Angesichts ihrer Person und ihrer Dichtung erhebt sich nun unter den Zeitgenossen der Mann, dessen Kunst George Sand selbst als den Gegensatz zu der ihrigen definierte. Während sie, in diesem Punkte echt romantisch, sich mit Unwillen von der Gesellschaftsordnung ihrer Zeit abwandte, mehr geneigt, sie zu verdammen, als sie zu erfassen und zu schildern, fühlte er sich, wenn auch nicht wohl zu Mute, so doch vollständig daheim in seiner Umgebung und betrachtete fast vom ersten Schritt an seine Generation und das nächstvorhergehende Geschlecht als sein künstlerisches Eigentum, als seine unerschöpfliche Fundgrube. George Sand war eine große Menschendarstellerin und eine beinahe noch größere Landschaftsmalerin; sie zeichnete die Menschheit, wie ein Landschaftsmaler die Pflanzen. Sie stellte von dem Menschenwesen das dar, was sich im Lichte badet und das Licht verträgt. Der Gesichtspunkt Balzacs war der entgegengesetzte: auf ihn paßt, was in dem Gedichte Victor Hugos in der »Legende der Jahrhunderte« von dem Satyr gesagt wird:
In der üppigen, fruchtbaren Provinz Touraine, »dem Garten Frankreichs« der Geburtsgegend Rabelais’, wurde Honoré de Balzac an einem Frühlingstag 1799 geboren, eine sprudelnd reiche, vollkräftige, heißblütige und erfinderische Natur. Zugleich grob und zärtlich, derb und feinfühlend, bei gleicher Anlage zu ahnungsvollen |176| Träumen wie zu haarscharfem Beobachten, vereinte er in seinem sehr zufammengesetzten Wesen die Fähigkeit, tief und innig zu empfinden mit der Begabung des genialen Spähers, den Ernst des Forschers mit der heiteren Laune des Erzählers, die Genialität des Entdeckers mit dem Trieb des Künstlers, dem Beobachteten, Gefühlten, Entdeckten, Erfundenen den nackten und schamlosen Ausdruck zu geben. Wie kein Anderer war er geschaffen, die Geheimnisse der Gesellschaft und der Menschheit zu erraten und auszuplaudern.
Kräftig gebaut, mittelgroß, breitschulterig, plump, mit den Jahren zur Beleibtheit neigend, hatte er einen schweren, athletischen Hals, weiß wie der einer Frau, schwarze Haare, so straff wie Pferdehaar, endlich ein paar Löwenbändigeraugen, die wie zwei schwarze Diamanten strahlten, Augen, welche durch oie Mauern sahen, was in den Häusern vor sich ging, welche in den Herzen der Menschen lasen, wie in einem offenen Buch. Er hatte die Gestalt eines Sifyphus der Arbeit.
Arm und einsam kam Balzac als Jüngling nach Paris, von der unwiderstehlichen Neigung zur Litteratur und der Hoffnung, sich einen Namen zu erwerben, geleitet. Der Vater, der, wie alle Vater, es höchst ungern sah, daß der Sohn, dem Niemand Genie nachsagte, die juristische Laufbahn für die litterarische aufgab, hatte ihn fast gänzlich sich selbst überlassen. So saß er denn in seinem ungemütlichen Dachzimmer, von Niemand bedient, fröstelnd, in seinen Plaid gewickelt, mit dem Kaffeetopf zur einen, dem Tintenfaß zur anderen Seite, und sah über die Dächer der ungeheuren Stadt, die zu schildern und geistig zu erobern er ausersehen war. Die Aussicht war weder weit noch schön, moosbewachsene Ziegel, bald von der Sonne bestrahlt, bald vom Regen gebadet, Dachrinnen, Schornsteine und Schornsteinrauch. Das Zimmer war weder behaglich noch hübsch, der kalte Wind pfiff durch Thür und Fenster. Den Fußboden zu fegen, die Kleider zu klopfen, mit größter Sparsamkeit die nötigsten Einkäufe zu machen, das waren die Beschäf|177|tigungen, mit welchen der junge Poet, der sich mit dem Plan zu einer großen Tragödie »Cromwell« trug, jeden Tag, den Gott gab, einweihen mußte. Seine Erholung war ein Spaziergang auf den nahen Kirchhof Pere Lachaise, von dem man Paris überschaut. Von diesen Höhen hat der junge Balzac, der gewaltigen Hauptstadt, sie (wie später sein Rastignac) mit den Augen messend, die trotzige Wette angeboten, daß sie einst seinen unbekannten Namen zu nennen und zu krönen gezwungen werden solle.
