Unter den in den Jahren 1833 und 1834 erschienenen Büchern sind besonders zwei hervorzuheben, die feine und klassische Erzählung »Eugénie Grandet« und der gewaltige, gestaltenreiche Roman »Père Goriot«. In dem erstgenannten Werke wetteifert Balzac mit Molière (L’Avare), in dem zweiten mit keinem geringeren als Shakespeare (King Lear).
»Eugénie Grandet« giebt nicht den Maßstab für Balzacs Talent, obwohl er lange Zeit hindurch den Ehrentitel des Verfassers dieser Novelle trug. Das Buch interessierte durch die Sorgfalt und die Wahrheitstreue, mit welcher das Lebender Provinz, sowie die eigentümlichen Laster und Tugenden desselben geschildert sind; es ließ sich als Familienlektüre empfehlen, weil die Heldin ein edles und keusches junges Mädchen war; es ist jedoch besonders durch die Genialität merkwürdig, mit welcher Balzac das Laster der Habsucht und des Geizes, dem die Alten nur eine komische Seite abzugewinnen wußten, begreiflich, ja imponierend zu machen versteht. Balzac hat gezeigt, wie der Geiz, den man als lächerlichen Trieb verspottet hatte, nach und nach alle menschlichen Gefühle tötet, um fürchterlich, tyrannisch sein Medusenhaupt über die Umgebung des Geizigen zu erheben; und dennoch hat er uns zugleich den Geizigen menschlich näher gebracht. Für ihn ist der Habsüchtige nicht der Komödienspießbürger, sondern ein machtliebender Monomane, ein verhärteter Schwärmer, ein Poet, der beim Anblick des Goldes in gesättigter Begierde und doch in wilden |203| Träumen schwelgt. Er ist sich nur intensiver als alle Anderen der Wahrheit bewußt, daß das Gold alle menschlichen Kräfte und Freuden vertritt. In einer solchen Charakterschilderung zeigt sich schon die Stärke Balzacs, welche darin besteht, ohne große, prahlende Sujets aufzusuchen, mit dem Kleinen, von andern Übersehenen und Verschmähten, eine große Wirkung zu erzielen. Symbolisch aufgefaßt ist in »Eugénie Grandet« die Welt nicht eng. Doch war sie für Balzacs spezielle Anlagen eine zu enge.
Im »Père Goriot« erweitert sich das Lebensbild. Nicht ein entlegener Winkel der Provinz, sondern das ungeheure Paris wird hier studiert, wird wie ein Panorama dem Auge aufgerollt. Hier ist nichts mehr wie in »La Peau de Chagrin« abstrakt und allgemein; jede Gefellschaftsklasse, jede Gestalt innerhalb derselben ist mit den individuellsten Zügen ausgestattet. Ich nannte »König Lear«; aber das Verhältnis der beiden kaltherzigen Töchter zum Vater, so tief es auch angelegt und empfunden ist, macht nur im äußerlichen Sinne den Gegenstand aus. Das wahre Sujet ist das Eintreten des relativ unverdorbenen, aus der Provinz ankommenden Jünglings in die Pariser Welt, seine gradweise Entdeckung der wahren Beschaffenheit dieser Welt, sein Schrecken bei dieser Entdeckung, sein Widerstreben, seine Versuchungen, endlich seine schrittweise, wenn auch schnelle Erziehung für das Leben, das um ihn her geführt wird. Die Charakterentfaltung Rastignacs gehört zum Tiefsten, was Balzac und überhaupt irgend ein moderner Romandichter hervorgebracht hat. Mit großer Kunst hat Balzac es klar gelegt, wie von den verschiedensten Seiten, überall wo weder Heuchelei noch Naivetät die Äußerungen diktiert, dieselbe Auffassung der Gesellschaft und dieselben Lehren dem jungen Manne entgegentreten. Seine Verwandte und Beschützerin, die reizende und vornehme Beauféant, sagt ihm: »Je kälter Sie berechnen, um so weiter werden Sie kommen. Schlagen Sie ohne Mitleid, so werden Sie gefürchtet werden. Betrachten Sie Männer und Frauen |204| nur als Postpferde, die Sie bis zu jedem Umspannort zu Schanden fahren […] wenn Sie aber ein wahres Gefühl haben, so hüten Sie sich, es zu verraten, sonst werden Sie Ambos statt Hammer […] Finden erst die Frauen Sie geistreich, so werden die Männer es glauben, wenn Sie sie nicht aus dem Irrtum reißen […] dann werden Sie wissen, was die Gesellschaft ist – eine Versammlung von Gimpeln und Schriften. Gehören Sie weder zu den einen noch zu den andern.