Doch Balzac war noch jung; auch seine so früh enttäuschte Dichterseele hatte ihren Frühling; auch er fühlte den Beruf, die Liebe und das Weib zu dem Mittelpunkt einer Reihe von Romanen zu machen. Er behandelte das alte Thema mit einer Ursprunglichkeit, die es völlig neu erklingen ließ, und die Erzählungen, in welchen er es mit dem größten Erfolg variierte, bilden in seinen Werken eine Gruppe für sich.
Es war nicht die Schönheit, am wenigsten die plastische Schönheit, der er in dem Weibe huldigte. Er empfand überhaupt die Schönheit nicht am lebhaftesten durch das Medium der Kunst. Schon hierdurch unterscheidet er sich von einer nicht geringen Zahl seiner Zeitgenossen. Ein großer Teil der romantischen Dichtung sowohl in Deutschland und im Norden, wie in Frankreich hatte ja die Kunst zum Gegenstande. Ein in solchem Grade kunstliebender Dichter wie Gautier (bald das Haupt einer ganzen Schule) wurde z. B. durch seine Liebe zur Kunst an der Erkenntnis der Wirklichkeit gehindert. Er hat selbst erzählt, wie enttäuscht er sich fühlte, als er zum ersten Mal in Rioults Atelier nach einem weiblichen Modell malen sollte, obwohl das Modell schön, seine Linien elegant und rein waren. »Ich habe immer«, gesteht er, »die Statue dem Weib und den Marmor der Haut vorgezogen.« Vielsagende Worte! Man denke sich Gautier und Balzac zusammen in dem Antikenmuseum des Louvre, im Allerheiligsten, wo die Venus von Milo in einsamer Majestät strahlend steht. Dem plastischen Dichter wird aus dem |196| Marmor die schönste Hymne der griechischen Kunst aus die Vollkommenheit der menschlichen Form ertönen, und er wird Paris darüber vergessen. Balzac dagegen vergißt die Statue, die er zu betrachten im Begriff steht über einer nach der Mode der damaligen Zeit gekleideten Pariserin, die mit ihrem Longshawl, der vom Halse bis zu den Hacken keine Falte schlägt, mit ihrem koketten Hut, ihren feinen, die Hand modellierenden, Handschuhen vor der Göttin stehen geblieben ist. Er versteht mit einem Blick all die kleinen Kunstgriffe ihrer Toilette, deren Geheimnisse vor ihm keine sind.
Das ist der erste Zug: ganz und gar nichts von den Mythologien und Traditionen der Vorzeit stellt sich zwischen ihn und die zeitgenössische Frau. Er studierte keine Statue, betete keine Göttin an, hegte keinen Kultus der reinen Schönheit, sondern faßte die Frau auf, wie sie damals stand und ging, mit ihren Kleidern und Shawls, Handschuhen und Hüten, Launen und Tugenden, Versuchungen und Fehlern, Nerven und Leidenschaften, mit allen Spuren der Unnatur, der Ermüdung und der Kränklichkeit. Er liebt sie, wie sie ist. Und er begnügt sich, um sie zu studieren, nicht damit, sie im Vorbeigehen zu beobachten; sein Blick dringt bis in das Boudoir, bis in den Alkoven; er begnügt sich auch nicht damit, ihre Seele zu erforschen; er forscht nach den physiologischen Gründen der seelischen Zustände, nach Frauenleiden und Frauenkrankheiten. Das ganze stumme Elend des schwachen und duldenden Geschlechts wird mehr als angedeutet.
