Stand nicht mancher meiner Leser schon einmal in einem Spiegelkabinette, und sah sich selbst und alle Gegenstände über sich, unter sich, nach allen Seiten ins Unendliche vervielfacht? Solchen Falls hat er eine Vorstellung von dem Schwindel, der uns zuweilen Angesichts der romantischen Kunstform erfassen kann. Man denke an den drolligen Effekt, den es macht, wenn in Holberg’s »Ulysses von Ithacia« die Personen beständig Possen mit Dem treiben, was sie selber sind und vorstellen, wenn Ulysses seinen langen Bart vorzeigt, der ihm während des zehnjährigen Feldzugs gewachsen ist, wenn an einer Koulisse geschrieben steht: »Dies soll Troja sein«, und wenn die Juden zuletzt herein stürzen und dem Schauspieler die Kleider ausziehen, die sie ihm zur Darstellung der Ulysses-Rolle geliehen haben. Die Wirkung der Schauspielkunst beruht, wie bekannt, auf der Illusion, und Illusion ist eine vielen Künsten gemeinsame Bestimmung. Eine Statue und ein Gemälde z. B. illudiren eben so wohl wie ein Bühnenstück, und die Illusion beruht darauf, dass man einen Augenblick den Stein für ein Menschenbild und die bemalte Fläche für eine Wirklichkeit nimmt, welche in die Tiefe geht, |197| wie man jeden Augenblick die Person des Schauspielers über seiner Rolle vergißt. Diese Illusion ist jedoch nur momentan vollkommen. Der ganz Ungebildete kann, sich wohl einen Augenblick völlig täuschen lassen: so erschoß ein indischer Soldat in Kalkutta den Schauspieler, welcher den Othello spielte, mit dem Ausruf: »Nie soll man sagen, daß in meiner Gegenwart ein Neger eine weiße Frau ermordet hat!« Allein bei dem Gebildeten ist die Illusion nur momentweise vorhanden, dann wieder einen Augenblick aufgehoben, und so fort. Sie kommt und geht, kommt im Augenblick, die Tragödie lockt Einem Thränen in die Augen, geht im Augenblick, man zieht sein Schnupftuch hervor und belorgnettirt seinen Nachbar. In dieser Illusion ist nun die Wirkung des Kunstwerks wie in ihrer allerfeinsten Spitze gesammelt. Die Illusion ist der Reflex des Kunstwerks in der Seele des Zuschauers. Die Illusion ist der Schein, das Spiel, wodurch Das, was in Wahrheit unwirklich ist, Wirklichkeit, Ernst für den Zuschauer wird.
Im schlichten, ehrlichen Kunstwerke ist der Illusion keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Es ist nicht auf dieselbe abgesehen, Nichts ist gethan, um sie zu verstärken oder ihr einen besonders reizenden Charakter zu geben, noch viel weniger ist Etwas gethan, um sie zu vernichten.
Man bemerkt jedoch leicht, daß die Illusion in allen Künsten etwas derartig Reizendes und Pikantes |198| erhalten kann. Wenn z. B. auf einem antiken Basrelief eine Heime oder ein anderes Götterbild aus Stein dargestellt ist, wenn ein Bild ein Maleratelier oder ein Zimmer darstellt, in welchem Bilder hangen, so ist gleichsam schon stärker angedeutet, daß das Basrelief nicht selbst für Stein gelten, das Bild nicht selbst Bild sein will, und von gleicher Art ist die Wirkung, wenn in einer Komödie z. B. diese oder jene Person in die Worte ausbricht: »Hältst Du mich für einen Theateronkel?«
Noch schärferes Licht fällt auf die Bühnenillusion, oder vielmehr noch stärker wird sie in Vergessenheit gebracht, wenn in einem Stücke die auftretenden Personen selbst eine Komödie aufführen, wie in Shakspeare’s »Hamlet« oder im »Sommernachtstraum«. Daß Die, welche nicht an diesem Schauspiele theilnehmen, auch Komödie spielen, erscheint dann sonderbar oder unmöglich. Die Illusion ist hier also künstlich verstärkt und doch gleichzeitig vermindert, indem die Aufmerksamkeit auf sie hingelenkt wird. Es liegt auf der Hand, daß dies Spiel mit der Illusion großen Eindruck auf Tieck gemacht hat und machen mußte. Da es die Illusion ist, welche die Kunst zur Wirklichkeit und zum Ernst für den Zuschauer macht, empfindet Derselbe durch die Störung der Illusion recht ernstlich die Kunst als freies, willkürliches Spiel. Tieck treibt also ironisch seine Possen mit Allem, was man unerwähnt zu lassen pflegt, um die Illusion nicht zu stören. Im »Gestiefelten Kater« fragt der |199| König den Prinzen Nathanael: »Aber sagen Sie mir nur, da Sie so weit weg wohnen, wie Sie unsere Sprache so geläufig sprechen können?