« Und der entwichene Galeerensklave Vautrin sagt ihm: »Man muß in die Menschenmasse entweder wie eine Kanonenkugel sich Bahn brechen oder sich wie eine Pest hineinschleichen. Die Rechtlichkeit nützt zu nichts. Man beugt sich unter der Macht des Genies, man haßt es, versucht es zu verleumden, weil es nimmt ohne zu teilen, aber man beugt sich, wenn es aushält; mit einem Wort, man betet es aus den Knieen an, wenn man es nicht im Kot zu begraben vermochte […] ich wette, daß Sie in Paris nicht zwei Schritt machen können, ohne ganz teuflischen Schlichen zu begegnen […] Deshalb ist der rechtschaffene Mann der allgemeine Feind. Aber wer, glauben Sie, ist der rechtschaffene Mann? In Paris ist es der, welcher schweigt und zu teilen sich weigert Rastignac ist der typische junge Franzose jener Zeit; er ist wohl-, aber durchaus nicht ungewöhnlich begabt; er hat keinen anderen Idealismus als den, der aus der Unerfahrenheit seiner zwanzig Jahre beruht. Erschüttert, ergriffen durch Alles, was er täglich sieht und erlebt, fängt er an, nach den Gütern des Glücks mit immer geringerer Gewissenhaftigkeit, mit immer heftigerem Verlangen zu trachten. Wie sträubt er sich, als Vautrin zum ersten Male ihm die bekannte alte Frage vorlegt, ob er, wenn er durch den bloßen Willensakt es vermöchte, einen von ihm nie gesehenen Mandarinen in China töten würde, um die Million, die er begehrt, zu erhalten! und wie bald danach liegt der »Mandarin« schon röchelnd im Todeskampf! Er sagt sich zuerst wie Alle, daß um jeden Preis groß oder reich sein zu wollen, gleichbedeutend ist mit dem |205| Entschluß, lügen, nachgeben, kriechen, schmeicheln, täuschen zu wollen, und alles dies in stillem Einverständnis mit denen, die gelogen, nachgegeben, getäuscht haben; dann entschlägt er sich dieser Gedanken mit der Wendung, er wolle gar nicht denken, sondern seinem Herzen folgen. Es giebt einen Moment, wo er noch zu jung ist, um sich Berechnungen hinzugeben, aber schon alt genug dazu, daß unbestimmte Ideen und nebelhafte Träume durch sein Gehirn schießen, die – hätte man sie chemisch verdichten können – kein allzu reinliches Residnum hinterlassen haben würden. Sein Verhältnis zu der Weltdame, Delphine von Nucingen, der Tochter Goriots, vollendet seine Erziehung. Er überschaut die Summe der kleinen und großen Miseren, aus welchen das Leben der höheren Gesellschaft besteht, während er gleichzeitig von dem spöttischen Cynismus Vautrins bearbeitet wird. »Noch zwei oder drei hochpolitische Reflexionen,« sagt Vautrin, »und Sie sehen die Welt wie sie ist. Der bedeutende Mensch, wenn er nur ab und zu einige kleine Tugendscenen spielt, befriedigt jede seiner Launen unter dem Beifallsdonner der Einfallspinsel im Parterre […] Ich erlaube Ihnen gern, mich noch heute zu verachten, da Sie mich doch später lieben werden. Sie werden in mir jene klaffenden Abgründe, jene großen konzentrierten Gefühle finden, welche die Dummköpfe Laster nennen, niemals aber werden Sie mich seige noch undankbar finden.« Seine Augen sind geöffnet, und zwar für das ganze Scheingepräge der Umgebung; er sieht, wie die Sitten und Gesetze den Frechen nur Schirmbretter sind, hinter denen ihr Handeln frei ist. Wohin er schaut, nur: Scheinwürde, Scheinliebe, Scheingüte, Scheinehen. Mit seltener Gewalt hat Balzac diesen Moment in dem Leben jedes begabten Jünglings geschildert, wo beim Anblick des Weltgetriebes das Herz ihm schwillt und so sonderbar schwer wird, daß ihm zu Mute ist, als trage er einen Brunnen voll Verachtung in seinem Herzen. »Während er sich anzog, gab er sich den traurigsten, den entmutigendsten Erwägungen hin. Ihm erschien die Gesellschaft wie |206| ein Ocean von Kot, worin der, welcher nur den Fuß hineintaucht, bis zum Halse versinken müsse. Es werden dort nur kleinliche Verbrechen begangen, sagte er sich. Vautrin ist größer.« Dann, zuletzt, nachdem er den Schlund dieser Hölle durchmessen hat, richtet er sich wohnlich in ihr ein und bereitet sich vor, zu den Spitzen der Gesellschaft, zu dem Ministerposten, als dessen Inhaber wir ihn in späteren Romanen wiedertreffen, aufzusteigen.