Der zweite Zug ist dieser: Balzac stellt als Gegenstand der Liebe nicht das junge Mädchen, nicht einmal die ganz junge Frau dar; der Haupttypus seiner Frauengestalten ist der, den man nach seinem Roman »die Frau von dreißig Jahren« genannt hat. Es bedurfte eines genialen Dichters, um die einfache Wahrheit zu entdecken und auszusprechen, daß in dem nördlichen Klima Frankreichs das weibliche Geschlecht mit achtzehn Jahren weder körperlich noch geistig seine höchste Blüte hat. Er schilderte die Frau, die schon |197| die erste Jugend hinter sich hat, die schon tiefer und reicher fühlt und denkt, die schon Enttäuschungen erlitten hat und dennoch einer ganzen Leidenschaft fähig ist. Sie ist schon von dem Leben gebrandmarkt: hier ein schmerzlicher Zug, da eine Runzel; der Wurm hat an der üppigen Frucht genagt, aber sie wirkt noch mit der vollen Allmacht ihres Geschlechts. Sie ist schwermütig, sie hat gelitten, sie hat genossen, sie ist unverstanden oder vereinsamt, oft getäuscht, noch immer erwartend, fähig, die tiefen, glühenden Leidenschaften einzuflößen, die in dem Mitleid wurzeln. Und eigentümlich genug, sie wird nie von dem Standpunkt des gleichaltrigen Mannes aus betrachtet; nein, sie wird so aufgefaßt und so geschildert, wie ein beträchtlich jüngerer, noch von dem Leben wenig belehrter Mann sie von seinem Standpunkte aus auffassen muß. Die frische Empfindung, die brennende Begierde, die naive Begeisterung, das unbewußte Idealisieren einer jugendlichen Erotik legt eine Glorie um die nicht mehr ganz frische Stirn, verschönert, vergöttlicht, verjüngt die noch immer anziehende und mit allen Grazien der Feinheit, der Erfahrung, des weiblichen Ernstes und der echten Leidenschaft ausgestattete Frau.*)*
Idealistisch (wie in den zum Vergleich sich bietenden Erzählungen von George Sand) ist die Darstellung nie; denn nichts ist verschwiegen von dem, was die Frauen, wenn sie von ihrem eigenen Geschlechte sprechen, zu verschweigen pflegen und was auch jene genialste Darstellerin bei den Frauengestalten, für die sie Sympathie erregen will, übergeht. Für George Sand ist die Frau vor allem ein moralisches Wesen, eine Seele; für Balzac eine physiologisch-psychologische Thatsache und deswegen bei ihm weder körperlich noch geistig ohne Makel. Seine Idealisierung der Gestalt ist entweder rein äußerlich (das Idealisierende der Beleuchtung, der |198| erotischen Situation z. B.), oder es ist die Leidenschaft der dargestellten Persönlichkeit, welche, immer nur für eine Zeit, alles andere und frühere annulliert oder verklärt und so durchscheinend idealisiert. Die Liebe der Gattin, die Mutterliebe, die schüchterne Neigung des jungen Mädchens wird zu dieser Zeit von Balzac mit gleicher Meisterschaft wie die freie Erotik der liebenden Geliebten geschildert.Die französische Frau tritt bei ihm in vier verschiedenen Epochen der Geschichte hervor.
Zuerst in der Revolutionszeit. In einem kleinen Meisterwerk »Le Réquisitionnaire«, eine von den wenigen seiner Erzählungen, die nicht nur als Sitten- und Herzensgemälde, sondern auch durch die vollendet novellistische Form der Handlung glänzen, behandelt er auf dem Hintergrund der Schreckenszeit die Liebe einer Mutter zu dem Sohne. Die abgeschiedene kleine Stadt, der eigentümliche Salon Madame de Dey’s sind mit wenigen-Strichen gemalt. Die Furcht um das Leben des zum Tode verurteilten Sohnes; die Erwartung, ihn als Einquartierung kommen zu sehen; die von Stunde zu Stunde bis in die späte Nachtzeit gesteigerte Spannung des Wartens; die anscheinend geheimnisvolle Ankunft des jungen Soldaten, der in das sorgfältig für ihn bereitete Zimmer – ungesehen von den Gästen des Hauses hinaufgeführt wird; die verzweifelte Unruhe und tolle Freude der Mutter, die seine Schritte über sich hört und, um sich nicht zu verraten, ihr Gespräch im Salon fortführen muß, endlich ihr Hineinstürzen ins Zimmer und die fürchterliche Entdeckung, daß der Ankömmling ein Anderer, ein wirklicher Rekrut ist – alles dies, auf einen Bogen zusammengedrängt, ist mit unvergleichlicher Macht und Wahrheit ausgeführt.
Demnächst hat Balzac die Frauen unter der Herrschaft Napoleons geschildert.
Der Hintergrund ist hier die ungeheure Entfaltung militärischer Pracht, die Atmosphäre ist die Glut der Bewunderung, welche den siegreichen Kriegern von den Frauen entgegengebracht wurde, die |199| rücksichtslose und genußsüchtige Hast des Lebens zu einer Zeit, wo das junge Weib »zwischen einem ersten und einem fünften Bulletin der Großen Armee nach einander Braut, Gattin, Mutter und Witwe sein konnte,« und wo die Aussicht auf ein nahes Witwentum oder eine Dotation oder veinen unsterblichen Namen die Frauen leichtsinniger und die Offiziere verführerischer machte. Die Revue in dem Tuilerienhof 1813, welche die Einleitung zu »La femme de trente ans« bildet, und die Abendgesellschaft zur Zeit des Sieges bei Wagram, die in »La Paix du ménage« den Lesern vorgeführt ist, malen eine Epoche und einen Frauentypus.