Die Tragödie gab er bald auf; seine Begabung war allzu modern, allzu sehr auf das Konkrete angelegt, um sich mit den Regeln und Abstraktionen des französischen Trauerspiels abfinden zu können. Außerdem galt es für den jungen, aus dem väterlichen Hause nur, so zu sagen, versuchsweise entlassenen Einsiedler, sich möglichst schnell die Unabhängigkeit zu sichern. Er warf sich auf die Massenproduktion von Romanen. Er hatte noch nichts erlebt, was seinen Büchern Gehalt und wirklichen Wert geben konnte, aber er besaß eine rege, ewig gebärende Einbildungskraft, er hatte genug gelesen, um den Erzeugnissen derselben eine leidliche Form, wie sie für Unterhaltungsstoffe die gewöhnliche war, mitgeben zu können. Schon im Jahre 1822 veröffentlichte er unter verschiedenen Pseudonymen nicht weniger als fünf solcher Romane; in den Jahren 1828–25 folgten weitere, die er trotz all’ seines Selbstgefühls ohne jegliche Überhebung nur von dem pekuniären Gesichtspunkt aus beurteilte. Er schreibt 1822 an seine Schwester: »Ich schickte dir Birague nicht, weil es eine wahre litterarische Cochonnerie ist […] in Jean Louis wirst Du einige recht drollige Scherze und eine Art Charaktere finden, aber der Plan ist abscheulich. Das einzige Verdienst dieser Bücher, Liebste, sind die tausend Francs, die sie mir einbringen; aber die Summe ist mir nur in Wechseln auf lange Sicht gegeben worden. Wird sie bezahlt werden?« Wer ein paar dieser Erstlingswerke Balzacs durchgepflügt hat, wird sein Urteil nicht zu hart finden. Sie haben eine gewisse |178| »verve«, das ist all’ das Gute, was sich von ihnen sagen läßt. Ob das Verdienst, das Balzac ihr einziges nennt, jemals ein volles und wirkliches wurde, ist sogar sehr zweifelhaft, nicht allein weil die Schilderungen, welche Balzac in seinen Romanen von Verlegern giebt, die mit Wechseln honorieren (man vergleiche Un grand homme de province à Paris), eine wenig schmeichelhafte ist, sondern weil wir sehen, daß er im Jahre 1825 in Verzweiflung über seine gedrückte Lage plötzlich die Idee erfaßt, die litterarische Produktion vorläufig aufzugeben und als Buchhändler und Buchdrucker sich sein Brot zu verdienen.
Er, dessen Gehirn unaufhörlich Plane jeder Art ausheckte, kam auf den Einfall, einbändige Klassiker-Ausgaben zu veranstalten, und war überzeugt, daß man mit solchen damals noch nicht vorhandenen Ausgaben ein gutes buchhändlerisches Geschäft machen müsse. Diese an und für sich richtige Idee hatte jedoch das Schicksal, das allen späteren geschäftlichen Spekulationen Balzacs vorbehalten war, Andere zu bereichern und dem Urheber nur Verluste zu bringen. Genau so ging es ihm z. B., als er 1837 in Genua, unter seinen Schulden zusammenbrechend, zufällig auf die Idee kam, daß die Römer die von ihnen erschlossenen Silberminen auf Sardinien bei weitem nicht ausgenutzt hätten. Er teilte einem Genuesen diesen Gedanken mit und beschloß, die Sache zu verfolgen. 1838 unternahm er zu diesem Zweck eine schwierige und zeitraubende Reise nach der Insel, um die Schlacken der Bergwerke zu untersuchen, wobei er Alles ganz nach seiner Vermutung vorfand. Als er dann in Turin die Autorisation für die Ausbeutung nachsuchte, da zeigte es sich aber, daß jener Genuefe die Autorisation schon erworben hatte und auf dem besten Wege war, ein reicher Mann zu werden. Gewiß waren viele der in Balzacs Gehirn unaufhörlich auftauchenden praktischen Spekulationen chimärisch; aber doch verrät sich auch in diesem Punkt sein Genie. Wie Goethe so ganz und gar eine Natur in der Natur war, daß sein Dichterauge bei der zufälligen Betrachtung einer Palme das Geheimnis |179| der Metamorphose der Pflanze und bei der zufälligen Betrachtung eines halbzersprengten Schafschädels die Grundlage der philosophischen Anatomie entdeckte, so war Balzac so völlig Erfinder und Entdecker im Kleinen wie im Großen, daß er wie die Inspirierten im Mittelalter ein Vorgefühl hatte, wo Reichtümer verborgen seien, eine sich neigende Wünschelrute in der Hand führte, die sich dem Golde, dem anonymen, neutralen Helden seiner Werke, von selbst zuneigte. Freilich gelang es ihm nie, den Schatz zu heben; erwar eben ein Zauberer, ein Dichter – kein Geschäftsmann.