« – Nathanael: »Still!« – König: »Wie?« – Nathanael: »Still! Still! Sein Sie doch ja damit ruhig, denn sonst merkt es am Ende das Publikum da unten, daß Das eben unnatürlich ist.« – Gleich darauf bemerkt auch einer der Zuschauer: »Warum kann denn nur der Prinz nicht ein bischen eine fremde Sprache reden, die sein Dolmetscher verdeutschte? – Das Ganze ist ausgemacht dummes Zeug.« Diese Zuschauer-Bemerkung ist, wie man leicht einsieht, polemisch, wider das platte Verlangen nach Natürlichkeit in der Kunst gerichtet, welches von Ifffland und Kotzebue vertreten ward. Dies Verlangen kommt besonders in der französischen mißverftändlichen Auffassung des Aristoteles, seiner Lehre von der Einheit der Zeit und des Raumes, zu Worte. In Bezug hierauf hatte Schlegel, nach Lessing’s Vorgange, bemerkt: wenn man schon den großen Sprung mache, die Bretter für die Welt anzusehen, könne man wohl auch den kleineren mitmachen und hie und da die Bretter verschiedene Lokalitäten bedeuten lassen. Die Romantiker rühmen daher auch unablässig und als eine höhere Kunststufe, denn unser jetziges, das primitive Shakspeare’sche Theater, wo ein Zettel an der Koulisse einfach den Ortscharakter angab. Diejenigen, welche für Natürlichkeit in der Kunst eintraten, wünschten damals die |200| Koulissen durch feste Wände ersetzt zu sehen; Schlegel meint, wenn man schon drei Wände auf der Bühne begehre, müsse man gleich einen Schritt weiter gehn und ihr noch eine vierte Wand gegen die Zuschauer geben.
Aus Trotz gegen diese Philistrosität in der Kunstanschauung macht sich Tieck den Spaß, die Zuschauer auf die Bühne zu bringen und das Stück im Stücke vor ihren Augen, von ihren kritischen Bemerkungen begleitet, vorgehen zu lassen. Sie schelten, sie loben; bald wird eine Scene als überflüssig getadelt, bald wird der Dichter gerühmt, weil er den Muth gehabt habe, Pferde auf die Bühne zu bringen. – An einer andern Stelle treten im. Königlichen Schlosse der Hosgelehrte und Hanswurst disputirend vor dem Throne des Königs auf. »Das Thema meiner Behauptung ist,« sagt Ersterer, »daß ein neulich erschienenes Stück: Der gestiefelte Kater, ein gutes Stück sei.« – »Das ist gerade Das, was ich leugne,« sagt Hanswurst, worauf einer der Zuschauer entsetzt ausruft: »Was ist denn Das wieder? Die Rede ist ja wohl von demselben Stücke, das hier gespielt wird.« – In der »Verkehrten Welt« geht es noch toller her. Plötzlich, als Skaramuz auf seinem Esel durch den Wald trottet, bricht ein Gewitter los. Sucht er etwa Schutz vor demselben? Keineswegs. »Wo, Henker, kommt das Gewitter her? Davon steht ja kein einziges Wort in meiner Rolle. Was sind Das für Dummheiten! Und ich und mein Esel werden darüber |201| pudelnaß. – Maschinist! Maschinist! so halt’ er doch in’ Teufels Namen inne!« Der Maschinist tritt auf und entschuldigt sich damit, das Publikum habe etwas Theaterdonner verlangt, und er sei den Wünschen desselben nachgekommen. Skaramuz beschwört das Publikum, seinen Befehl zu ändern. Umsonst, es will ein Gewitter. »Wie? In einem stillen, sanften, historischen Schauspiel?« Es donnert weiter. »Das ist ganz einfach,« sagt der Maschinist. »Ich habe hier gestoßenen Kolophonium, den blase ich durch ein Licht, so wird daraus der Blitz; in demselben Augenblick wird oben eine eiserne Kugel gerollt, und Das bedeutet dann den Donner.« – Weiter läßt sich das Spiel mit der Illusion nicht treiben, als dadurch noch, daß in dem Stücke, welches die mitspielenden Zuschauer ansehen, wiederum für andere Zuschauer Komödie gespielt wird.
