Balzacs erstes Vorbild ist, wie schon berührt, ein Dichter gewesen, an den bei ihm gewiß niemand gedacht hat und dem er zur Zeit seiner Reife unendlich fern steht, nämlich Walter Scott.
Er war aber ein allzu moderner Geist, um an dem historischen Genre festhalten zu können. Er hatte nach keinem entfernten Jahrhundert Heimweh, hatte einen ungeheuren Schatz von Beobachtungen gesammelt und suchte unwillkürlich solche Stoffe, wo er dieselben am leichtesten und besten verwerten konnte. Er fühlte, ohne sich dessen klar bewußt zu fein, daß der Autor des geschichtlichen Romans entweder einfach die Modelle, welche ihm seine Umgebung darbietet, in alte Kostüme stecken, oder mit Gewalt die Psychologie, die er aus Beobachtung kennt, zu einem primitiveren Standpunkt zurückschrauben müsse, ein schwieriges Experiment, dem zum Trotz die dichterische Schilderung vergangener Zeiten fast immer nur die Sitten oder wenigstens die Ansichten der Zeitgenossen darstellte. Er war nicht geschaffen, in alten Chroniken mühsame Gelehrsamkeit zu sammeln, sondern unter dem freien Himmel, auf dem Terrain der Gegenwart, seine Studien zu machen und Studienköpfe zu zeichnen.
»Die Physiologie der Ehe«, das erste Aufsehen erregende Werk Balzacs, gab auf das unschuldige Buch Brillat-Savarins »La physiologie du goût« anspielend oder daran anknüpfend, eine halbwegs lustige, fast wissenschaftliche, immerhin jedoch brutale Analyse der geselligen Einrichtung, die in der französischen Litteratur seit unvordenklichen Zeiten als Zielscheibe des Witzes, als Gegenstand der |189| ironischen Huldigung und schonungslosen Untersuchung, kurz als offene Wunde der Gesellschaft behandelt ward, und die hier als tragikomische soziale Notwendigkeit nicht so sehr an und für sich verteidigt, als gegen die derselben drohenden Gefahren, die auflösenden Elemente, Launen und Leidenschaften, durch gute Ratschläge geschützt wird. Die Ehe ist Balzac besonders als das Schlachtfeld zweier Egoismen interessant; durch die grenzenlose Welt der Sympathien und Antipathien, die das Gebiet der Ehe ausmacht, stürzt er sich mit der Rücksichtslosigkeit eines wilden Ebers; er durchwühlt und beschnüffelt Alles. Die französische Ehe ist immer eine ziemlich äußerliche Einrichtung gewesen; kein Wunder, daß Balzac vor ihren Mysterien keine Ehrfurcht hegt. Er spricht sich über dieselben mit Molièrescher Derbheit aus; doch zeigt er sich schon hier in dieser frühen Schrift weit weniger frisch, weit pessimistischer und weit materialistischer als Molière. Das Buch ist voll guten, wenn auch groben Witzes, voll lustiger Anekdoten, oft reizend durch den Gegensatz, den der Professoren- und Beichtvater-Ton des jugendlichen Doktors der ehelichen Wissenschaft mit dem verfänglichen Inhalt bildet; aber es ist trotz alledem in erster Linie ein Werk der frühen Enttäuschung und ganz gewiß für die große Mehrzahl der Frauen ein widerliches Werk. Nichts von dem, was in Balzac von hochherziger und edler Gesinnung war, ist hier zu Worte gekommen; nur seine Begabung für die rücksichtslose Analyse glänzt. Es ist aber, als ob dies Buch, in dem die Ader seines Talents sich öffnete, ihn für lange, lange Zeit von allem bösen Blut befreit habe. Von jetzt an läutert sich seine Weltanschauung, oder richtiger, sie teilt sich in eine ernsthafte und in eine scherzhafte; was in der »Physiologie du mariage« noch in ein unerquickliches Ganzes zusammengeronnen war, die ernste Auffassung des Menschenlebens und die sinnlichcynische Betrachtung desselben, sondert sich von einander ab, wie Trauer- und Schauspiel. In demselben Jahr, 1831, schreibt er seinen ersten philosophischen Roman »La Peau de Chagrin«, der |190| seinen Ruf als Dichter begründete, und beginnt mit »La belle Impéria« die lange Reihe seiner »Contes drôlatiques«, d.h. eine Sammlung Novellen in dem Stil der freiesten »Contes« der Renaissancezeit, die mit den Novellen Boccaccio’s und der Königin Marguerite, mit den Anekdoten Brantôme’s geistig verwandt und sprachlich am nächsten von Rabelais inspiriert ist. In moderner Form würden diese Erzählungen platt und schmutzig erscheinen, durch die wunderbare, naiv-altertümliche Sprache, die in noch höherem Grade alsdie strengste metrische Form den Inhalt kunstlerisch adelt, sind diese Apotheosen des körperlichen Lebens echte Kunstwerke geworden, heiter wie die Scherze eines jener weltlich gesinnten, fröhlichen Mönche, die in den Volkslegenden aller Länder verherrlicht werden.