Schon in diesem ersten Falle war seine Idee so glücklich, wie sie umfassend war; denn er wollte auf einmal Schriftgießer, Buchdrucker, Buchhändler und Schriftsteller sein. Er schrieb selbst die Einleitungen zu seinen Klassikerausgaben und war für den schönen Plan Feuer und Flamme. Nachdem er seine Eltern überredet hatte, ihm einen großen Teil ihres Vermögens für seine Zwecke anzuvertrauen, nachdem es ihm gelungen war, Schriftgießerei und Buchdruckerei zu gründen und gute, einbändige, illustrierte Ausgaben von Molière und La Fontaine zu drucken, stellte es sich heraus, daß die französischen Buchhändler wie ein Mann gegen den Eindringling Front machten, durchaus nicht seine Ausgaben verbreiten wollten und ruhig seine ökonomische Vernichtung abwarteten, um ihrerseits seine Idee aufzunehmen und fruchtbar zu machen. Nach drei Jahren war er gezwungen, seine Bücher als Makulatur und seine Buchdruckerei mit schwerem Verlust zu verkaufen – er selbst hat die Leiden seines armen erfinderischen Buchdruckers David Sechard in »Eve et David« erlebt. Er ging aus dieser Krisis nicht allein als armer Mann, sondern mit Schulden derart belastet hervor, daß er sein ganzes Leben hindurch ohne Rast und Ruhe sich durch diesen Berg von drückenden Verpflichtungen durchzuarbeiten hatte, um sich Unabhängigkeit zu erkämpfen und das Vermögen seiner Mutter wieder herzustellen. Die Schulden, zu deren Tilgung er keine andere Waffe als die Feder besaß, wuchsen wie Lawinen, da er lange Zeit eine Verschreibung |180| nur durch eine andere decken konnte. So machte er die Bekanntschaft der verschiedenen Spezies der Pariser Wucherer, die er in Gobseck und den anderen verwandten Gestalten so typisch geschildert hat, und die Worte »Meine Schulden, meine Gläubiger!« werden der stehende Refrain seiner Tage und selbst der völlig intimen Briefe, in welchen das warme Herz, das tiefe, innige Gefühlsleben des ewig gehetzten Mannes sich auf rührende Weise äußern. »Gewissensbisse«, heißt es in einem seiner Romane, »sind nicht so schlimm wie Schulden, denn sie können Einen deshalb nicht ins Schuldgefängnis stecken.« Er lernte dasselbe nach vielen Jahren auch noch auf kurze Zeit kennen, und wie oft mußte er, um ihm zu entgehen, mehrere Zufluchtsorte haben, den Aufenthalt wechseln und sich seine Briefe unter falschen Adressen zustellen lassen. Poet, wie er war, lebte er mit seinen Schulden wie mit einer ewigen Quelle der Gemütserregungen, fühlte er täglich gleichsam einen Sporn des Fleißes und der Einbildungskraft, wenn der Gedanke an sie ihn weckte und er beim frühen Erwachen sie als Heuschrecken aus allen Ecken und über alle Möbel springen sah.