»Leute, bedenkt einmal, wie wunderbar!« sagt der Dummkopf Scävola. »Wir sind hier die Zuschauer, und dorten sitzen die Leute nun auch als Zuschauer.« So stecken die Stücke wie Schachteln in einander. – Endlich wird die Tollheit zur dritten Potenz erhoben, indem plötzlich in dem neuen innersten Schauspiel wieder eine Scene vorkommt, in welcher ein Schauspiel aufgeführt wird. Kann man sich diese Verwirrung vorstellen? Man denke sich den »Verwunschenen Prinzen« so abgefaßt, daß Derselbe den »Egmont« aufführen sähe, aber für Egmont und Klärchen würde »Der Nacht|202|wächter« gespielt, und vor Zeisig und Röschen als Zuschauern würde wiederum »Hamlet« aufgeführt. Man frage sich einen Augenblick, ob man, wenn man auf dem innersten Theater eine Scene aus letztgenanntem Stücke tragiren sähe, den ganzen Zusammenhang im Kopfe haben könnte? »Es ist gar zu toll,« ruft Scävola aus. »Seht, Leute, wir sitzen hier als Zuschauer und sehn ein Stück; in jenem Stück sitzen wieder Zuschauer und sehn ein Stück, und in jenem dritten Stück wird jenen dritten Akteurs wieder ein Stück vorgespielt,« und erklärend fügt er echt romantisch hinzu: »Man träumt oft auf ähnliche Weise, und es ist erschrecklich; auch manche Gedanken spinnen und spinnen sich auf solche Art immer weiter und weiter ins Innere hinein. Beides ist auch, um toll zu werden.«
Aber die Musik zwischen den Akten enthält den Schlüssel der Dichtung. Das muntre Allegro sagt: »Wißt Ihr denn, was Ihr wollt, die Ihr in allen Dingen den Zusammenhang sucht? Wenn der goldene Wein im Glase blinkt, und der gute Geist von dort in Euch hinein steigt; wenn Ihr Leben und Seele in doppelter Wirkung empfindet, und alle Schleufen Eures Wesens geöffnet sind, – was denkt Ihr da, und was vermögt Ihr da zu ordnen? Ihr genießt Euch selbst und die harmonische Verwirrung.« – Und das Rondo sagt: »So oft sich der Philosoph verwundern muß, so oft er ein Ding nicht begreift, ruft er aus: Darin ist kein Verstand! Ja, der Verstand, wenn er sich recht auf |203| den Grund kommen will, wenn er sein eigenes Wesen bis ins Innerste erforscht und sich nun selbst beobachtet und beobachtend vor sich liegen hat, sagt: Darin ist kein Verstand. . . . Doch wer mit Vernunft die Vernunft verachtet, ist dadurch wieder vernünftig Manche Verse sind toll gewordene Prose, manche Prose ist gichtlahmer Vers; was zwischen Poesie und Prosa liegt, ist auch nicht das Beste, – o Musik! wohin willst du? Nicht wahr, du gestehst es zu: Auch in dir ist kein Verstand.«
In seinen kritischen Schriften motivirt Tieck selbst sein Verfahren dadurch, daß er den Zweck des romantischen Lustspiels darin setzt, den Zuschauer ganz in eine träumerische Stimmung einzuwiegen. »Mitten im Traume,« sagt er, »pflegt die Seele oft selbst nicht an ihre Phantome zu glauben; aber schläft der Träumende weiter, so bringt die unendliche Menge neuer magischer Gestalten die Illusion zurück, hält uns fest in der verzauberten Welt, läßt uns den Maßstab der Wirklichkeit verlieren und giebt uns zuletzt völlig den Unbegreiflichkeiten hin.«
Die Musik ist die unreflektirte Tiefe, zu welcher die müde Phantasie zurück kehrt, wenn sie sich selbst endlos vervielfacht in ihrem Spiegelkabinette betrachtet hat. – Das Kunstwerk gleicht hier einer jener geschnitzten Elfenbeinkugeln, die man zuweilen in Kunstsammlungen erblickt, wo in der ersten Kugelschale wieder eine zweite lose liegt, die ihrerseits eine dritte umschließt, u. s. f.