In einem der meisterhaft geschriebenen Prologe dieser Novellensammlungen erzählt der Verfasser, daß, als er in den Jahren der Jugend seine Axt, das heißt seine Erbschaft verloren hatte und sich völlig entblößt fand, er wie der Holzhauer in dem Prologe zu dem Buche seines lieben Meisters Rabelais zum Himmel geschrieen habe, in der Hoffnung, von dem edlen Herrn dort oben erhört zu werden und eine andere Axt zu erhalten. Da wurde ihm durch Merkur ein Schreibzeug zugeworfen, auf welchem die drei Buchstaben »AVE« graviert waren. Er drehte und wendete so lange das himmlische Geschenk, bis er die Worte von rückwärts »EVA« las. Was war aber Eva? was anders als alle Frauen in einer? Also war durch eine göttliche Stimme dem Autor gesagt: »Denke an die Frau, die Frau wird deinen Kummer heilen, deine Jagdtasche füllen, sie ist dein Gut, dein Eigentum. Ave, sei gegrüßt! Eva, o Frau!« Das hieß, es gelte für ihn, durch tolle und amüsante Liebesgeschichten ein Lächeln der vorurteilsfreien Leser zu gewinnen. Und das ist ihm gelungen. Nie hat sein Stil einen solchen Glanz und eine solche Vegeisterung erreicht; Rubens hat nicht kühnere und reichere Farben und keine so herkulische Heiterkeit in seinen Darstellungen dreister Faunen und betrunkener Bacchantinnen.
|191| Von keinem Meister der Sprache wird hier seine sprachliche Kunst übertroffen.*)*
»La Peau de Chagrin« ist Balzacs erster dichterischer Waffengang mit der Wirklichkeit seines Zeitalters; es ist ein buntes, lebhaftes, keimenreiches Buch, das so zu sagen anticipando durch große einheitliche Symbole jenes umfassende Bild der modernen Gesellschaft zu geben versucht, welches erst die Gesamtheit der Werke Balzacs annähernd darstellen sollte. In eine wunderbare phantastische Beleuchtung gerückt erscheinen hier die Extreme des modernen Lebens, das Spielhaus und das Boudoir der Modedame, die Zelle des Gelehrten und der Luxus des Reichen, die sehnsuchtsvolle und hoffnungslose Armut des jungen Talents, das sich von der Fülle der irdischen Güter ausgeschlossen sieht, die Orgien der Journalisten |192| und Courtisanen, endlich in den weiblichen Hauptgestalten der Kontrast von Welt und Herz. Die Schilderungen sind mit breitem Pinsel gemalt; das Ganze besteht aus wenigen an einander gereihten farbenschillernden Tableaux, es ist mehr Philosophie und Symbolik als individuelle Gestaltungskraft darin. Dem armen jungen Helden, der im Begriff steht, Selbstmord zu begehen, wird von einem uralten Trödler ein Stück Eselsfell geschenkt, welches weder Feuer noch Eisen zerstören kann. Dem Besitzer, dessen Leben von dem Bestand des Felles abhängig wird, sichert es die Erfüllung jedes Wunsches, aber für jeden erfüllten Wunsch wird es um einige Linien verkleinert. Die Überredungskunst einer außerordentlichen Phantasie hat es vermocht, das Übernatürliche in diesem tiefsinnigen Symbol glaubhaft zu machen; Balzac hat es verstanden, dem Phantastischen eine Form zu geben, in welcher es mit den Elementen der modernen Wirklichkeit sich noch vermischen kann. Die Lampe Aladdin’s thut, wenn sie gerieben wird, unmittelbar Wunder, sie ersetzt (selbst bei Oehlenschläger) die natürliche Kausalität – anders das Chagrinfell; es richtet nichts aus, es sichert nur den Erfolg und zieht sich dabei immer mehr zusammen, schwindet immer mehr; es scheint aus dem Grundstoffe gemacht, aus dem unser Leben besteht. »Der Mensch,« sagt Balzac, »erschöpft sich in zwei instinktiven Handlungen, durch welche die Quellen seiner Existenz versiegen. Zwei Verben drücken alle Formen aus, welche diese zwei Ursachen seines Todes annehmen, Wollen und Können. Das Wollen brennt uns aus und das Können vernichtet uns.