Fast alle Vorzüge Balzacs sind in diesem groß angelegten Werke der von ihm geschilderten Persönlichkeit Rastignacs zu gute gekommen. Seine animalische Lebhaftigkeit, seine unerschöpfliche, schneidende Suada stimmen wunderbar zu der Ausdrucksweise, welche für die ganze vulgäre, verlumpte, plumpwitzige und doch geniale Tischgesellschaft in der Pension Vauquer die natürliche ist. Es kommen fast gar keine edlen Gestalten vor und es ist folglich wenig Anlaß da, sich einem geschmacklosen Pathos hinzugeben, dagegen hat der Leser unaufhörlich Gelegenheit, sich an der Festigkeit des Auges und der Hand zu erfreuen, mit der Balzac die Seele eines Verbrechers, einer Koketten, eines Geldmannes, einer alten neidischen Jungfer zerlegt. Der alte, von den Töchtern verleugnete und vergessene Vater, nach dem das Buch seinen Namen hat, ist freilich eine nicht ganz gelungene Gestalt. Er ist ein Opfer, und Balzac entwickelt den Geopferten gegenüber immer eine übertriebene, maßlose Sentimentalität. Er ist z. B. geschmacklos genug, Goriot »ce Christ de la paternité« zu nennen. Er giebt außerdem der Liebe Goriots zu den Töchtern (wie in »Le Réquisitionnaire« der Liebe der Mutter zum Sohn) einen so sinnlichen Charakter, daß sie uns in ihrer Hysterie fast anwidert.*)*
Aber doch hat dadurch, daß dieser alte verlassene Mann, dessen Herz die eigenen Töchter mit Füßen treten, in den Mittelpunkt des Buches gestellt ist, alles eine Einheit und Festigkeit der Komposition gewonnen, die überaus |207| wohlthuend wirkt. Wie ein Epigramm spitzt sich die ganze Juvenalische Satire über die Gesellschaft zu, als Delphine den sterbenden Vater nicht besuchen will, weil sie, um gesellschaftlich eine Stufe zu ersteigen, durchaus die so lange vergeblich erhoffte Einladung benutzen und auf dem Ball der vornehmen Madame Beauseant erscheinen will – ein Ball, zu welchem »tout Paris« sich drängt, nur um mit grausamer Neugierde in den Mienen der Wirtin die Qual zu lesen, welche die Nachricht von der Verlobung ihres treulosen Geliebten, die man ihr erst am selben Morgen mitgeteilt, derselben bereitet. Wir folgen Delphine, wies sie in ihrer Equipage an der Seite Rastignacs zum Balle fährt. Der junge Mann, der es fühlt, daß sie imstande wäre, über die Leiche ihres Vaters zu schreiten, um sich auf diesem Balle zu zeigen, der aber nicht mehr die Kraft hat, mit ihr zu brechen, ja nicht einmal den Mut, ihr durch Vorwürfe zu mißfallen, kann es doch nicht lassen, ihr den traurigen Zustand dieses ihres Vaters mit ein paar Worten zu schildern. Die Thränen treten ihr in die Augen. »Ich werde häßlich werden«, dachte sie, und ihre Thränen trockneten. – »Ich will morgen meinen Vater pflegen, ich will von seinem Bette nicht weichen«, sagte sie. Und sie meint, was sie sagt; sie ist nicht böse, nicht einmal schlecht, aber sie ist ein lebendiges Bild der gesellschaftlichen Disharmonien, unadlig geboren, reich, ihres Reichtums durch eine schlechte Ehe beraubt, genußsüchtig, leer, ehrgeizig. Die poetische Kraft und Art Balzacs reichte nicht hin, um eine Cordelia in Shakespearescher Reinheit und Einfachheit darzustellen, denn die Sphäre des Edlen ist die seine nicht; aber er hat es verstanden, eine Regan und eine Goneril menschlicher und wahrer als der große Brite zu bilden.Du kan slå ord fra Brandes' tekst op i ordbogen. Aktivér "ordbog" i toppen af siden for at komme i gang.