|204| Wir finden das Spiegelkabinett mit seiner Reflexionsvervielfältigung in unserer eigenen Literatur von S. Kierkegaard*)*
psychologisch angewandt. Wie der deutsche Romantiker ironisch über seinem Schauspiel mit dessen chinesischem Schachtelspiel von Scenen und Figuren schwebt, so entfernt der dänische Psycholog sich beständig mehr und mehr von seinem Stoffe, indem er einen Verfasser in den anderen schachtelt. Man höre seine Erklärung in der »Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift zu den philosophischen Brocken«: »Mein Verhältnis zu meinen Büchern ist noch äußerlicher, als das eines Dichters, welcher die Personen erdichtet und doch selber, nach der Vorrede, der Verfasser ist. Ich bin nämlich unpersönlich oder persönlich in dritter Person ein Souffleur, welcher dichterisch Verfasser erschaffen hat, deren Vorreden, ja deren Namen wieder ihr eigenes Erzeugnis sind. So ist in den pseudonymen Schriften kein einziges Wort von mir selbst; ich habe keine Ansicht über dieselben, außer als unbetheiligter Dritter, keine Kenntnis von ihrem Werthe, außer als Leser, nicht das entfernteste Privatverhältnis zu ihnen, wie man solches ja auch unmöglich zu einer doppelt-reflektirten Mittheilung haben kann. Ein einziges Wort von mir persönlich in meinem eigenen Namen würde ein an|205|maßendes Selbstvergessen sein, das durch dies eine Wort, dialektisch betrachtet, die Schuld trüge, die Pseudonyme ihrem Wesen nach vernichtet zu haben. So wenig ich in »Entweder–Oder« der Verführer oder der Assessor bin, so wenig bin ich der Herausgeber Victor Eremita, just eben so wenig; er ist ein dichterisch-wirklicher subjektiver Denker, wie man ihn ja in dem Kapriccio »In vino veritas« wiederfindet. Ich bin in »Angst und Beben« eben so wenig Johannes de silentio, wie der Ritter des Glaubens, den er schildert, just eben so wenig, und wieder just eben so wenig Verfasser der Vorrede zum Buche, welche die Individualitäts-Replik eines dichterisch-wirklichen Denkers ist. Ich bin in der Leidensgeschichte »Schuldig? – Nicht-schuldig?« eben so wenig der quidam des Experimentes wie der Experimentator, just eben so wenig, da der Experimentator ein dichterisch-wirklicher subjektiver Denker und der Gegenstand des Experimentes sein Erzeugnis laut psychologischer Konsequenz ist. Ich bin also das Gleichgültige, d. h. es ist gleichgültig, was und wie ich bin. . . . Ich habe von Anfang an recht wohl begriffen und begreife, daß meine persönliche Wirklichkeit etwas Genirendes ist, das die Pseudonymi pathetisch-eigenwillig je eher, je lieber fort wünschen oder so unbedeutend, wie möglich, gemacht wünschen, und das sie doch wieder ironisch-aufmerksam als die abstoßende Gegenwehr mitzubehalten wünschen müßten; denn mein Verhältnis ist die Einheit: der |206| Sekretair und, ironisch genug, der dialektisch reduplicirte Verfasser des Verfassers oder der Verfasser zu sein.« Man wird Das zur Noth verstehen. So verschieden auch die Ursachen sind, ist das Phänomen doch sehr analog mit dem vorhergehenden. Um sich das große Publikum vom Leibe zu halten, um sein eigenes Herz nicht preiszugeben, stellt Kierkegaard so viele Verfasser, wie möglich, zwischen das Publikum und sich. Ich bekenne, daß für mich sein Verfahren Künstelei und eine Art Reminiscenz der romantischen Ironie ist. Denn so weit Kierkegaard durch seinen Inhalt über die Romantik hinaus ist, so gebunden an die Romantik ist er durch seine Kunstform. Ich bin nicht so unbewandert in Kierkegaard, um zu verkennen, daß er nicht selbst die Verantwortlichkeit für Das, was seine erdichteten Personen, der Verführer und der Assessor, vorbringen, tragen oder tragen wollen kann – Das versteht sich ja von selbst; allein es ist pure Einbildung, zu wähnen, daß Kierkegaard wirklich seine Verfasser aus zweiter Hand zu erschaffen, also z. B. nicht bloß den Helden in der Verlobungsgeschichte zu dichten, sondern ihn so zu dichten vermocht hätte, wie Frater Taciturnus ihn dichten mußte. Das ist reine Spiegelfechterei. Mehrere von Kierkegaard’s Verfasserpseudonymen, wie z. B. Constantin Constantius und Frater Taciturnus, sind kaum von einander zu unterscheiden, und man merkt dem inneren Pseudonymus nicht an, daß