« Das heißt: Wir sterben zuletzt, weil wir uns täglich töten. Das Fell wird ebenso wie wir, durch Wollen und Können vernichtet. Mit wirklicher Tiefe zeigt das Buch durch die energische Darstellung des Grundtriebs der ganzen Generation, aus der Fülle und über alle Maßen das Leben empfinden zu wollen, welche Leere in der Befriedigung gähnt, und wie der Tod aus der Erfüllung der Begierden hervortritt Jugendlich, fruchtbar, gedankenreich und abstrakt-melancholisch wie |193| alle Bücher, die ein Genie vor der Detailerfahrung schreibt, machte »La Peau de Chagrin« auch außerhalb der Grenzen Frankreichs Aufsehen. Goethe las es noch in seinem letzten Lebensjahre. Bei Riemer (der naiv genug Victor Hugo für den Verfasser hält) sagt Goethe am 11. Oktober 1831: »Ich las »La Peau de Chagrin« weiter. Es ist ein vortreffliches Werk neuester Art, welches sich jedoch dadurch auszeichnet, daß es sich zwischen dem Unmöglichen und Unerträglichen mit Geschmack hin und her bewegt und das Wunderbare als Mittel, die merkwürdigsten Gesinnungen und Vorkommenheiten vorzuführen, sehr konsequent zu brauchen weiß; worüber sich im Einzelnen viel Gutes würde sagen lassen.« In einem Brief vom 17. November 1831 schreibt er ferner über »La Peau de Chagrin«: »Das Produkt eines ganz vorzüglichen Geistes deutet auf ein nicht zu heilendes Grundverderbnis der Nation, welches immer tiefer um sich greifen würde, wenn nicht die Departements, die jetzt nicht lesen und schreiben können, sie dereinst wieder herstellen, insofern es möglich wäre.«*)*
Das Buch enthält nicht wenig Selbstbiographisches. Aus eigener Erfahrung kannte Balzac die Empfindungen des armen Jünglings, der von seiner Manfarde aus in seinem einzigen Paar weißseidener Strümpfe und eleganter Schuhe über die schmutzigen Steine balanzierend sich zum Balle begiebt, in tötlicher Angst, von einem vorüberrollenden Wagen bespritzt und dadurch des Anblicks der Geliebten beraubt zu werden. Interessanter ist jedoch die Summe innerer Erfahrung, die in dem Werke niedergelegt ist und die sich folgendermaßen ziehen läßt: Die Gesellschaft verabscheut Unglück und Schmerz – sie fürchtet sie wie ansteckende Krankheiten. Wie majestätisch auch ein Unglück sei, die Gesellschaft versteht es zu verringern, es durch ein Epigramm ein wenig lächerlich zu machen; nie hat sie mit dem gefallenen Gladiator Mitleid. Kurz, |194| die Gesellschaft erscheint Balzac gleich von Anfang an von jeder höheren religiösen oder moralischen Idee verlassen; sie läßt die Alten, die Armen, die Kranken allein, sie huldigt dem Erfolg, der Stärke, dem Gelde, sie verträgt kein Unglück, aus dem sie nicht einen Vorteil oder Nutzen ziehen kann. Ihre Devise ist: Tod dem Schwachen!
Vor Balzac hatte der Roman wesentlich ein einziges Gefühl, die Liebe, zum Gegenstande gehabt. Er sah mit seinem genialen Blick, daß durchaus nicht die Liebe, sondern vielmehr das Geld die Gottheit der Zeitgenossen war. Deswegen ist das Geld oder vielmehr der Mangel an Geld, das Bedürfnis des Geldes, in seinen Büchern die Angel der Gesellschaft. Dieser Griff war kühn und neu. In einem Roman, in der Poesie mit völliger Genauigkeit die Einnahmen und Ausgaben der Personen anzugeben, überhaupt von dem Gelde als einer Hauptsache zu sprechen, das war unerhört, profaisch, roh; denn es ist immer roh, das zu sagen, was alle meinen oder denken, und was man deswegen bisher zu verhehlen oder zu leugnen einig war, vor allem in einer Kunst, die oft genug als die der schönen Lüge aufgefaßt worden.
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