Die romantische Schule in Frankreich (1883)

|[143]| XI.

»Ich glaube« sagt George Sand in der Einleitung zu »La mare au diable«, »daß die Mission der Kunst eine Mission des Gefühles und der Liebe ist, und daß in unseren Tagen der Roman die Parabeln und Fabeln der kindlichen Zeiten ersetzen sollte. Das Ziel des Künstlers sollte sein, Liebe zu den Gegenständen, die er schildert, zu erwecken, und ich meinesteils würde ihm keinen Vorwurf machen, wenn er sie ein wenig verschönte.Die Kunst ist nicht ein Studium der gegebenen Wirklichkeit, sondern ein Suchen nach der idealen Wahrheit.« – Was die reife Frau hier als Summe ihrer Ästhetik ausspricht, hat ihr schon seit ihrer Jugend vorgeschwebt. Sie hatte den Beruf des Schriftstellers nie anders aufgefaßt als gleich der Erhebung zu dem Höchsten, was der Mensch erreichen kann, oder besser als ein Emporschwingen der Seele über die Unvollkommenheit des Gesellschaftslebens, um ihr einen weiteren Gesichtskreis und dadurch, wenn sie wieder zur Erde zurückkehre, überlegene Kraft zu geben, die Vorurteile, die Institutionen, die Gemütsroheit und Herzenshärte zu bekämpfen, woraus all’ jene Unvollkommenheit entsprang.

In der Einleitung zu »Le compagnon du Tour de France« sagt sie: »Seit wann ist der Roman denn gezwungen, nur ein Gemälde von dem zu sein, was ist, von der harten, kalten Wirklichkeit, wie sie die Menschen und Verhältnisse der Gegenwart darbieten? Ich weiß recht gut, daß er es sein kann; und Balzac, ein Meister, vor dem ich mich stets beugte, hat »La comédie humaine« |144| geschrieben. Aber obschon ich durch Freundschaftsbande mit diesem berühmten Mann verbunden war, betrachtete ich doch das menschliche Geschick von einem ganz anderen Standpunkt, und ich erinnere mich, zu ihm gesagt zu haben: Sie schreiben »Die menschliche Comödie.« Der Titel ist bescheiden. Sie könnten ebenso gut sagen »das Drama« oder »die Tragödie der Menschheit.« – »Ja,« antwortete er mir, »und Sie Ihrerseits schreiben das Epos der Menschheit.« – »Der Titel,« wendete ich ein, »würde im Gegenteil zu erhaben sein. Doch möchte ich gerne das menschliche Hirtengedicht, den menschlichen Roman oder die menschliche Dichtung im allgemeinen schreiben Kurz und gut, Sie wollen und können den Menschen malen, wie er sich vor Ihren Augen zeigt. Wohl! Aber ich fühle mich berufen, das zu malen, von dem ich glaube, daß es so sein soll.« Und da wir nicht mit einander konkurrierten, erkannte bald Jeder von uns das Recht des Andern an.«

Diese Äußerung erschien als Protest gegen die Beschuldigung, den niederen Gesellschaftsklassen durch Schönmalerei schmeicheln zu wollen; daher ihre zugespitzte Form, daher der doktrinäre Ausdruck, den George Sand dem Idealismus ihrer Natur giebt. Gewiß war George Sand von Anfang bis zu Ende durch und durch Idealistin; aber dennoch war es keineswegs die Lust, die Menschen zu schildern, wie »sie sein sollen«, welche ihr die Lippen öffnete, sondern vielmehr der Trieb, zu schildern, was die Menschen sein könnten, wenn die Gesellschaft nicht ihr geistiges Wachstum hemmte, sie verderbte und ihr Glück vernichtete; und die Repräsentanten der »Gesellschaft« wurden darum ohne Schonung preisgegeben. George Sand wollte ursprünglich ein Bild geben von dem Leben, wie es ist, von der Wirklichkeit, die sie erlebt und beobachtet hatte; nur entsprang das, was sie malte, der Weltanschauung des weiblichen Enthusiasmus. Das Segment, welches sie sah, war ein Stückchen Erde mit Himmel darüber. Ihr Scharfbrick war der Scharfblick eines Lyrikers.

|145| Jenes Zeitalter war von einer ungeheuren Produktivität. Victor Hugo, Balzac, Alexander Dumas veröffentlichten ein Werk nach dem anderen. Bei dem letzteren artete die litterarische Thätigkeit schließlich in eine förmliche Buchsabrikation aus; er gab vier bis fünf Romane gleichzeitig heraus und lieferte unter Beihilfe zahlreicher Mitarbeiter jährlich eine stattliche Reihe von Büchern. Auch George Sands Produktionstrieb war außerordentlich. Ihre sämtlichen Werke machen ungefähr 110 enggedruckte Bände aus. Es kann keine Rede davon sein, eine Übersicht von allen zu bringen. Was ich beabsichtige, ist nur, die Hauptpunkte aus den bedeutendsten Werken, sowie die Ideenströmungen, welche durch dieselben – als bleibende Ausbeute der Bücher, selbst wenn ihre Einzelnheiten vergessen sind – hindurchgehen, hervorzuheben.

Die Lebensverhältnisse, welche hinter der ersten Gruppe von George Sands Romanen liegen, sind bekannt. Sie wurde 1804 geboren. Früh verlor sie ihren Vater; eine leidenschaftliche und unvernünftige Mutter und eine feine, verständige Großmutter waren ihr geblieben. Ihre Jugendjahre brachte sie auf dem Gute Nohant in Berry zu. Hier tummelte sie sich in frischer Luft; sie liebte die freie Natur und verkehrte mit Bauernkindern wie mit ihresgleichen. Sie war demokratisch, aber deshalb nicht weniger romantisch angelegt. Wie Chateaubriand in seiner frühen Jugend sich das Bild eines ideal schönen Weibes schuf, von dem er stets träumte, so formte sich George Sand in ihren frühesten Phantasien das Bildnis eines Helden, dem sie einen Altar von Stein und Moos in einer Ecke ihres Gartens errichtete und dem sie mit einer üppigen Erfindungsgabe zahlreiche Großthaten beilegte. Als sie mit dreizehn Jahren nach Paris in ein Kloster gebracht wurde, um dort erzogen zu werden, vermißte sie anfangs schmerzlich ihr freies Landleben, dann warf sie sich eine Zeit lang mit Feuereifer und Schwärmerei der Religion in die Arme. Dieser Aufschwung wurde noch vor ihrer Rückkehr nach Nohant von dem Interesse für Schauspielkunst und poetische |146| Studien abgelöst. Als erwachsenes junges Mädchen liest sie in ländlicher Umgebung zum ersten Male Rousseau und fühlt sich davon so getroffen, wie es der Fall ist, wenn man sein eignes Wesen plötzlich vor sich selbst erschlossen sieht. Sie wird Rousseau’s Schülerin, sie hört niemals auf, es zu sein.« Sein Natursinn und Naturkultus, sein Deismus, sein Glaube an die Gleichheit und seine Liebe zu derselben, seine trotzige Haltung gegenüber der sogenannten civilisierten Gesellschaft entsprachen ihren eigensten Neigungen und anticipierten gleichsam Gefühle, die auch in ihrer Seele schlummerten. Die Werke von Shakespeare, Byron, Chateaubriand rissen sie hin und entrückten sie ihrer Umgebung so, daß sie sich trotz derselben vereinsamt fühlte; da entstand in ihr jene abstrakte Melancholie, welche in jungen, leidenschaftlichen Seelen der Schwermut über die wirklichen Täuschungen vorauszugehen pflegt. Daß das solcherweise entwickelte junge Wesen – kräftig, überlegen, reich und in seinem Suchen unselbständig – in dem Zusammenleben mit einem einzelnen Mann, und stünd’ er durch Charakter und Anlagen noch so hoch über ihr, niemals Genüge hätte finden können, ist unzweifelhaft. Sie wurde im Jahre 1822 mit einem Herrn Dudevant vermählt, einem ganz gewöhnlichen Landjunker, weder schlechter noch besser als die Mehrzahl seinesgleichen. Er war roh und hitzig, gänzlich außer Stande, seine Frau zu verstehen; aber er hätte augenscheinlich ein viel besserer Ehemann sein dürfen, ohne daß dies dem unvermeidlichen Ausgang ein anderes Gepräge gegeben haben würde. Nur die ersten drei Jahre dieser Ehe gingen ohne Unruhe und Zerwürfnisse hin. Schon von 1825 an scheint George Sand ihren Manns völlig übersehen und, bei dem lebhaften Hang ihrer Natur zu Sympathien, Freundschaftsverbindungen mit anderen Männern geschlossen zu haben, da sie sich in ihrem Hause gekränkt und geistig mißhandelt fühlte. Herr Dudevant, der Ehemann genug war, um über die geistige Unabhängigkeit seiner Frau aufgebracht zu werden, wie er zugleich eine viel zu unbedeutende Persönlichkeit war, um |147| Nutzen aus der geistigen Unselbständigkeit zu ziehen, welche jene dahin brachte, einen Führer und Wegweiser zu suchen, faßte sogar ihre unschuldigsten Sympathien als Pflichtübertretung auf. Jedes Gefühl der Gemeinsamkeit zwischen den Ehegatten löste sich allmählich unter unaufhörlichen ehelichen Zwisten und Reibereien auf. Selbst die beiden Kinder, die ihnen geboren wurden, konnten das Paar nicht zusammenhalten; 1831 zog George Sand allein nach Paris.