er gerade von diesem |207| äußeren gedichtet ist. Der dritte Abschnitt der »Stadien auf dem Lebenswege« war, wie eine Auszeichnung Kierkegard’s beweist, ursprünglich für »Entweder–Oder« bestimmt. Wenn in der »Abschließenden Nachschrift« behauptet wird, daß kaum der aufmerksamfte Leser in den »Stadien« einen einzigen Ausdruck, eine einzige Gedanken- oder Sprachwendung finden werde, wie in »Entweder–Oder«, so zeugen diese Worte von einer großen Selbstverblendung. Beide Werke verrathen in jeder Zeile, daß sie vom selben Verfasser stammen, und dieselben Gedanken kommen häufig fast mit denselben Worten vor. So hat der Assessor in den »Stadien« ganz dieselbe Auffassung von »Aladdin«, wie der Aesthetiker in »Entweder–Oder«: »Aladdin ist groß durch seinen Wunsch, dadurch, daß seine Seele die Kraft hat, zu begehren.«Dieser Reflexionsform entspricht nun bei den Romantikern die wildeste Launenhaftigkeit hinsichtlich der Ordnung ihrer Schilderung. »Die verkehrte Welt« beginnt mit dem Epilog und endet mit dem Prolog; in solchen Zügen dokumentirt die Phantasie ihre ungebundene Freiheit. Frater Taciturnus schildert, was ihm vor einem Jahre, und gleichzeitig, was ihm im laufenden Jahre begegnet ist. Dies schreibt er solchermaßen nieder, daß er am Vormittag eines jeden Tages berichtet, was er an demselben Tage des verflossenen Jahres erlebt hat (welch ein Gedächtnis!), und um Mitternacht, was ihm während des laufenden |208| Tages begegnet ist, wobei es natürlich fast unmöglich wird, die beiden Ereignisfäden auseinander zu halten. In Hoffmanns »Kater Murr« schreibt der Kater seine Memoiren auf die Blätter eines Hestes, welche auf der Rückseite ein anderes Manuskript, nämlich die Aufzeichnungen seines Herrn, des Kapellmeisters Kreisler, enthalten. Beide Seiten des Heftes werden nun regelmäßig abgedruckt, so daß wir abwechselnd, mit den tollsten Satz- und Wortunterbrechungen, die zwei gar nicht auf einander bezüglichen Geschichten erhalten, welche sich auf der Vorder- und Rückseite des Heftes bunt durch einander befinden. Weiter scheint die Willkür, die Launenhastigkeit, das Spiel mit der Produktion kaum gehen zu können. Und doch geht die Auflösung der festen Form noch viel weiter. Man bleibt in der romantischen Schule nicht dabei stehen, die Kunstform aufzulösen; man löst die menschliche Persönlichkeit selber auf, und zwar in vielfältiger Weise.
Novalis ist Der, welcher damit den Anfang macht. In »Heinrich von Ofterdingen« scheint der Held Alles, was er erfährt, beständig im Voraus zu kennen. Alles, was er sieht und hört, scheint nur neue Riegel in seiner Seele beiseit zu schieben, »versteckte Tapetenthüren in ihm zu öffnen.« Am seltsamsten aber wird er doch ergriffen, als er in der Höhle des Einsiedlers, des Grafen von Hohenzollern, ein geheimnisvolles Buch findet, und in diesem Buche, ohne es noch deuten zu können, das |209| Räthsel seines eigenen Daseins erblickt, wie dies Dasein schon vor seiner Geburt begonnen hat und sich in die Zukunft nach seinem Tode hinein erstreckt. Da Novalis’ Roman Allegorie und Mythe ist, da er ein einzelnes Individuum zum Träger der ganzen ewigen Geschichte des Gemüthes machen will, benutzt er dazu, in Uebereinstimmung mit einer der ältesten Hypothesen der Menschheit, das Mittel, ihn als mehreren Geschlechtern nach einander angehörig zu schildern, so daß Vergangenheit und Zukunft stets als Erinnerung und Ahnung in seine gegenwärtige Existenz hinein spielen. Er denkt sich nicht eine eigentliche Seelenwanderung, aber die Zeit hat für ihn, den Romantiker, der beständig nur ein Verhältnis zum Ewigen hat, eine so untergeordnete Bedeutung, daß, wie er keinen Unterschied zwischen einem natürlichen und einem mirakulösen Ereignisse anerkennt, so auch kein Unterschied zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft für ihn besteht. So wird die Individualität der Länge nach über, eine ganze Spanne der Weltgeschichte ausgereckt. Wir treffen die romantische Benutzung der Präexistenz in unserer eignen Literatur in dem Heiberg’schen Romanzen-Cyklus »Die Neuvermählten«.*)*
Man erinnere sich der Stelle, wo |210| die Mutter ihrem Pflegesohne von der Hinrichtung ihres Sohnes erzählt:Friedrich.