Mit Riesenkraft fing er an zu arbeiten, und arbeitete so zu sagen in einem Zuge seine Jugend und seine Mannesjahre hindurch, bis er, fünfzig Jahre alt, von Überanstrengung getötet zusammenstürzt, so plötzlich, wie der getroffene Stier in einer spanischen Arena. Daß das Schaffen ihm so wenig Genuß und so ganz Arbeit wurde, beruhte darauf, daß der nie geschwächte Trieb seiner Einbildungskraft, der unaufhörlich zum Hervorbringen von Werken drängte, von keiner Leichtigkeit der Formgebung, keiner angeborenen oder früh erworbenen stilistischen Fertigkeit unterstützt wurde. Er war den romantischen Dichtern in der Herrschaft über die Sprache nicht ebenbürtig. Er vermochte nie ein wohlklingendes Gedicht zu schreiben (die, welche in seinen Romanen vorkommen, sind von andern, von Madame de Girardin, Théophile Gautier, Charles de Bernard, Lassailly, verfaßt), und kein anderer als er selbst war |181| der Autor jenes vielverspotteten hiatenreichen Verses, mit welchem sein Louis Lambert eine Epopee über die Incas einleitet:
Er, der so viele pseudonyme Romane geschrieben und verworfen hatte, bevor er überhaupt sich einen Stil aneignete, bestand den härtesten und hartnäckigsten Kampf, um die französische Prosa in seine Macht zu bekommen, und es war eine der Sorgen seines Lebens, daß die jungen Romantiker, die Hugo folgten, ihn als Künstler lange Zeit nicht für voll ansahen. Der feinsühlende, bewundernde Gautier war der einzige, der ihn durch seine bereitwillige Anerkennung erfreute; aber nichts kam dem Erstaunen Balzacs gleich, wenn er den jungen Gautier ohne Vorbereitung oder Anstrengung, ohne ein Wort zu verbessern, irgend einen schönen, formvollendeten Artikel an dem Rande eines Pultes bei dem Buchdrucker schreiben sah; er glaubte anfangs, daß Gautier in seinem Kopfe den Aufsatz fertig gehabt hätte, bis es ihm klar wurde, daß es rücksichtlich der sprachlichen Behandlung ein angeborenes Talent gebe, das ihm fehle. Wie hat er gearbeitet, um sich diese Fähigkeit zu erwerben! wie hat er Gautier, als die plastische und malerische Kraft seines Stils ihm ausging, bewundert! Ein sonderbarer Beweis dafür läßt sich noch aus einem so späten Jahre wie 1839 erbringen, wo Balzac bei der Schilderung der weiblichen Hauptgestalten seines Romans »Beatrix« einige zwei Jahre früher erschienene Artikel Gautiers (über die Schauspielerinnen Mademoiselle Georges und Jenny Colon) fast wörtlich benutzt hat.*)*
|182| Man fühlt, wie gern sich Balzac etwas von dem künstlerischen Blick und der den ungewöhnlichen und distinguierten Worten Gautiers innewohnenden beschreibenden Kraft hat aneignen wollen, wie die Bezeichnungen, die er aus seinem eigenen Wortschatz hinzufügt, sich gegen die geborgten vulgär und schlaff ausnehmen. Auf dem Felde Gautiers mußte er notwendigerweise unterliegen. Die Ursache davon ist die, daß er auf ganz andere Weise sieht und empfindet. Gautier ist ein Schriftsteller ersten Ranges, aber trotz seiner großen poetischen Eigenschaften als Dichter kalt, bisweilen arm; er ist ein außerordentliches, den bildenden Künsten angehörendes Talent, das sich in die Dichtkunst hinein Verirrt hat. Balzac dagegen ist als Schriftsteller ganz untergeordnet, als Dichter nimmt er den höchsten Rang ein. Er kann seine Gestalten nicht in wenigen treffenden Worten charakterisieren, weil er sie nicht in einer einzelnen plastischen Situation vor sich sieht. Indem die von |183| seiner Phantasie geschaffenen Gestalten vor seinem inneren Auge aufsteigen, sieht er nicht nach und nach, sondern auf einmal ihr ganzes Äußeres in den verschiedensten Anzügen, er überblickt ihren ganzen Lebenslauf, schaut sie in den verschiedenen Stadien des Lebens, er beobachtet den vollen Reichtum ihrer Bewegungen und Gebärden, hört den besonderen Klang ihrer Stimme, und vor seinem inneren Ohre tönen, wie von einem Andern gesagt, Antworten, welche die Persönlichkeit so lebendig malen, daß, wenn wir sie hören, die Gestalt wie wirklich lebend auf zwei Beinen vor unsern Augen steht. Nicht eine einzelne, vielleicht feine aber trockene Ideenassoziation, z. B. die einer äginetischen