Durch den später geführten Scheidungsprozeß, wie auch durch George Sands Korrespondenz gewinnt man einen hinlänglichen Einblick in die Geschichte dieser Ehe. Ich habe in der Gazette des Tribunaux (30. Juli, 1. und 19. August 1836, 28. Juni, 12. Juli 1837) die advokatorischen Akten beider Parteien gefunden. Es waren furchtbare, schmähliche Anklagen, welche die geniale Frau sich von dem Advokaten ihres Mannes gefallen lassen mußte. Bald in einer schwarzen Sammetjacke, über welche ihre schönen Haare herabfielen, bald, nach der damaligen Mode, einen geblümten Shawl um die Schultern, hörte George Sand, ohne eine Miene zu verziehen, die Von Herrn Dudevant soufflierten Anklagen an, welche dessen Advokat ihr ins Gesicht schleuderte. Er beschuldigte sie, schon drei Jahre, bevor sie ihre Ehe eingegangen, eine verbrecherische Leidenschaft für einen anderen Mann gefaßt und derselben nachgegehen zu haben. »Herr Dudevant erfuhr bald, daß er von Der, welche er anbetete (!), verraten sei, war aber edelmütig genug, zu vergeben.« Der Advokat las einen langen Brief vor, den George Sand an ihren Mann geschrieben, worin sie ein Geständnis ablegte, sich verschiedene Fehler vorwarf und das Mißverhältnis zwischen ihnen Beiden von einer Verschiedenheit der Charaktere ableitete, welche Güte und Liebenswürdigkeit von seiner Seite nicht ausschloß. Aller Logik zuwider wußte der Advokat aus diesem Brief eine Selbstanklage wegen Untreue zu deducieren. Er entwickelte ferner, wie die Ehegatten von 1825–28 in einer freiwilligen Trennung gelebt, wie Madame Dudevant selbst, nachdem sie 1831 ihren Mann verlassen |148| um »ein Künstlerleben« zu führen, einen friedlichen Briefwechsel mit ihm unterhalten und 300 Franes jährlich von ihm empfangen hatte. (Er erwähnte nicht, daß sie ihm 500000 Francs als Mitgift zugebracht.) Zu Anfang 1885 hatten die Ehegatten endlich unter sich ein Übereinkommen dahin getroffen, die Kinder und das Vermögen zu teilen und einander volle Freiheit einzuräumen – als George Sand plötzlich, noch bevor die Übereinkunft in Kraft treten sollte, dieselbe brach und um Scheidung nachsuchte. (In der Zwischenzeit hatte nämlich Herr Dudevant aus Anlaß eines Streites um den Sohn sie schlagen wollen, ja, in Gegenwart von Zeugen sein Gewehr ergriffen und auf sie angelegt.) Trotz der scharfen Begründung ihres Gesuches wurde dasselbe, wie der Advokat erklärte, abgeschlagen. Doch nun war die Reihe zu klagen an Herrn Dudevantz er leugnete Alles, was ihm vorgeworfen wurde, und richtete die härtesten Beschuldigungen gegen seine Gattin; er behauptete, daß diejenige, welche so unmoralische Schriften, wie die ihrigen seien, verfaßt habe, unwürdig sei, seine Kinder zu erziehen; er beschuldigte sie, in »all’ die infamsten Geheimnisse der Ausschweifungen« eingeweiht zu sein. Auf Grund dieses, nach der Meinung des Advokaten vollberechtigten Angriffes sei es, daß George Sand nun von neuem um Scheidung nachsuche, und seine Rede kulminiert in dem Ausruf: »Es ist also Ihre Anschauung, Madame, daß eine Frau, wenn sie will, die Hälfte eines Vermögens durchbringen, das Leben ihres Gemahls mit Gram erfüllen kann, und wenn sie Lust fühlt, sich noch freier den zügellosesten Ausschweifungen zu überlassen, das einfache und bequeme Mittel zur Verfügung hat, ihn vor dem Richterstuhl anzugreifen, indem sie ihm eine odiöse Handlungsweise andichtet!«

Es muß hart für die stolze Frau gewesen sein, als beobachtete Zuhörerin während der Besudlung ihres Namens und ihres Lebens dazusitzen; es kann ihr kaum die Pein gelindert haben, daß sie unmittelbar danach vernahm, wie ihr Advokat und Freund, Michel |149| de Bourges, sie als Genie pries, wie er durch Vorlesen stilistisch merkwürdiger Proben aus ihren Briefen großen Eindruck machte, und wie er alle die Scheltworte samt den brutalen Handlungen aufzählte, deren sich ihr Mann gegen sie schuldig gemacht hatte. Wohl war sie gewohnt, von den Journalisten ihre Romane als ebenso viele schamlose Verteidigungsartikel für die Unsittlichkeit ausschreien zu hören; doch einen ungewohnten Eindruck mußte es auf sie machen, ihr Privatleben in dieser Weise geschildert zu sehen. Die öffentliche Verhandlung, mit der ihre Ehe schloß, giebt indes gleichsam einen Rückblick auf diese selbst und dadurch den Schlüssel, die Indignation zu verstehen, die ihren ersten Ausdruck in »Indiana, »Valentine«, »Lélia« und »Jacques« findet.

Diese Bücher bieten heutzutage nur geringes künstlerisches Interesse: die Charakterzeichnung ist in ihrem abstrakten Idealismus schwach, die Handlung unwahrscheinlich wie in »Indiana«, oder unwirklich wie in »Lélia«« und »Jacques«; der Vortrag ist trotz der vollständigen Harmonie des Stiles überspannt und deklamatorisch, in Briefen und Monologen nähert er sich der Form lyrischer Predigten. Und doch schlägt aus diesen Jugendromanen eine Flamme empor, die noch heutigen Tages leuchtet und erwärmt; und doch haben diese Bücher Töne angeschlagen, deren Echo erst spät verstummen wird. Sie klingen wieder von Klageliedern und Kriegsgeschrei; und wohin sie dringen, führen sie Gefühlskeime und Gedankensprößlinge mit sich, deren Trieb nur die Gegenwart hemmen konnte, die aber in der Zukunft sich mit einer Üppigkeit entfalten und ausbreiten werden, von welcher wir uns nur eine schwache Vorstellung zu bilden vermögen.

»Indiana« ist der erste Ausbruch von Bitterkeit und Schmerz in dem reichen, jungen Herzen. Das junge Weib ist lauter seelenvolle, adelige Feinheit, ihr Mann, Oberst Delmare, ein etwas gutmütigerer Herr Dudevant; Indiana’s liebreicher und enthusiastischer Sinn flüchtet verwundet vom Gatten zu dem Geliebten. Die Ori|150|ginalität des Buches beruht auf der Charakterzeichnung dieses Letzteren. Denn ihm ist sogar der Gemahl bei weitem vorzuziehen. Rahmon ist der junge normale Franzose unter der Restauration, wie die Gesellschaft ihn herangebildet: gefühlvoll und berechnend, liebeskrank und egoistisch, so ganz aufgehend in der Rücksicht auf die öffentliche Meinung und das Gesellschaftsurteil, daß er aus einem hartherzigen Menschen ein herzloser, aus einem unzuverlässigen ein erbärmlicher wird und zuletzt hinter seiner glänzenden Schalevon Eigenschaften und Talenten in seiner ganzen seichten Mittelmäßigkeit zum Vorschein kommt. Gleich in diesem ersten Werk treten mehrere männliche Haupttypen bei George Sand auf: die gröbere Natur, die durch die Macht, welche die Gesellschaft ihr in die Hand giebt, brutal wurde, und die schwächere Natur, welche angeborne Haltlosigkeit und das gewohnte Rücksichtnehmen auf das Gesellschaftsurteil unzuverlässig und feige machten. George Sand beginnt also von Anfang an, nach weiblicher Art, mit einem starken Bloßstellen des männlichen Egoismus. Als Gegensatz davon führt sie alsdann schon hier ihr Mannesideal ein, in dem ReserveLiebhaber, dem anscheinend phlegmatischen, aber in Wirklichkeitglühenden Ralph, der, wortkarg wie sie selbst, für die oberst-Lichliche Beobachtung steif und kalt (wie George Sand), lauter Selbstaufopferung, Edelmut und treue Liebe ist – eine Gestalt, die zu variieren sie in Jahren nicht müde wurde. Dieselbe wird in »Lélia« zu dem Überlegenen, schwergeprüften Trenmor, dem Galeerensklaven, der die Gesellschaft mit stoischer Ruhe verurteilt; in »Jacques« zur Hauptperson, welche mit fast übermenschlicher Geisteshoheit sich tötet, um der Verbindung seiner jungen Gattin mit einem Anderen nicht im Wege zu stehen; in »Léone Léoni« zu dem ruhigen, männlichen Don Aleo, der sich ohne Schwanken erbietet, die arme Juliette zu heiraten, welche ein fast magischer Zauber an den bodenlosen Schlingel Léone – dieses männliche Seitenstück zu Manon Lescaut – fesselt; in »Le secrétaire intime« ist diese Ge|151|stalt der unansehnliche Deutsche Max, mit seiner naiven Gutmütigkeit und seiner poetischen Begeisterung, der heimliche Gatte der Fürstin, welcher Alle huldigen; in »Elle et lui« ist sie der Engländer Palmer, welcher als Gegensatz zu dem genialen, ausschweifenden Pariserkind Laurent ausgestellt ist; in »Le dernier amour« tritt sie unter dem Namen Sylvestre als eine schwächere Wiederholung von Jacques auf.