Gertrud.
Friedrich.
Hier bei Heiberg finden wir die schönste, die poesievollste Benutzung der Präexistenz. Allein die Romantik bleibt dabei nicht stehen. Sie begnügt sich so wenig |211| damit, die Individualität in die Vergangenheit zurück zu schleudern, wie damit, ihr den breiten, prächtigen Pfauenschwanz eines künftigen Lebens anzuheften. Bald spaltet sie das Ich mittendurch, bald löst sie es in seine Bestandtheile aus. Sie zerspaltet das Ich und vertheilt es im Raume, wie sie es durch Ausrecken des Ich in der Zeit vertheilte. Sie respektirt ja weder Raum noch Zeit. Das Wesen des Selbstbewußtseins ist Selbstverdoppelung. Aber das Selbst ist krank, welches diese Verdoppelung nicht zu überwinden und beherrschen vermag. Wir sahen Das bei Roquairol und William Lovell. Kein Unglück und Leid ist größer, als die krankhafte Selbstbespiegelung. Man scheidet sich dabei von sich selber ab, blickt auf sich selbst als Zuschauer, und hat bald das schreckliche Gefühl, welches die Bewohner der Zellengefängnisse empfinden, wenn sie auf das kleine Guckloch in der Thür blicken und das Auge des Aussehers auf sich geheftet sehn. Das eigene Auge wird Einem in diesem Zustande so entsetzlich, als wäre es das eines Andern. Was diesem Zustande die größte Dauer verleiht, ist einerseits das religiöse und moralische Gefühl, daß man sich selbst nicht einen Moment aus dem Gesichte verlieren, sondern an sich selbst arbeiten, sich selbst bessern wird, andererseits die natürliche Wißbegier dem Unbekannten gegenüber; man erscheint sich selbst wie ein Land, dessen Küsten man kennt, aber dessen Inneres man erst entdecken soll. Diese Entdeckung vollzieht sich |212| langsam und unmerklich im Leben eines gesunden Menschen. Eines schönen Tages blickt der arme Gefangene von seiner Arbeit auf nach dem Guckloche, und er bemerkt, daß das Auge verschwunden ist. Er athmet, er lebt erst jetzt. Was immer sein Thun sein möge, noch so groß oder noch so gering, mag er ein göttlicher Heros oder nur ein nützlicher Mensch, Michel Angelo oder Korkschneider sein, von diesem Augenblick an wird er ein Gefühl des Gleichgewichts und der Einheit in der Seele haben. Er empfindet sich als eins und ganz. Bei kränklichen, thatunfähigen Naturen entweicht das Auge niemals vom Glasloche, und dauert dieser Zustand fort, so steht das Individuum am Rande des Wahnsinns. Aber diesen Zustand halten die Romantiker fest. So entsteht die romantische visionäre Doppelgängerei, deren Ausgangspunkt Jean Paul’s Leibgeber-Schoppe (in der Reflexion über das Fichte’sche Ich) ist, und die sich durch fast sämmtliche Erzählungen Hoffmanns zieht, wo sie ihren Höhepunkt in den »Elixiren des Teufels« erreicht. Man findet sie überall bei den Romantikern, bei Kleist im »Amphitryon«, bei Achim von Arnim in »Die beiden Waldemar«. Was Hoffmann am Individuum interessirt, ist nicht die Persönlichkeit, sondern ihr Spiegelbild oder ihr Doppelbild. Für ihn ist das Ich nur eine Maske über einer anderen Maske, und er ergötzt sich damit, diese Masken abzustreifen. Was wir bei Roquairol angedeutet sahen, ist bei ihm ausgeführt.
