. Sie erschien 1839 in der »Revue de Paris«, an welcher Balzac selbst ständiger Mitarbeiter gewesen war, die aber, nachdem er einen Prozeß gegen sie gewonnen hatte, ihn natürlich als vogelfrei behandeln ließ. Die Kritik ist boshaft, kleinlich, witzig und hat den Roman, den sie töten möchte, nicht überlebt.

Ein ganz junger, armer Poet in der Provinz, schön wie ein Gott, aber ein schwacher Charakter und ein halbes Talent, wird von der maßgebenden Dame der Provinzialstadt, einem eleganten und vornehmen Blaustrumpf, mit nach Paris gebracht. Ein Liebesverhältnis war eben im Begriff durch den gemeinsamen Aufenthalt in der Hauptstadt besiegelt zu werden, als die Dame plötzlich, in der großen Welt von Paris als ebenbürtig ausgenommen, sich selbst und ihren Ritter mit völlig anderen Augen ansieht. Entfremdung und Bruch ihrerseits; Lucien wird von einem fünfzigjährigen Dandy überstrahlt. Wir erleben jetzt die Erziehung des Provinzialen zum Pariser. Es ist seine Absicht gewesen, als Dichter zu debütieren, er hat einen Roman und einen Band Gedichte geschrieben und die Bekanntschaft eines kleinen Kreises junger strebender Elitegeister gemacht. Aber die Monate der Armut, der Resignation, der anstrengenden Studien und ideellen Hoffnungen werden ihm zu lang, er sehnt sich zu sehr nach dem augenblicklichen Genuß und dem |220| Tagesruhm, nach Rache an all denen, die den ungeschickten Ankömmling gedemütigt haben. Die »kleine« Presse (auf »Figaro« wird angespielt) bietet ihm die Möglichkeit, diese Sehnsucht vollständig zu befriedigen. Wir sehen, wie ihm der Kopf schwindelig wird, bis er, ohne irgend eine Sache verfechten zu wollen oder irgend ein Prinzip zu haben, sich kopfüber in den Journalismus hineinstürzt.

Lousteau führt ihn in den Laden eines großen Buchhändlers und Zeitungsbesitzers im Palais-Royal. »Bei jedem Satz, den der Buchhändler sagte, wuchs er in den Augen Luciens, der die Politik und die Litteratur in diesem Laden wie in einem Punkt zusammenlaufen sah. Aus dem Anblick eines ausgezeichneten Dichters, der dort einem Journalisten seine Muse preisgab […] zog der große Mann aus der Provinz eine fürchtliche Lehre. Geld! Dies war das Lösungswort jedes Räthsels. Er fühlte sich allein, unbekannt, nur durch den Faden eines zweifelhaften Freundes mit dem Erfolg verknüpft. Er klagte seine wahren, ihm zugethanen Freunde des litterarischen cénacle an, er warf ihnen vor, ihm die Welt mit falschen Farben gemalt und ihn verhindert zu haben, mit der Feder in der Hand sich in das Handgemenge zu stürzen.« Aus der Buchhandlung gehen die Freunde ins Theater. Lousteau ist als Journalist überall willkommen. Der Direktor erklärt ihnen, wie eine gegen das Stück arrangierte Kabale eben von den reichen Bewunderern zweier seiner schönsten Schauspielerinnen durch Überzahlung gesprengt worden sei. »Seit zwei Stunden löste sich vor Luciens Ohren alles in Geld auf. Im Theater wie in der Buchhandlung, bei dem Verleger wie auf dem Redaktionsbureau war von Kunst und wahrem Verdienst keine Rede. Es war, als ob der große Prägstock der Münze seinen Kopf und sein Herz mit immer wiederholten Schlägen bearbeitete.« Sein litterarisches Gewissen schmilzt; er wird Litteratur- und Theaterkritiker an einer kleinen tendenzlosen Zeitung. Von einer jungen Schauspielerin geliebt und unterhalten, sinkt er immer tiefer in die Existenz hinunter, die unausbleiblich ist, wenn man seine Feder |221| verkauft hat. Seine Erniedrigung gipfelt in der Scene, wo er, von dem Chefredakteur gezwungen, einen boshaften Angriff gegen das von ihm selbst bewunderte Buch seines edelsten und besten Freundes zu schreiben, noch vor dem Druck des Artikels an der Thür dieses Schriftstellers anklopft, um Verzeihung zu erbitten. Seine Geliebte stirbt; er ist so heruntergekommen, daß er, um sie beerdigen lassen zu können, schmutzige Lieder an ihrem Totenbette schreiben muß. Zuletzt nimmt er das von ihrer Kammerzofe aus schmachvolle Weise erworbene Geld als Geschenk an, um sich in die Provinz zurückflüchten zu können. All dieses ist schauerlich, aber es ist wahr, furchtbar wahr. In diesem einzigen Werke allein hat Balzac die Unparteilichkeit des Naturforschers ausgegeben. Er, der immer sonst seinen Gleichmut bewahrt, hat hier in voller Entrüstung mit Skorpionen gepeitscht.

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