Alle diese Gestalten haben den nicht seltenen Fehler der Ideale, daß sie Fleisch und Blut entbehren. Zum Ersatz ist die RaymonFigur, welche die Welt, den Gesellschaftsegoismus, die Eitelkeit und Charakterschwäche symbolisiert, ein durch und durch ganz anders geglückter Typus. Schon in »Indiana« besitzt Rahmon eine kräftigere Realität als die übrigen Gestalten, eine viel bestimmtere Lokal- und Zeitfarbe; George Sand leitet die Unmännlichkeit seines Charakters von »dem versöhnlichen, nachgiebigen Hang« des Zeitalters ab (Kap. X); sie bezeichnet ihre Zeit als die Epoche »desstillschweigenden Vorbehaltes«; sie zeigt, wie Raymon, welcher die politische Mäßigung verficht, sich einbildet, bloß weil er ohne politische Leidenschaft, sei er auch ohne politisches Interesse und stehe deshalb über den Parteien, während er von der Gesellschaft, wie sie ist, zu viel Vorteil hat, als daß er sie anders wünschte. Er ist »nicht undankbar genug gegen die Vorsehung, um ihr das Unglück der Anderen vorzuwerfen.« Aber auch die zahlreichen Nachfolger dieser Gestalt in George Sand’s Romanen verraten ein feines, tief eingehendes Studium der Wirklichkeit, um gleichmit dem Dichter , Stenio in »Lélia« zu beginnen und dem Liebhaber Octave danach in »Jacques« – fast nur skizzierte, schwache Charaktere, mit denen die Leidenschaft Fangball spielt – bis zu den mit vielen individuellen Zügen ausgestatteten Gestalten: dem südlich leichtfertigen jungen Sänger Anzoleto in »Consuelo«, dem krankhaft nervösen, verfeinert egoistischen Fürsten Carol (Chopin) in »Lucretia Floriani« und dem unstäten und haltlosen jungen Maler Laurent (Alfred de Musset) in »Elle et lui

|152| »Indiana« endigt damit, den rücksichtslosen Egoismus des männlichen Geschlechtes in den Gesetzen der Gesellschaft zu finden, selbst in der Religion, welche die Männer lehren. Sie haben in ihrem Bilde Gott zum Manne gemacht. Indiana schreibt an ihren heuchlerischen Liebhaber: »Ich diene nicht demselben Gotte, dem du dienst; der meinige ist edler und besser. Dein Gott ist derjenige der Männer, ein Mann und ein König, der Grund und die Stütze des männlichen Geschlechtes; meiner aber ist der Gott des Alls, der Schöpfer und Erhalter aller Wesen. Euer Gott hat Alles nur für Euch hervorgebracht, der meine hat alle Arten für einander geschaffen.« In diesen Worten liegt eine doppelte Bedeutung: eine kühne Kritik der Gesellschaftsordnung welche das Weib dem Manne unterordnet und zugleich ein unschuldiger, jugendlich vertrauensvoller Deismus und Optimismus. Wenige Jahre später schließt sie »Lélia« mit einem Ausbruch von wild verzweifelndem Pessimismus. In ihrer Todesstunde sagt die Heldin: »Ach, die Verzweiflung herrscht und das Leiden, und Klagerufe strömen aus allen Poren der Schöpfung. Die Wogen wälzen sich seufzend an den Strand, und der Wind stöhnt und weint durch den Wald. Alle diese Bäume, welche, zur Erde niedergebeugt, sich nur erheben, um von neuem der Peitsche des Sturmes zu erliegen, leiden eine schreckliche Marter. Ja, es giebt ein einziges unglückliches, unermeßliches und furchtbares Allwesen, und die Welt, welche wir kennen, vermag nicht es zu umfassen. Allüberall ist es unsichtbar zugegen, seine Stimme füllt den Weltraum mit einem ewigen Schluchzen. Gefangen in unendlichem Raume, wo es sich bewegt und tummelt, fühlt es Haupt und Schultern von den Schranken des Himmels wie der Erde gehemmt, und es kann dieselben nicht überwinden; es wird gedrückt, gepeinigt, zermalmt, verflucht und gehaßt von allem. Wie nennt sich dieses Wesen, und woher kommt es? […] Einige haben es Prometheus genannt, andere Satan, ich nenne es Sehnsucht – ich, die Sibylle, die trostlose |153| Sibylle, ich nenne es den Geist der entschwundenen Zeiten […] ich, die zerbrochene Leier, das stumme Instruments dessen Tone die Jetztlebenden nicht verstehen, aber in dessen Innern die himmlische Harmonie zusammengedrängt ist; ich, die Priesterin des Todes, und ich fühle wohl, daß ich einst Pythia war, schon damals geweint, schon damals gesprochen habe, aber ich erinnere mich des heilenden Wortes nicht mehr! […] O Wahrheit, Wahrheit! um dich zu finden, stieg ich hinunter in die Abgründe – ein Blick hinab würde die beherztesten Männer vor Entsetzen zum Schwindeln gebracht haben […] doch, o Wahrheit, du hast dich nicht geoffenbart, seit zehntausend Jahren such’ ich dich vergebens. Zehntausend Jahre vernahm ich als einzige Antwort auf meine qualvollen Fragen das verzweifelte Schluchzen der ohnmächtigen Sehnsucht, das über diese verfluchte Erde hintönt […] Seit zehntausend Jahren ruf’ ich hinaus in das Unendliche: Wahrheit! Wahrheit! und in all’ der Zeit lautete die Antwort: Sehnsucht! Sehnsucht! Unglückliche Sibylle, stumme Pythia, zerschelle deine Stirn an den Pfeilern deiner Höhle und mische dein Blut, das raucht in Raserei, mit dem kalten Schaum des Meeres!«

In einer Äußerung wie diese gipfelt die seelenvolle Melancholie jener Jugendjahre. Zusammengefaßt, wie ich sie wiedergab (im Original ist sie sechsmal länger), verleiht sie George Sand’s jugendlichem Selbstgefühl, wie es sich allmählich entwickelte, einen lyrisch vollendeten Ausdruck. Als sie »Indiana« schrieb,« war weder ihr Überlegenheitsgefühl noch ihr Pessimismns so ausgebildet. Sie verfaßte die bescheidene Erzählung als mitleidige Wortführerin für die Opfer der Gesellschaftsordnung, jedoch ohne die Absicht, einen Angriff gegen deren Institutionen zu richten, nicht einmal gegen die Ehe, als deren Angreiferin sie von Anfang an gestempelt wurde. Sie spricht augenscheinlich reine Wahrheit, wenn sie (in der Vorrede, 1842) sagt, daß sie noch lange, nachdem sie dies Vorwort zu »Indiana« geschrieben, unter dem Einfluß eines Restes von |154| Ehrfurcht für die bestehende Gesellschaft sich bestrebte, das unlösliche Problem zu lösen, welches darin besteht, ein Mittel ausfindig zu machen, um das Glück und die Würde der von der Gesellschaft unterdrückten Individuen mit dem Aufrechthalten und Bewahren dieser selben Gesellschaft zu versöhnen. Sie ist gleichfalls in ihrem Recht, wenn sie ihrem Briefe an Nisard (dem letzten in »Lettres d’un voyageur«) behauptet, nur die Ehemänner, nicht aber die Ehe als Gesellschaftseinrichtung, angegriffen zu haben. Sie trat ja auch als Erzähler und Psycholog, nicht als Reformator auf. Hier wie in »Valentine« waren es die Wärme und der lyrische Flug der Jugend, deren schwärmerische Eigenschaften und begeisterte Proteste, was den Inhalt des Romans ausmachte; es waren lauter Seelengeschichten, nur wenig von Personen handelnd; aber dennoch war in dem Wesen der Gefühle, in ihrem ganz unfrivolen und trotzdem der Gesellschaft widerstreitenden Charakter, und noch mehr in den eingestreuten Reflexionen etwas, das die alte Ordnung erschütterte. Es war deshalb gerade nicht lauter Thorheit, wenn von seiten des Bestehenden diese Bücher und ihre Verfasserin zum Gegenstand brutaler Angriffe gemacht wurden. Man ahnte, daß diese Gefühle und Gedanken früher oder später die Gesetze der Gesellschaft selbst umformen müßten. Sie haben bereits damit begonnen und werden es jeden Tag mehr thun.