|213| Verweilen wir einen Augenblick bei dem Helden in den »Elixiren des Teufels«, Bruder Medardus; denn diese Gestalt ist typisch. Es ist unmöglich, das geheimnisvolle Graufen dieses Buches in kurzem Auszuge zu schildern; man muß es selbst lesen. Ein schrecken- und wollustdurchhauchteres Buch hat die romantische Schule, welche sich doch so häufig in dieser Richtung versuchte, nicht hervorgebracht. In einem Kloster wird eine wohlverkorkte Flasche mit einem Teufels-Elixir aufbewahrt, welche zum Nachlasse des heiligen Antonius gehört hat. Man schreibt ihrem Inhalte magische Wirkungen zu. Ein Mönch, welcher davon getrunken, erhält dadurch eine Beredtsamkeit, die ihn binnen Kurzem zum berühmtesten Kanzelredner des Klosters macht. Aber diese Beredtsamkeit ist nicht fromm noch heilsam, sondern von weltlicher, unheimlich bethörender und dämonischer Art. Bruder Medardus trinkt aus der Flasche: eine schöne Frau, sein Beichtkind, verliebt sich in ihn, und die Sehnsucht nach den Freuden und Entzückungen des weltlichen Lebens treibt ihn aus dem Kloster. Er findet einen jungen Mann, den Grafen Viktorin, in einem Walde am Rande eines Abgrunds schlafen, stürzt ihn halb zufällig in denselben hinab, und wird nun von Allen für ihn gehalten: »Mein eignes Ich, zum grausamen Spiel eines launenhaften Zufalls geworden und in fremdartige Gestalten zerfließend, schwamm ohne Halt wie in einem Meer all’ |214| der Ereignisse, die wie tobende Wellen auf mich herein brausten. Ich konnte mich selbst nicht wiederfinden! Offenbar wurde Viktorin durch den Zufall, der meine Hand, nicht meinen Willen leitete, in den Abgrund gestürzt! – ich trete an seine Stelle.« Und nicht genug mit diesen Seltsamkeiten, fügt er hinzu: »Aber Reinhold kennt den Pater Medardus, den Prediger im Kapuzinerkloster und so bin ich ihm Das wirklich, was ich bin! – Aber das Verhältnis mit der Baronesse, welches Viktorin unterhält, kommt auf mein Haupt, denn ich bin selbst Viktorin. Ich bin Das, was ich scheine, und scheine Das nicht, was ich bin; mir selbst ein unerklärlich Räthsel, bin ich entzweit mit meinem Ich!«
In seiner eignen Gestalt tritt Medardus nun in Verbindung mit der Geliebten Viktorin’s, der Baronesse, welche Nichts von der Verwechselung merkt. Von allen weltlichen Wünschen berückt seit dem Genusse des Zaubertranks, wird er von allen Weibern geliebt, schwelgt in Sinnengenüssen, und begeht nach und nach, um seine Absichten zu erreichen, eine ganze Reihe der entsetzlichsten Verbrechen und Mordthaten. Schauerliche Visionen bedräuen ihn jeden Augenblick und hetzen ihn von Ort zu Ort.
Zuletzt wird er jedoch denuncirt und in einen Kerker geworfen. Hier erreicht nun die Verwirrung und die Reflexion ihren Gipfelpunkt. »Ich konnte nicht schlafen. In den wunderlichen Reflexen, die der düstre, |215| flackernde Schein der Lampe an Wände und Decke warf, grinzten mich allerlei verzerrte Gesichter an; ich löschte die Lampe aus, ich barg mich in die Strohkissen, aber gräßlicher tönte dann das dumpfe Stöhnen, das Kettengerassel der Gefangenen durch die grauenvolle Stille der Nacht.« Ihm ist, als höre er das Todesröcheln Derer, die er ermordet. Da vernimmt er deutlich unter sich ein leises, abgemessenes Klopfen. »Ich horchte auf, das Klopfen dauerte fort, und dazwischen lachte es seltsamlich aus dem Boden hervor! Ich sprang auf und warf mich auf das Strohlager, aber immerfort klopfte es, und lachte und stöhnte dazwischen. Endlich rief es leise, leise, aber mit häßlicher, heiserer, stammelnder Stimme hinter einander fort: Me-dar-dus! Me-dar-dus! Ein Eisstrom ergoß sich mir durch die Glieder! Ich ermannte mich und rief: Wer da! Wer ist da?