ins, illustriert, wie bei Gautier, die Gestalt; nein, sie selbst ist von hunderttausend unbewußt zusammenströmenden Ideenassoziationen gebildet, reich wie die Natur selbst, wie der wirkliche Mensch, der physiologisch und psychologisch durch eine eigentümliche Mischung unzähliger körperlicher und geistiger Elemente als einziges Wesen besteht. Es ist fast unnötig, Beispiele der unvergleichlichen Kraft anzuführen, mit der Balzac es fertig bringt, durch einen Dialog oder einen Gestus, oder auch nur durch Sonderbarkeiten des Kostüms, der häuslichen Einrichtung u. s. w. in jedem gegebenen Augenblick eine Gestalt hervorzuzaubern, man müßte, wenn man es versuchen wollte, ein Buch mit Zitaten füllen.*)*
Aber |184| die Schwierigkeit für Balzac lag darin, daß er sehr oft den Reichtümern gegenüber, welche Gedächtnis und Intuition ihm darboten, ratlos dastand. Entweder drängt er allzu viele, nur für ihn selbst gültige Ideenverbindungen in zwei Worte zusammen, wie wenn er von einer unschuldigen Frau sagt, daß ihre Ohren »Sklavinnen- und Mutterohren waren«, oder er fühlte sich versucht, den ganzen Inbegriff der Beobachtungen und Einfälle, die bei der Vorführung einer erdichteten Persönlichkeit ihm zuströmten, nach einander aufzuzählen, er verlor sich in einen breiten, beschreibenden, räsonnierenden Stil, der doch nichts deutlich machte, weil in seinem Geist, so zu sagen, die elektrische Leitung, welche die dichterische Halluzination mit den Organen der dichterischen Beredtsamkeit verbindet, mangelhaft und zeitweise wie unterbrochen war. Zehnfache Arbeit mußte dann für die von ihm selbst tief empfundene Schwerfälligkeit Buße leisten.Da er nun in jenen Tagen der Kollaboration nie einen Mitarbeiter für seine Romane und niemals auch nur einen Sekretär hatte, begreift man, welche Resignation und welche Kraftanstrengung notwendig war, um in zwanzig Jahren die mehr als hundert größeren und kleineren Romane und Dramen zu produzieren, die von jetzt an seinem Gehirn entspringen.
Während Hugo schreibt, ungefähr wie Raphael malte, von einer Schar junger Bewunderer und Schüler umgeben, lebt Balzac isoliert in seiner dichterischen Werkstatt. Er gönnt sich wenig Schlaf. Zwischen sieben und acht Uhr geht er zu Bett, steht um Mitternacht auf und schreibt in seiner weißen Dominikanerkutte mit einer goldenen Kette als Gürtel, bis der Morgen graut, eilt dann, da seine Konstitution der Bewegung bedarf, selbst zur Druckerei, um das Geschriebene abzuliefern und die Korrektur zu besorgen. Es sind nicht gewöhnliche Korrekturen. Er braucht acht bis zehn für |185| jeden Bogen, eben weil die Sicherheit des Ausdrucks ihm fehlt und er nicht gleich die endgültige Form zu finden weiß, weil zuerst das Gerippe seiner Erzählung fertig ist und er erst nach und nach die Beschreibung und die Details der Dialoge erfindet. Die Hälfte, anfangs manchmal mehr als die Hälfte seines Honorars, giebt er in Korrekturkosten aus, ohne daß jemals das härteste Bedürfnis ihn bewegen kann, ein Werk erscheinen zu lassen, bevor es ihm so vollendet vorkommt, wie er es zu machen vermag. Er ist die Verzweiflung der Setzer, aber die Korrekturen sind ihm selbst die peinlichste Sorge. Der erste Entwurf wird mit großen Zwischenräumen zwischen den Absätzen und mit mächtig breiten Rändern gesetzt, und diese füllen und überfüllen sich nach und nach, bis der ganze Korrekturbogen mit seinen nach rechts und links, nach oben und unten ausgehenden Radien, Bogen, Strichen und Sternen sich ungefähr wie ein Feuerwerk ausnimmt. Dann sieht man wieder die schwere, unordentlich angekleidete Gestalt mit dem weichen buckligen Hut und den leuchtenden Augen von der Druckerei nach Hause eilen, während manch einer aus der Menge, der das Genie in ihm ahnt, auf seinem Wege scheu und ehrfurchtsvoll zur Seite weicht. Neue Arbeitsstunden folgen. Zuletzt schließen noch vor dem Diner entweder ein Besuch bei einer schönen geistvollen Dame oder eine Razzia in Antiquitätenläden, um seltene Möbel und alte Gemälde zu entdecken, den arbeitsamen Tag, und erst gegen Abend sucht der energische Arbeiter wieder Ruhe.