Sogar der Idealismus dieser Bücher macht sie in ihrem innersten Wesen revolutionär. Denn indem für die. Verfasserin nur die innere Welt existiert, läßt sie dieselbe sich frei entfalten, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß die äußere dadurch gesprengt wird; und indem sie mit Vorliebe exaltierte Gefühle malt – oder eigentlich nur ein einziges, aber unendlich verschiedenartiges Gefühl: die Liebe – zeigt sie, wie deren Gesetze die Gesetze der Gesellschaft unaufhörlich kreuzen. Obschon sie die Notwendigkeit und Unersetzlichkeit der Ehe in unsern Tagen nicht in Zweifel zieht, untergräbt sie doch den Glauben an deren Ewigkeit. Wohl wahr, |155| sie richtet ihren Angriff von Anfang an nur gegen die Ehemänner; aber indem sie eine ideale Forderung stellt, erweist sich dieselbe unter der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung als unerfüllbar. So ungefähr untergräbt in Dänemark später Kierkegaard das Christentum, da er, um die Menschen für dasselbe zu begeistern, die ideal überspannte Forderung für den Christen aufstellt.

Der moderne französische Naturalismus, welcher oft unter mehr oder weniger grundlosen Anklagen der Immoralität leiden mußte, hat sich zu rächen gesucht, indem er die Beschuldigung der Unsittlichkeit auf die schwärmerischen ersten Werke George Sand’s zurückwarf. Wann immer Zola seine Einwendungen gegen den idealistischen Roman wiederholt, vergißt er niemals darauf aufmerksam zu machen, welche Gefahren für Familie und Gesellschaft es mit sich bringe, wenn das Individuum sich dem angemessenen Rahmen nicht fügen will und beständig nach größerer seelischer und geistiger Freiheit drängt. Zola thut sich etwas darauf zu gute, daß er seinesteils die ungebundene Liebesleidenschaft niemals in einem schönen oder verlockenden Lichte schildert, sondern sie stets in den Schlamm hinab platschen läßt. Er hätte hinzufügen können, daß er und alle Nachfolger aus Valzacs Schule überhaupt niemals eine höhere Moral brauchen, als die eben gang und gebe ist, noch jemals Hinblick auf eine andere Gesellschaft nehmen als auf die bestehende. Sie haben sich einer gewaltsamen Selbsteinschränkung unterworfen, indem sie sich an die Schilderung der von ihnen beobachteten äußeren Wirklichkeit gebunden und alle aus dieser Schilderung zu ziehenden Schlußfolgerungen verbannt haben. Hieran beruht es, daß sie, bei aller Keckheit in Ausmalung von Gesellschaftsverhältnissen und Situationen, welche die frühere Litteratur selten so zu behandeln wagte, ebenso furchtsam wie nichtssagend als Denker und Moralisten sind. Sie suchen notwendigerweise ihre Stärke darin, beständig auf ihre Übereinstimmung mit den üblichen Moralbegriffen hinzuweisen; sie rühmen sich, das als |156| Laster zu betrachten, was alle andren gleichfalls Laster nennen, und dagegen Abscheu einzuflößen. Sie sind nicht wie jene Sünderin George Sand. Doch was endlich zu sagen an der Zeit, ist, daß gerade die »Moralität« der naturalistischen Schule ihre poetische Schwäche, und gerade jene »Immoralität« die starke Seite von George Sand’s Schriften ist, welche in der Schilderung so weit mehr abstrakt und weit keuscher sind. In den anscheinend so verwegenen Büchern der realistischen Schule kommt kein einziger Satz vor, der, was wahrhafte Verwegenheit anbelangt, mit dem folgenden verglichen werden kann, welchen George Sand in »Horace« einer der Hauptpersonen in den Mund gelegt hat und welcher mit mustergiltiger Kürze die Moralphilosophie der Leidenschaft in ihren Werken zusammenfaßt: »Ich glaube, daß man diejenige Liebe, welche erhebt und uns durch schöne Gefühle und Gedanken stärkt, als eine edle Leidenschaft definieren kann – diejenige Liebe, welche egoistisch und feige macht und uns allen Kleinlichkeiten preisgiebt, als eine schlechte Leidenschaft. Jede Leidenschaft ist demnach gesetzlich oder verbrecherisch, je nachdem sie das eine oder das andere Resultat mit sich bringt, gleichviel ob die offizielle Gesellschaft, welche doch nicht das höchste Gericht der Menschheit ist, zuweilen die schlechte Leidenschaft legitimiert und die gute in die Acht erklärt.«

»Lélia« und »Jacques« (1883 und 1884) bezeichnen den Höhepunkt von dem Byronschen Weltschmerz der Dichterin und von ihrem deklamatorischen Hang. In Lélia wollte sie ihr Jugendideal von der großen, tief, doch nicht sinnlich fühlenden Frau geben, während sie in deren Schwester Pulcheria, einer üppigen Courtisane, das Gegenbild von ihr aufstellte. George Sand schied hier die beiden Seiten ihres Wesens und formte Lélia nach dem Minervabilde in ihrer eigenen Seele, während Pulcheria ihrem eigenen Venuskultus entsprach; auf diese Weise brachte sie eher große skizzierte Symbole, als Menschen von Fleisch und Blut hervor. In »Jacques« faßte |157| sie das Ehestandsproblem von einer neuen Seite an, indem sie, die in »Indiana« einen brutalen, in »Valentine« einen kalten und geschliffenen Ehemann geschildert, denselben hier mit jenen Vollkommenheiten ausstattete, welche ihr als die höchsten vorschwebten, und sein Glück an eben dieser Überlegenheit seiner Natur stranden ließ, für die seine jugendlich unbedeutende Gattin nicht auf die Dauer Liebe fühlen kann. Die Dichterin versuchte hier den Eindruck ihrer eigenen Anschauungsweise zu verstärken, indem sie dieselbe dem gekränkten Ehemann in den Mund legt. Er selbst entschuldigt seine Gemahlin: »Kein menschliches Geschöpf kann über die Liebe gebieten, und niemand ist schuldig, wenn er sie fühlt oder entbehrt. Was die Frau erniedrigt, ist die Lüge; was den Ehebruch konstituiert, ist nicht die Stunde, welche sie dem Geliebten gewährt, sondern die Nacht, die sie danach mit ihrem Manne zubringt.« Jacques fühlt sich verpflichtet, den Platz zu räumen: »Borel an meiner Stelle würde ruhig seine Frau geprügelt haben und nicht errötet sein, sie dann in seine Arme aufzunehmen, entwürdigt von seinen Schlägen und seinen Küssen. Es giebt Männer, die ohne weiteres nach orientalischer Manier ihre treulose Gattin totschlagen, weil sie dieselbe als gesetzliches Eigentum betrachten. Andere schlagen sich mit ihrem Nebenbuhler, töten oder entfernen ihn und bitten alsdann die Frau, welche sie zu lieben behaupten, um Küsse und Liebkosungen, während diese entweder voll Schrecken sich zurückzieht oder in Verzweiflung sich hingiebt. Dies ist in der ehelichen Liebe gemeiniglich die Art zu handeln, und mir kommt es vor, als ob die Liebe der Schweine weniger niedrig und weniger grob sei als diejenige solcher Menschen.« Diese Wahrheiten, welche für unsere heutige gebildete Welt als elementare dastehen, waren vor fünfzig Jahren himmelschreiende Sophismen. Sie sind das Salz, welches diese Jugendwerke frisch erhält trotz all’ des Veralteten in der Erfindung und aller Weitläufigkeit in der ermüdenden Briefform.

|158| Das hervorragendste Merkmal, welches die Überspanntheit des Romantismus sich in diesem Buche setzte, ist die Schlußkatastrophe: Jaeques weiß kein besseres Mittel, Fernande zu befreien, als den Selbstmord, der für sie den Anschein eines zufälligen Todes haben soll. Hiermit sind wir in die pure Unwirklichkeit hineinversetzt. Doch im übrigen ist die Unwirklichkeit in diesem Roman mehr scheinbar als real. Die moderne Schule hat gut den Mangel an örtlicher Bestimmtheit, an wirklicher Beschäftigung u. s. w. nachweisen – die Personen in George Sand’s ersten Romanen haben keine andere Beschäftigung als die, zu lieben. Doch die Wirklichkeit, welche sich hier vorfindet, ist eine innere, die Wirklichkeit der Gefühle. Auch diese hat man in unsern Tagen bestritten. Es gehört zum Ton, Gefühle wie die hier geschilderten, eine so heftige Verzweiflung über die Gesellschaftsordnung eine so leidenschaftliche erotische Zärtlichkeit, ein so reines und glühendes Freundschaftsgefühl zwischen Mann und Frau unnatürlich und unwirklich zu finden.*)*