Doch sein wahres Gebiet, wo seine Typen von Frauen und Frauenliebe seine Beobachtungsgabe am schärfsten zeigen, erreicht Balzac erst in den Darstellungen aus der Restaurationszeit. So unerschrocken auch sein Auge und so hart seine Hände waren, so sehr er auch geschaffen war, die nüchterne und korrumpierte Periode der bürgerlichen Herrschaft zu schildern, er war doch immer Poet genug, um unter der prosaischen Plutokratie des Julikönigtums nach dem verschwundenen Zeitalter der Eleganz und der freieren, heitereren Sitte der Restauration mit einer gewissen Wehmut zurück zu blicken. Die Restaurationszeit war noch aristokratisch gewesen, und Balzac, der sich selbst, wenn auch mit Unrecht, zu dem Adel rechnete, hegte eine nicht geringe Verehrung vor der Aristokratie; die vornehm geborene und erzogene schöne Frau schien ihm die Blüte der Menschheit Gewiß gehört er der Generation an, die für Napoleon schwärmte, dessen Name denn auch aus jeder zweiten oder dritten Seite bei ihm vorkommt. Er träumte (wie Victor Hugo) davon, in der Litteratur mit der Weltherrschaft des Kaisers zu wetteifern; hatte er doch in seinem Arbeitszimmer eine Statuette Napoleons stehen, auf deren Degenscheide er geschrieben hatte: »Was er mit dem Schwerte erkämpft hat, werde ich mit der Feder erobern«; aber mit all seinen Träumen, seinen Schwächen, seinen verfeinerten und eitlen Neigungen gehörte er doch dem legitimen Königtum an, dessen Zeit außerdem die |200| Zeit seiner Jugend war und als solche mit wärmeren Gefühlen umfaßt wurde. Während der Epoche der altfranzösischen Traditionen und der vergoldeten Staatskarossen waren, von dem herrschenden Klerikalismus unangefochten, in den höheren Kreisen freie Ansichten und humane Sitten gepflegt worden; sie verschwanden mit der Thronbesteigung des Geldbeutels. Das gesellige Leben, das die Hauptstadt des guten Tons so berühmt gemacht hatte, starb hin. Kein Wunder also, daß Balzac die schönen Sünderinnen des Faubourg St. Germain mit zarter Hand und schmeichelnden Farben malte. Wohl war die schöne Delphine de Girardin, die anmutige Dichterin und Schöpferin des originellen Pariser Feuilletons, die einen vielbesuchten Salon hatte, ihm wie Hugo und Gautier eine treue und kluge Freundin; aber mehr als von ihr hat er für sein Dichten gewiß von jenen zwei Herzoginnen gelernt, die ihm die Größe der Kaiserzeit und den Glanz des heiteren und seinen alten Regimes personifizierten, und denen er schon zu Anfang seiner Laufbahn nahe trat: von Madame Junot, der Herzogin von Abrantes, der er litterarisch behülflich war, und von der Herzogin von Castries, die ihm zuerst anonym ihr Interesse für seine schriststellerische Wirksamkeit mitteilte und an die ihn eine Zeit lang eine nichts erwiderte Leidenschaft fesselte. Sie kommt in seiner Romanfolge »Histoire des Treize« unter dem Namen der Herzogin de Langeais vor.
An die Gesellschaft des Julikönigtums, die Frauen und die Passionen derselben rührt Balzac selbstverständlich in den ersten der Dreißiger Jahre noch nicht. Das geschieht erst später. Man kann ziemlich durchgehend die Beobachtung machen, daß er dem neuen Stoff gegenüber und überhaupt mit den reiferen Jahren strenger und schwärzer sieht. Der Frühlingshauch ist verschwunden. In vielen Büchern ist noch immer die Frau und die Liebe der Mittelpunkt. Aber die Neigung ist Leidenschaft und die Leidenschaft Laster geworden. Wenig uneigennützige Empfindungen und unschuldige Sympathien; Berechnung überall, auch bei der Frau, be|201|sonders bei der Frau, und sogar in der Liebe, noch mehr da, wo nur Surrogate für die Liebe geboten werden. Die Courtisane drängt in vielen seiner Romane die Weltdame in den Hintergrund, und bisweilen findet sich bei der ersteren weniger Eigennutz als bei der letzteren. Die Abgründe des Egoismus und des Lasters öffnen sich vor den Augen des Lesers.