»Bisweilen«, erzählt Théophile Gautier, »kam er am Morgen zu mir, stöhnend, erschöpft, schwindelig von der frischen Lust, wie der aus seiner Schmiede entflohene Vulkan, und ließ sich auf das Sopha fallen; sein langes Nachtwachen hatte ihn ausgehungert, und er stieß Sardinen mit Butter zu einer Art Pommade, die ihn an ein gehacktes Gericht aus seinem Tours erinnerte und die er auf Brod strich. Das war seine Lieblingsspeise; er hatte nicht so bald gegessen, als er mit der Bitte, ihn in einer Stunde zu wecken, ein|186|schlief. Ohne mich um die Weisung zu kümmern, respektierte ich diesen so wohl verdienten Schlaf und sorgte dafür, daß kein Lärm im Hause ihn störte. Wenn er dann von selbst erwachte und die Abenddämmerung ihren grauen Schleier über den Himmel breiten sah, sprang er empor und überhaufte mich mit Schimpfworten, nannte mich Verräter, Dieb, Mörder; ich sei Schuld, daß er zehntausend Francs verliere, denn wach hätte er die Idee zu einem Roman haben können, der ihm diese Summe eingebracht hätte (von der zweiten und dritten Auflage gar nicht zu sprechen); ich sei Schuld an den fürchterlichsten Katastrophen und Unordnungen; ich hätte ihn die verschiedensten Stelldichein mit Bankiers, Verlegern, Herzoginnen verfehlen lassen; er werde an den Verfalltagen insolvent sein, dieser fatale Schlaf koste ihn Millionen – ich tröstete mich, indem ich seine frische Touraine-Farbe auf seine fahlen Wangen zurückkehren sah.«
Wenn man ein vor einigen Jahren erschienenes bibliographisches Werk,*)*
welches erlaubt Tag für Tag die Arbeit Balzacs zu verfolgen, als Leitfaden benutzt, wenn man zugleich in seinen Briefen beobachtet, wie er, ohne sich jemals von den Zerstreuungen des Pariser Lebens stören oder von den litterarischen Gewehrsalven seiner Neider und Kritiker erschrecken zu lassen, mit fester Hand Stein für Stein die Pyramide seines Lebenswerkes aufgeführt hat, nur besorgt, dieselbe so breit und hoch wie möglich zu machen, bekommt man Respekt vor dem Manne und seinem Mut. Der gutmütige, vierschrötige, polternde Balzac war kein Titan; er nimmt sich in jener Generation der den Himmel erstürmenden Titanen und Titaninnen wie an die Erde gebunden aus, aber er gehört der Rasse der Cyklopen an; er war ein gewaltiger, über Riesenkräfte verfügender Baumeister, und der ungeschlachte, hämmernde, Steine fügende Cyklop reichte zuletzt mit seinem Gebäude eben so hoch, wie |187| die großen lyrischen Genien Victor Hugo und George Sand aus ihren Flügeln sich erhoben.Er hat nie an seiner erstaunlichen Begabung gezweifelt; ein Selbstvertrauen, das dem Talente entsprach, das sich als naive Großsprecherei, aber nie als kleinliche Eitelkeit äußern konnte, trug ihn durch die Jahre der ersten Anstrengungen hindurch, und in den Augenblicken des Mißmuts, der Entmutigung, die in keinem Künstlerleben fehlen, wurde er, wie seine Briefe ahnen lassen, von treuer heimlicher Liebe getröstet und beglückt. Eine Frau, deren Namen er seinen Freunden niemals nannte und von der er immer nur mit der höchsten Verehrung wie von einem »Engel«, einer »sittlichen Sonne« spricht, die ihm mehr war »als eine Mutter, mehr als eine Freundin, mehr als ein Geschöpf dem andern sein kann«, hielt ihn durch Wort und That, durch aufopfernde Hingebung in allen Stürmen seiner Existenz aufrecht. Er hatte, scheint es, sie schon 1822 kennen gelernt, und zwölf Jahre hindurch (sie stirbt 1887) hat sie, wie er kurz vor ihrem Tode schreibt, es verstanden, »der Geselligkeit, der Familie, den Pflichten, allen Hemmnissen des Pariser Lebens« alltäglich zwei Stunden zu rauben, um sie, ohne daß jemand davon wußte, mit ihm zu verbringen.*)*
Balzac, der im Loben immer überschwenglich ist, muß sich in der Liebe notwendigerweise in starken Ausdrücken ergehen; was aber Beachtung verdient, ist die hier bei dem sonst als cynisch und sinnlich verschrieenen Manne erscheinende Zartheit der Gefühle, die einer Anbetung ähnliche Bewunderung und Dankbarkeit, welche die Form der wahren Liebe bei ihm ist.Du kan slå ord fra Brandes' tekst op i ordbogen. Aktivér "ordbog" i toppen af siden for at komme i gang.