*) Emile Zola schreibt von den Personen in »Jacques« (Documents littéraires S. 222): »Ich kann die Wirkung nicht ausdrücken, welche solche Figuren auf mich machen: sie verwirren mich, sie überraschen mich, als hätten sie eine Wette eingegangen, auf den Händen zu gehen. Ich verstehe nichts von ihren Klagen, nichts von ihrer ewigen Bitterkeit. Über was beklagen sie sich? was wollen sie? Sie nehmen das Leben von der verkehrten Seite; es ist daher natürlich, daß sie unglücklich sind. Glücklicherweise ist das Leben ein besseres Mädchen. Man wird immer mit ihm einig, wenn man Gutmütigkeit genug hat, sich in die unangenehmen Stunden zu finden.« Zola zeichnet in dieser Karikatur von George Sand sein eignes Bild oder vielmehr seine eigne Karikatur; denn so spießbürgerlich ist er gewiß nicht.
Allein man muß bedenken, daß George Sand’s Personen sich hoch über das Durchschnittsmaß erheben. Sie schildert überlegene Naturen; ja, sie hat in diesen Büchern eigentlich nichts andres gegeben als die Psychologie ihrer eigenen Gefühlswelt. Sie variiert nur unaufhörlich die Umstände, in welchen sie ihre eigenen Gefühlsanlagen anbringt, und zieht so mit genialer Selbstbeobachtungsgabe und sichrer Hand die psychologischen Konsequenzen. Interessant ist |159| es zu sehen, wie in diesen Jugendwerken das beständige Sehnen, einen ebenbürtigen Mannesgeist zu finden, sie dahinführt, gleichsam sich selbst in zwei Geschlechtern zu verdoppeln. So leidenschaftlich sie auch die Liebe verherrlicht, so stark sie auch das Seelenleben der bedeutenden Frau und des großen Mannes davon überwältigt sein läßt, so hegen sie doch beide, Jacques sowohl wie Lélia, ein größeres, idealeres Freundschaftsgefühl zu einem Wesen des andern Geschlechtes, das sie versteht. Im Vergleich mit diesem Gefühl tiefen gegenseitigen Verstehens scheint das Liebesverhältnis Lélias zu Stenio, dasjenige Jacques zu Fernande nur eine Schwäche dieser großen Seelen. Lélia hat in Trenmor einen Freund, der sie versteht, Jacques eine ebenbürtige Freundin in Sylvia. Er würde sie lieben, wenn sie nicht seine Halbschwester wäre, oder vielmehr wenn er nicht Grund zur Befürchtung hätte, daß sie es sei; aber wie das Verhältnis ist, hat es eine Schönheit in sich, die blos erotische Beziehungen kaum erreichen könnten. Ich entsinne mich deutlich, welch’ mächtigen Eindruck das Verhältnis zwischen Jacques und Sylvia auf mich machte, als ich das Buch zum ersten Male las. Wohl sah ich, daß Jacques bis zu einem gewissen Grade unwirklich ist, Sylvia desgleichen, denn sie ist nur seine Vertraute, die ihn versteht; aber der ideale Strom zwischen ihnen hat seine Wirklichkeit und berührte mich elektrisch. Diese Sylvia ist erstanden auf den Notschrei, welchen der geniale Geist hinaus in die leere Welt nach seinesgleichen sandte; ihre Gestalt ist sicher nichts weiter als das Postulat des großen, einsamen Herzens – aber was ist die Poesie anderes! So unvollkommen der Roman auch ist, das Verhältnis zwischen Jacques und Sylvia verleiht ihm eine schimmernde Poesie; es ist als schaue man über die niedrige Welt der Leidenschaften hinein in eine höhere, wo reinere, wenn auch sonst irdische Geister einander lieben und verstehen.

Figuren wie diese illustrieren den lebendigen Freundschafts|160|trieb, welchen George Sand in jenen Tagen besaß, und welcher so ganz der Geist der romantischen Jugend war. Ihre auf die erste Romangruppe folgenden »Lettres d’un voyageur«, die unmittelbar nach dem Abschiede von Alfred de Musset in Venedig beginnen und sich über die folgenden Jahre erstrecken, gewähren einen Einblick in ihre Freundschaftsverbindungen und sind überhaupt eines von den Werken, in welchen die Dichterin ihr Seelenleben am offenherzigsten preisgegeben, obschon sie sich hinsichtlich aller persönlichen Angelegenheiten einer Zurückhaltung befleißigt, welche die Darstellung für den Uneingeweihten dunkel macht. Man folgt ihr in diesem Werk von ihrem Zusammenleben mit dem schönen, doch dummen italienischen Arzte (Dr. Pagello), um dessentwillen sie Musset opferte, bis zu ihrer Schwärmerei für Everard (Michel de Bourges, ihr Advokat im Scheidungsprozesse), durch welche sie sich zu dem schönen Romane »Simon« inspiriert fühlte. Zwischen diesen Anfangs- und Endpunkten liegen all’ die guten und herzlichen Freundschaftsverbindungen mit Francois Rollinat, Jules Neraud und wie sie alle hießen, mit denen Gedanken und Briefe auszutauschen sie beständig sich gedrängt fühlte, mit denen sie studierte, von denen sie sich belehren ließ, und die sie in dem burschikosen Stil des Romantismus mit dem vertraulichen Du ansprach – ferner alle die echt künstlerischen Kameradschaftsverhältnisse zu Franz Liszt, Gräfin d’Agoult, Meyerbeer und vielen Anderen, den genialen Männern und Frauen unter ihren Zeitgenossen.

In keinem anderen Werke ist sie so beredsam, in keinem anderen strömt ihr Vortrag in so vollen, lyrisch-rhetorischen Wogen. Nirgends kann man besser als hier ihren lyrischen Stil studieren – jenen, welcher sich außerhalb der dialogisierten Partien in ihren Romanen zu erkennen giebt. Das Volltönige ist ihre Haupteigenschaft. Der Stil rollt dahin in langen, schönen Rhythmen, gleichmäßig in seinem Sinken und Steigen, singend in seinem Schwärmen, harmonisch sogar im Ausdruck der Verzweiflung und des Selbst|161|aufgebens. Das angeborene Gleichgewicht ihrer Seele spiegelt sich in dem Ebenmaß dieser Satzes niemals ein Schrei, ein Stoß, ein Auffahren im Stil. Er hat Schwung, er fliegt auf breiten Flügeln – doch weder ein Sprung noch ein Sturz. Er entbehrt der Melodie, aber reiche Harmonien durchklingen ihn; er entbehrt der Farbe, aber seine Zeichnung hat die volle Schönheit des Linienspieles. Niemals wirkt George Sand durch eine ungewohnte oder kühne Worterfindung, selten oder nie durch ein auffallendes Bild. So wenig ihr Vortrag schreiende Töne hat, so wenig zeigen ihre Bilder starke oder grelle Farben. Sie ist romantisch durch ihren Enthusiasmus, durch die Art, wie sie sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit Gefühlen hingiebt, welche allen Regeln und jeder Norm trotzen; aber sie ist nach strengstem Begriff klassisch durch die Regelmäßigkeit ihrer Perioden, durch die abstrakte Schönheit der Form und die Mäßigkeit im Gebrauch der Farbe.*)*

*) Selbst der prinzipielle Gegner des Romantismus und George Sand’s, Emile Zola, ist genötigt, George Sand zuzugestehen: »L’âme romantique animait ses créations, mais le style restait classiqueDocuments littéraires p. 217.

Die Briefe aus Venedig und noch mehr diejenigen aus der Zeit seit ihrer Rückkunft nach Frankreich zeigen Jedem, der zu lesen versteht, wie gedemütigt George Sand durch Mussets Verlust war, wie sehr es ihr zu Herzen ging, auf ihn verzichten zu müssen. Das Verhältnis ist in »Elle et 1ui«, der etwa zwanzig Jahre später gegebenen Darstellung, zurechtgelegt Gewiß gab es Zeiten, wo das Gefühl, vor Sehnsucht, Scham und Kummer vergehen zu müssen, sie durchdrang. In einem Briefe an Rollinat aus dem Jahre 1835 finde ich einen bezeichnenden, so viel ich weiß, bis jetzt übersehenen Passus, der nicht ohne Anmut ist und zugleich ein Bekenntnis enthält:

»Hör’ eine Geschichte und weine! Es war einmal ein großer Künstler Namens Watelet, der besser radierte als irgend ein anderer Mann seiner Zeit. Er liebte Marguerite Le Conte und lehrte sie |162| eben so gut zu radieren wie er selbst. Sie verließ ihren Mann, ihr Besitztum, ihre Heimat, um mit Watelet zusammen zu leben. Die Welt verdammte die Beiden, aber da sie arm und bescheiden waren, vergaß man sie. Vierzig Jahre darnach entdeckte man in der Umgebung von Paris, in einem kleinen Hause, Moulin–Joli genannt, einen alten Mann, der radierte, und eine alte Frau, die er seine Müllerin nannte, und die gleich ihm ätzte, beide an demselben Tische sitzend. Der erste Müßiggänger, welcher dieses Wunder aufspürte, erzählte Anderen davon. Die feine Welt strömte haufenweise herbei, das Außerordentliche zu sehen: eine Liebesverbindung, welche vierzig Jahre hindurch gewährt hatte; eine Arbeit, die beständig mit dem gleichen Fleiß und dem gleichen Eifer betrieben wurde; zwei schöne Zwillingstalente. Dies machte Aufsehen […] Zum Glück, denn die Welt würde Alles verdorben haben, starb das Paar wenige Tage darnach an Altersschwäche. Das letzte Blatt, welches sie radierten, stellte Monlin-Joli vor, Marguerites Haus […] In meinem Zimmer hängt ein Porträt, dessen Original Niemand hier gesehen. Ein Jahr hindurch hat der, welcher mir dies Bild zurückließ, jede Nacht mit mir an dem kleinen Tisch gesessen und von derselben Arbeit gelebt wie ich […] Bei Tagesgrauen legten wir einander unsere Arbeit zu gegenseitiger Beurteilung vor, des Abends speisten wir an demselben kleinen Tisch und sprachen von Kunst, von Gefühlen, von der Zukunft. Die Zukunft hat uns ihr Wort gebrochen. Bete für mich, Marguerite Le Conte!« Diese Stelle dürfte die einzige sein, wo George Sand das Bekenntnis ablegt, sie habe in ihrer Eigenschaft als Dichterin Musset Etwas zu verdanken. Ich habe bereits angedeutet, von welcher Beschaffenheit sein Einfluß auf sie gewesen ist; derselbe war rein kritisch, er schärfte ihren Schönheitssinn, aber bestimmend konnte Mussets künstlerische Art nicht auf sie einwirken. Für direkten stilistischen Einfluß blieb George Sand absolut unempfänglich. Madame de Girardins witziger Ausspruch über sie: »Besonders wenn von |163| den Werken weiblicher Schriftsteller die Rede ist, kann man mit Buffon ausrufen: der Stil, das ist der Mann«, ist genau ebenso falsch wie ergötzlich; denn obschon fast jeder von George Sand’s Romanen durch sein verschiedenartiges Gepräge den Wechsel männlichen Einflusses zeigt, so erstreckt sich diese Einwirkung doch niemals auf den Stil. George Sand macht sich wieder und wieder zum Organ für Ideen Anderer, niemals aber ahmt sie eine fremde Schreibweise nach. Dafür war ihr poetisches Wesen zu selbständig und dafür war sie außerdem in zu geringem Grade Künstlerin. Sie, die mündlich so wortkarge, so langsame, war, wenn sie schrieb, eine Improvisatrice, sie ließ die Feder über das Papier fliegen, ohne Vorstudien gesammelt, ohne Vorbilder zu haben, ohne ein bewußtes künstlerisches Ziel. So wenig sie jemals einen gegebenen Stoff verarbeiten konnte, so wenig vermochte sie, eine von Anderen begonnene, halbausgeführte stilistische Wendung zu überarbeiten oder zu vollenden – Momente, auf denen der rein technische Fortschritt in einer Kunst beruht. Hierin bildet sie einen scharfen Gegensatz gerade zu Musset. Er war von Anfang an von einem Trotz gegen alle technischen und künstlerischen Regeln beseelt, der ihr gänzlich fremd war. Er verschlechterte z. V. absichtlich die Reime in seinen ersten Gedichten, um die Klassiker recht gründlich zu ärgern. (Die Marquise in »L’Andalouse« hieß in den ersten Ausgaben Amaémoni, was französisch einen richtigen Reim auf bruni bildet; in dem endgültigen Text hingegen erhielt sie den Namen Amaégui, was kaum mehr für einen Reim gelten kann.) Als gegen das Ende seiner Schriftstellerthätigkeit seine Produktionskraft im Abnehmen war, machte er in dem kleinen Lustspiel »On ne saurait penser à tout« . Gebrauch von vollen sieben Seiten aus Carmontelle’s Proverbe »Le distrait«; und selbst in seiner besten Zeit verschmähte er nicht, die Wendung irgend einer Periodenform, die er bei einem Anderen vorgefunden, in feinerer Weise zu benützen; so entdecke ich in den Werken des Fürsten von Ligne ein sticistisches Vorbild für |164| das früher angeführte schöne Gedicht »Après une lecture«.*)*

*) Der Fürst von Ligne spricht von den Eigenschaften des echten Kriegers, wie Musset von denen des echten Dichters. Es heißt hier: »Si vous ne rêvez pas militaire, si vous ne dévorez pas les livres et les plans de guerre, si vous ne baisez pas les pas des vieux soldats, si vous ne pleurez pas au récit de leurs combats, si vous ne mourez pas du désir d’en voir et de honte de n’en avoir pas vu, quoique ce ne soit pas votre faute, quittez vite un habit que vous deéhonorez. Si l’exercice même d’une seule bataille ne vous transporte pas, si vous ne sentez pas la volonte de vous trouver partout, si vous êtes distrait, si vous ne tremblez pas que la pluie n’empêche votre régiment de manæuvrer; donnez y votre place à un jeune homme tel que je le veux« u. s. w. Die Art wie Musset den Bau des Prosastiles hier in die Verskunst überführte, verrät seine künstlerische Genialität fast noch deutlicher als eine völlig freie stilistische Erfindung es zu thun vermöchte. – Es war ein Wink von Emile de Montegut, der mich auf diese Stelle aufmerksam machte; auf die Benützung Carmontelles hat Paul Lindau in seinem Buch »Alfred de Musset« hingewiesen.
Bei George Sand ist es unmöglich dergleichen zu finden. Ihr ist die Gabe nicht verliehen, die rohen Diamanten Anderer zu einem Brillantschmuck für ihre Muse zurechtzuschleifen; im einfachen weißen Gewande, mit einer Wiesenblume im Haar, tritt bei ihr die Muse auf.

Nirgends ist die eigentümliche Schönheit ihres Stils herzgewinnender als in dem erwähnten Brief an Rollinat. Hier schmilzt bei diesem weiblichen Genius der Geistesrevolutionen das tiefe Verständnis des Naturkindes wunderbar zusammen mit dem ewigen Sehnen; und durch die Sehnsucht nach der Natur und dem Drang nach Glück klingt das Trauerlied des liebenden Herzens über die Täuschungen, welche es Anderen bereitete und von ihnen erlitt. Hier und in dem folgenden Brief an Everard gewahrt man ferner, wie George Sand’s politischer, republikanischer Glaube aus den Ruinen der Luftschlösser ersteht, die sie in ihren erotischen Jugendträumen erbaute. Von Anfang an ist sie schwach im Glauben, zu sehr von sich selbst eingenommen Wohl wahr, der arme Poet »fühlt sich schlimm zu Mute unter dem Regenschirm des Königtums«; sie dagegen interessierte sich als Dichterin für die Form der Veilchen- und Jasminblüten fast ebenso sehr wie für die sozialen und |165| politischen Formen. Doch allmählich kann man erkennen, wie der Funke der Begeisterung in ihrer Brust aufflammt. Sie beneidet ihre männlichen Freunde um ihren Glauben und um die handelnde Thatkraft, sie, die »nur ein Poet ist, das heißt, nur ein schwaches weibliches Wesen«. Bei einer Revolution konnten die Anderen es erstreben, dem Geschlechte die Freiheit zu erobern – sie könnte nichts als sich tot schlagen lassen, in der Hoffnung, zum ersten Mal in ihrem Leben einen Nutzen gestiftet zu haben, besteh’ er auch bloß darin, eine Barrikade zu errichten, so hoch wie ihre Leiche. Und sie schließt:

»Bedarf Jemand von Euch mein Leben in der Gegenwart oder Zukunft? Wenn Ihr mir versprecht, mich in den Dienst einer Idee, und nicht einer Leidenschaft zu stellen, so bin ich willig, Eurem Gebot zu gehorchen. Ach! ich sag’ es Euch voraus, ich tauge nur dazu, einen Befehl tapfer und treu auszuführen Ich kann handeln, nicht überlegen, denn ich weiß nichts und bin über nichts mir klar. Ich kann nur Folge leisten, wenn ich die Augen schließe und meine Ohren verstopfe, damit ich nicht sehe oder höre, was mich unsicher macht; ich kann mit meinen Freunden marschieren, wie der Hund, welcher seinen Herrn aus dem Schiffe fortsegeln sieht und sich ins Wasser stürzt, um ihm zu folgen, bis er vor Ermattung stirbt. Das Meer ist groß, o meine Freunde! und ich bin schwach. Ich tauge nur zum Soldaten, aber ich habe nicht das nötige Maß von fünf Fuß. – Doch gleichviel! der Zwerg gehört Euch zu. Ich bin Euer, weil ich Euch liebe und achte. Die Wahrheit ist nicht unter den Menschen, Gottes Reich ist nicht von dieser Welt; aber wenn der Mensch überhaupt der Gottheit den Strahl zu entwenden vermag, welcher die Welt erleuchtet, so habt Ihr ihn geraubt, Ihr Kinder des Prometheus, Ihr Liebhaber der unbezwungenen Wahrheit und der unbeugsamen Gerechtigkeit! Wohlan! Mag die Farbe Eures Banners stärker oder schwächer sein, wenn Eure Heerscharen nur den Weg der republikanischen Zukunft gehen – dann, im |166| Namen Jesu, der jetzt nur einen einzigen wahren Apostel auf Erden hat [Lamennais]; im Namen Washington’s und Franklin’s, die ja nicht Alles vollbringen konnten und uns deshalb ein Werk zur Vollführung hinterließen; im Namen Saint-Simon’s, dessen Söhne wagen, sich auf das erhabene und furchtbare Gesellschafts-Problem einzulassen (Gott beschütze sie!); wenn nur das Gute geschieht und die, welche glauben, ihren Glauben in Werken beweisen […] ich bin bloß ein armes Soldatenkind, doch nehmt mich mit, nehmt mich mit!«

Es finden sich kaum in einer anderen Litteratur so reine und echt weibliche Äußerungen des Enthusiasmus. In der deutschen könnte man vielleicht ein Seitenstück dazu in Bettinas just in demselben Jahre erschienenen »Briefwechsel Goethe’s mit einem Kinde« finden, der Frucht einer gleichfalls überströmenden Begeisterung; doch bei Bettan ist der Ausdruck nicht völlig so echt wie das Gefühl, und selbst dieses hat engere Grenzen, es ist mehr die reine Freude an der Schönheit. Bettan ist geistreich, ihr Stil daher zugeschlifsen und glänzend; bei George Sand aber zeigt sich die Größe selbst im Ausdruck für den Enthusiasmus der weiblichen Schwachheit.

Es währte einige Jahre, bis die Stimmungen, welche wir hier in ihr entstehen sahen, in Werken ausklingen. Wir werden später auf dieselben zu sprechen kommen. Hier wollen wir bei den ruhigeren, rein poetischen Erzählungen verweilen, welche die zweite Periode ihres Schriftstellertums ausfüllen.

Von diesen stelle ich in künstlerischer Hinsicht die kleine Novelle »La Marquise« unbedingt am höchsten; sie dürfte überhaupt, rein künstlerisch betrachtet, das Vollkommenste sein, was George Sand geschrieben hat. Ich denke mir, daß sie durch die Erinnerung an ihre gute, feine Großmutter sich zu dieser Erzählung inspiriert fühlte. Dieselbe wirkt hinreißend durch die Vereinigung des Geistes und der Sitten des achtzehnten Jahrhunderts mit der furchtsamen und schwärmerischen Erotik des neunzehnten. Es ist die einfache Ge|167|schichte einer vornehmen Dame aus der Zeit des alten Regime, die sich vermählt hat, wie man sich in jener Zeit vermählte, und die dann einen Liebhaber nahm, wie es damals gebräuchlich war. Nun langweilt sie sich zum Sterben; nicht ihr Herz hatte den Liebhaber gewählt, die ganze gute Gesellschaft hatte sich vielmehr verschworen, ihr diesen Mann aufzubürden. Jung, unerfahren, schön und insofern unschuldig, als sie überhaupt noch nichts von der Liebe wußte, verliebt sie sich in einen armen, halb verkommenen Schauspieler, der von den Brettern aus ihr die Verkörperung edler Männlichkeit und Poesie scheint. Sie sieht ihn unbeachtet außerhalb des Theaters und erschrickt über die veränderte Art seines Aussehens; er, dem ihr Interesse für ihn kein Geheimnis bleiben konnte, spielt einzig für sie und träumt nur von ihr. Dann haben sie zum ersten und letzten Male in später Abendstunde, nach dem Schluß der Vorstellung, eine Zusammenkunft, zu welcher die Marquise sich einfindet, matt infolge eines Aderlasses am Vormittage, der Schauspieler in seinem Theaterkostüme, das zu wechseln er nicht Zeit gehabt hatte, noch beherrscht von der Idealität der Bühnenszene, begeistert, verschönert, geadelt durch seine Liebe, welche ihn so hoch über seine gewöhnliche Lebenssphäre erhebt. Sie ist ehrbar, er voll Ehrfurcht; sie ist verliebt, hingerissen wie in einer poetischen Illusion, er liebt ihr wirkliches Wesen, glühend, begehrend, doch ritterlich. Nach einem Sturme gegenseitiger Leidenschaft endigt die Begegnung ohne andere Liebkosung als einen Kuß, den sie ihm, während er vor ihr kniet, auf die Stirne drückt.

»Nun wohl!« schließt die alte Marquise ihre Erzählung, »glauben Sie jetzt, daß es im achtzehnten Jahrhundert noch eine Tugend gab?« – »Madame,« erwidert ihr Zuhörer, »ich habe nicht die geringste Lust, daran zu zweifeln; indes, wenn ich weniger gerührt wäre, so würde ich mir vielleicht die Bemerkung erlauben, daß es sehr verständig von Ihnen war, sich an jenem Vormittag zur Ader zu lassen.« – »Ihr plumpen Männer!« ruft die Mar|168|quise, »Ihr versteht doch niemals etwas von der Geschichte des Herzens.«

George Sand hat nichts Graziöseres geschrieben; die Schelmerei in diesem Schluß, welche auch den verwandten, in gleichem Grade anmutigen, tiefsinnigen Roman »Teverino« stempelt, in ihrer Erzählungsweise jedoch sonst selten vorkommt, ist ganz im Geiste des achtzehnten Jahrhunderts. Auch die Kunstform hat hier die in sich abgeschlossene Knappheit, welche in der Regel die Vorbedingung dafür ist, ob ein Werk auf die Nachwelt kommen wird. »La Marquise« ist geschaffen, um in jede Anthologie französischer Meisterwerke ausgenommen zu werden.

In einer ganzen Reihe nun folgender Schriften schildert George Sand die Frauennatur, wie sie sich dieselbe vorstellt, wenn sie unverdorben ist: nämlich keusch, stolz, thatkräftig, empfänglich für die Leidenschaft der Liebe, aber über derselben stehend und in derselben ihre Reinheit bewahrend. Gerne verleiht sie der Frau eine sittliche Überlegenheit über den Mann. Doch ist auch die Mannesnatur, wie sie dieselbe mit Vorliebe bei ihren Helden darstellt, in ihrem Wesen gut, obschon sie bei den herrschenden Klassen durch die angeborene Tyrannei, welche sie über die Frau und das gemeine Volk ausübt, getrübt wird.

Rousseaus Überzeugung von der ursprünglichen Güte der Natur und der Verderbtheit der Gesellschaft bildet die Grundlage all’ dieser Erzählungen. Frauengestalten wie Fiamma in »Simon«, Edmée in »Mauprat«, Consuelo in dem Roman gleichen Namens (zu welcher Madame Viardot bis zu einem gewissen Grade das Modell gewesen ist), sind der reine Ausdruck für das typische junge Mädchen bei George Sand. Ihre Rolle ist die, den Mann zu begeistern, zu heilen oder zu erziehen. Sie ist ohne Schwanken, ihr Wesen ist Festigkeit, sie ist die Priesterin der Vaterlandsliebe, der Freiheit, der Kunst oder der Zivilisation. Von den genannten Romanen ist »Consuelo« der umfangreichste und berühmteste; er |169| beginnt meisterhaft, verliert sich aber gänzlich (wie auch mehrere von Balzacs verfaßte, nicht zu reden von Dumas’ umsangreicheren Werken) in romantischer Schwärmerei. In der Kunstanschauung des Zeitalters lag ja eine Versuchung zum überspannten; nicht nur Victor Hugo war es, der beständig auf dem Sprunge stand, dem Unförmlichen zu verfallen.

Neben diesen Büchern, in welchen das junge überlegene Mädchen als Heldin figuriert, stehen einige andere, wo die reife Frau die Hauptperson ist und in denen George Sand zuweilen ihr eigenes Naturell mehr direkt dargestellt hat. Solche sind »Le Secrétaire intime«, eine schwächere Arbeit, sowie »Lucretia Floriani«, eines der merkwürdigsten Erzeugnisse ihrer Feder. Für die meisten Leser wird es sich wie ein abschreckendes oder empörendes litterarisches Paradoxon ausnehmen; denn es will die Ehrbarkeit, ja die Keuschheit einer Frau aufrecht erhalten, die, eine italienische Schauspielerin und Schauspielverfasserin, vier Kinder hat, welche sich zu drei verschiedenen Vätern bekennen. Aber es ist ein Buch, welches das schwierige Problem, das die Verfasserin sich stellte, gelöst hat: uns einen Einblick in eine Frauennatur zu geben, die reich und gesund genug ist, immer lieben zu müssen, edel genug, nie herabgewürdigt zu werden, und so künstlerisch angelegt, daß sie weder in einem einzigen Gefühle sich beruhigen kann, noch daß, selbst unter wiederholten Täuschungen, der Strom ihrer Empfindungs fähigkeit versiegt.

Es ist George Sand geglückt, dies Problem zu lösen, weil sie schlichtweg den Schlüssel nahm, den ihr eigenes Wesen ihr gab. Mehr als einer, der die Gerüchte von dem regellosen Leben der Dichterin gehört, von ihren Verbindungen mit Jules Sandeau, Alfred de Musset, Michel de Bourges, Frederic Chopin und einem halben Dutzend Anderen, hat sicher sich im Stillen gefragt, wie es zuging, daß so reine, bei aller Leidenschaftlichkeit so adelige Bücher wie die ihrigen einem so unordentlichen, ja, nach den allgemeinen |170| Begriffen, so unwürdigen Leben entspringen konnten. George Sand definiert ihre künstlerische Wißbegierde einmal selbst: es sei ihr, wenn von Kannibalen die Rede gewesen, unwillkürlich der Gedanke gekommen, wie Menschenfleisch schmecken möge. – Mancher mochte finden, daß dieser Forschungstrieb keine vollgültige Erklärung sei. In »Lucretia Floriani« gab sie eine erschöpfende Psychologie ihres Wesens, wie dasselbe im Alter von dreißig Jahren war; ich will versuchen, diese Psychologie aus zahlreichen in dem Romane zerstreut sich vorfindenden Stellen zu rekonstruieren:

»Lucretia Florian war – wer sollte es glauben? – von Natur so keusch wie die Seele eines kleinen Kindes. Das klingt, ich gestehe es, sehr wunderlich von einer Frau, die so viel und so viele geliebt hat. Es gründet sich wahrscheinlich darauf, daß sie in sensueller Beziehung höchst kräftig organisiert war, obschon sie in den Augen derjenigen Männer, welche ihr nicht gefielen, wie Eis erschien. In den seltenen Zwischenräumen, wo ihr Herz frei, war ihr Hirn ohne Sehnsucht gewesen; und hätte man sie stets von dem Anblicke des anderen Geschlechtes ferngehalten, so würde sie eine vortreffliche Nonne abgegeben haben, ruhig und frisch. Das soll heißen, nichts konnte reiner sein als ihre Gedanken, wenn sie allein war; wenn sie aber liebte, war alles was nicht ihr Geliebter war, in sinnlicher Hinsicht für sie, als ob es nicht existierte, leere Luft, das reine Nichts.« Darum sagt Lucretia auch von der Liebe: »Ich weiß, daß man glaubt, sie stamme von den Sinnen; aber dies gilt nicht für die begabten Frauen. Bei ihnen geht es vorwärts Schritt für Schritt. Sie bemächtigt sich zuerst des Kopfes, sie pocht an die Thüre der Einbildungskraft; ohne den goldenen Schlüssel dazu kommt sie nicht hinein. Wenn sie sich zum Herrn über die Phantasie gemacht, steigt sie hinab in unsere Eingeweide, schleicht sich in alle unsere Triebe – und wir lieben den Mann, der uns beherrscht, wie einen Gott, wie ein Kind, wie einen Bruder, wie einen Gatten, wie alles, was ein Weib lieben kann.« Die |171| Dichterin erklärt, auf welche Weise die erotische Illusion sich stets von neuem der Seele Lucretias bemächtigen konnte, vornehmlich, wie ihre letzte heftige Leidenschaft zu Prinz Carol (Chopin gab das Modell ab) entstand: »Die letzte Liebe scheint solchen reichen Naturen immer die erste, und so viel ist gewiß, daß, wofern das Gefühl sich nach dem Grade der Begeisterung messen läßt, sie nie zuvor so heiß geliebt hatte. Die Begeisterung, welche sie für andere Männer empfunden, war nur von kurzer Dauer gewesen. Jene hatten nicht verstanden, dieselbe zu unterhalten oder zu erneuern. Die Liebe hatte eine Zeitlang die Täuschung überlebt; dann war das Stadium des Edelmutes, der Fürsorge, des Mitleids, der Ergebung, mit einem Worte, das Stadium des mütterlichen Gefühls eingetreten; und es war fast ein Wunder, daß eine Leidenschaft, von Beginn an so unverständig, so lange leben konnte, obschon die Welt, die nur nach dem Scheine richtet, erstaunt und erzürnt darüber urteilt, diese Frau nun so plötzlich, so unbedingt brechen zu sehen. In allen diesen Leidenschaften war sie kaum acht Tage hindurch glücklich und verblendet gewesen; und dauerte dann die absolute Ergebung ein oder zwei Jahre nach der Liebe, welche sie längst als absurd und unwürdig durchschaut hatte – war dies nicht eine große Aufopferung von Mut und Kraft, weit größer als das Opfer eines ganzen Lebens sein würde, zum Besten eines Wesens, das man des Opfers für würdig hielt?«

Wir verstehen, wie Lucretia sich immer wieder von schwachen Männern angezogen fühlte: ihr unabhängiger Charakter im Verein mit ihrem mütterlichen Instinkt war es, der dies bewirkte. Der Gedanke, beschützt zu werden, blieb ihr unerträglich; jedesmal wenn sie sich auf Wesen stützen wollte, die stärker waren als sie selbst, fühlte sie sich von deren Kälte zurückgestoßen, so daß sie dem Glauben zugänglich wurde, Liebe und Energie ließen sich nur in solchen Herzen vereinigen, die so viel gelitten hatten, wie ihr eigenes.

|172| Wir sehen endlich, wie das Verhältnis zu ihren Kindern – denn Lucretia ist, gleich George Sand, die liebevollste, zärtlichste Mutter – auf ihr Liebesleben einwirken muß: »Sie fühlte mütterlich für ihre Liebhaber, ohne deshalb aufzuhören, eine Mutter für ihre Kinder zu sein; und diese beiden Gefühle, die beständig im Streite mit einander lagen, endeten den Kampf stets mit Vernichtung der weniger hartnäckigen Leidenschaft. Immer gewannen die Kinder den Sieg; die Liebhaber aber, welche, so zu sagen, aus der großen Findelanstalt der Zivilisation genommen waren, mußten notwendigerweise früher oder später dahin zurückkehren.«

Endlich bespricht Lucretia das Verhältnis, in welchem sie zu dem Urteil steht, das die Welt über ihren Charakter und ihr Leben fällt, in Worten, die sich direkt auf George Sand anwenden lassen: »Ich habe niemals Skandal gesucht; ich kann Ärgernis verursacht haben, aber ohne mein Wissen und Wollen. Niemals habe ich zwei Männer zugleich geliebt; niemals hab’ ich – auch nicht in Gedanken – mehr als Einem angehört in der Zeit, solange meine Leidenschaft dauerte. Wenn ich ihn nicht mehr liebte, so betrog ich ihn doch nicht, ich brach mit ihm. Gewiß hatte ich ihm ewige Liebe gelobt, aber in gutem Glauben. Jedes Mal, wenn ich liebte, war es so voll und ganz, daß ich glaubte, es sei zum ersten und letzten Male in meinem Leben. Gleichwohl können Sie mich nicht eine ehrbare Frau nennen; doch ich selbst habe das sichere Gefühl, es zu sein […] Ich gebe mein Leben dem Urteile der Welt anheim, ohne mich dagegen aufzulehnen, ohne zu finden, daß sie in ihren allgemeinen Regeln Unrecht habe, aber auch ohne ihr einzuräumen, daß sie mir gegenüber Recht hat.«*)*

*) Lucretia Floriani. S. 169, 67, 130, 126, 38.

»Lucretia Floriani« bildet scheinbar den schärfsten Kontrast zu der kleinen Gruppe von feinen, schlichten Bauernerzählungen, welche ziemlich bald auf diesen Roman folgen und uns ganz hinauf, bis |173| zum Jahre 1848 führen. In Wahrheit ist der Abstand bis zu »La mare au diable«, »François le champi«, »La petite Fadette« nicht so groß, wie es scheint. Was George Sand zu den Bauern von Berry hinzog, zu den ländlichen Idyllen ihrer Heimat, das war doch dieselbe Rousseausche Naturschwärmerei, welche ihren Protesten gegen die Gesellschaftsordnung Gewicht und Schwung gegeben hatte. Ihr Sekretär, der Deutsche Müller-Strübing, einer von den Vielen, denen gegenüber sie Lucretia Florianis Maximen praktizierte, hatte sie auf Auerbach’s Dorfgeschichten aufmerksam gemacht und gab dadurch den Anstoß zu einem Teil der Schöpfungen, welche nicht weniger durch sittliche Reinheit als durch Gefühlsreichtum ihr den weitesten Leserkreis verschafft haben. Wie Auerbach durch Spinoza, den Apostel der Naturfrömmigkeit, die Anregung empfing, der Dichter der Bauern zu werden, so fand George Sand sie in dem Naturverherrlicher Rousseau. Gewiß sind ihre französischen Bauern nicht »wahr« in dem Sinne, in welchem diejenigen Balzacs in »Les Paysans« es sind; sie sind nicht nur mit warmer Sympathie aufgefaßt, wie die seinigen mit lebendiger Antipathie, sondern sie sind liebenswürdig und zartfühlend; sie verhalten sich zu den wirklichen Bauern, wie Theokrits Hirten sich zu denen Griechenlands verhalten. Nichtsdestoweniger haben diese Erzählungen einen Vorzug, der ausschließlich in der Wahl des Stoffes beruht, und den die übrigen Romane der Dichterin entbehren. Sie sind naiv; sie besitzen die immer, in der französischen Litteratur jedoch doppelt seltne, Anziehungskraft der Naivetät. Alles was George Sand vom Bauernkinde, vom Landmädchen an sich hatte; Alles, was in ihr verwandt ist mit dem geheimnisvollen Wachstum der Pflanze, mit der Brise, die weht, man weiß nicht woher und wohin; all’ das Unbewußte, das Stumme, welches in ihrem äußern Hervortreten so deutlich war, aber in ihren Werken so brach lag, weil es vom Pathos und von der Deklamation verwüstet war, offenbarte sich hier in seiner schlichten Naivetät.

|174| »La mare au diable« (1841) ist die Perle unter diesen Dorfgeschichten. Sie bezeichnet die Kulmination des Idealismus in dem französischen Roman. George Sand hat hier in Wirklichkeit geschrieben, was sie in jenen früher zitierten Worten als ihr Programm angab: das Hirtengedicht des neunzehnten Jahrhunderts.

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