« Zuletzt klopft und stammelt es grade unter seinen Füßen: »Hihihi – hihihi ––– Brü-der-lein –Brü-der-lein – Me-dar-dus – ich bin da –– bin da – ma-mach auf – auf – wir wo-wollen in den Wa-Wald gehn – Wald gehn!« Da glaubt er mit Entsetzen seine eigene Stimme zu vernehmen. Endlich heben sich einige Steine im Fußboden, und sein eignes Gesicht in der Mönchskutte starrt ihm entgegen. Dieser zweite Medardus ist eingekerkert, wie er, hat gestanden, und ist zum Tode verurtheilt. Nun geht Alles weiter wie in einem Traume; er weiß nicht, ob er selbst der |216| Held der Ereignisse ist, die er erlebt zu haben meint, oder ob Alles nur ein lebendiger Traum ist. »Mir ist, als hätte ich träumend die Geschichte eines Unglücklichen vernommen, der wie ein Spielball dunkler Mächte hiehin und dorthin geschleudert und von Verbrechen zu Verbrechen getrieben ward.«
Er wird freigesprochen, die glücklichste Zeit seines Lebens ist erschienen, er soll mit seiner Geliebten vereint werden. Der Vermählungstag bricht an, die Braut ist zur Trauung geschmückt. »In dem Augenblick entstand ein dumpfes Geräusch auf der Straße, hohle Stimmen riefen durch einander, und das dröhnende Gerassel eines schweren, langsam rollenden Wagens ließ sich vernehmen. Ich eilte ans Fenster! – Da stand eben vor dem Palast der vom Henkersknecht geführte Leiterwagen, auf dem der Mönch rückwärts saß, vor ihm ein Kapuziner, laut und eifrig mit ihm betend. Er war entstellt von der Blässe der Todesangst und dem struppigen Bart – doch waren die Züge des gräßlichen Doppelgängers mir nur zu kenntlich. So wie der Wagen, augenblicklich gehemmt durch die andrängende Volksmasse, wieder fortrollte, warf er den stieren, entsetzlichen Blick der funkelnden Augen zu mir heraus, und lachte und heulte herauf: »Bräutigam, Bräutigam! – komm – komm aufs Dach – aufs Dach – da wollen wir ringen mit einander, und wer den Andern herabstößt, ist König und darf Blut trinken!« Ich schrie |217| auf: »Entsetzlicher Mensch – was willst Du – was willst Du von mir?« – Aurelie umfaßte mich mit beiden Armen, sie riß mich mit Gewalt vom Fenster, rufend: »Um Gott und der heiligen Jungfrau willen – Sie führen den Medardus, den Mörder meines Bruders, zum Tode – Leonard – Leonard!« – Da wurden die Geister der Hölle in mir wach und bäumten sich auf mit der Gewalt, die ihnen verliehen über den frevelnden, verruchten Sünder. – Ich erfaßte Aurelien mit grimmer Wirth, daß sie zusammen zuckte: »Ha ha ha – Wahnsinniges, thörichtes Weib –– ich – ich, Dein Buhle, Dein Bräutigam, bin der Medardus – bin Deines Bruders Mörder – Du, Braut des Mönchs, willst Verderben herabwinseln über Deinen Bräutigam? Ho ho ho! – ich bin König – ich trinke Dein Blut!« – Er stößt sie nieder – ein Blutstrom spritzt über seine Hand. Er stürzt auf die Straße hinab, reißt den Mönch vom Wagen, theilt nach rechts und links Messerstiche und Faustschläge aus und rennt in den Wald. »Nur der Gedanke, zu fliehen wie ein gehetztes Thier, stand fest in meiner Seele. Ich stand auf, aber kaum war ich einige Schritte fort, als, aus dem Gebüsch hervor rauschend, ein Mensch auf meinen Rücken sprang und mich mit den Armen umhalste. Vergebens versuchte ich ihn abzuschütteln – ich warf mich nieder, ich drückte mich hinterrücks an die Bäume, Alles umsonst. Der Mensch kicherte und lachte höhnisch; da brach der |218| Mond hell leuchtend durch die schwarzen Tannen, und das todtenbleiche, gräßliche Gesicht des Mönchs – des vermeintlichen Medardus, des Doppelgängers, starrte mich an mit dem gräßlichen Blick, wie von dem Wagen herauf. – »Hi – hi –hi – Brüderlein – Brüderlein, immer, immer bin ich bei Dir – lasse Dich nicht – lasse – Dich nicht – Kann nicht lau-laufen – wie Du – mußt mich tra-tragen – Komme vom GaGalgen – haben mich rä-rädern wollen – hi hil« – Diese Situation wird ins Unendliche fortgesponnen, doch ich breche ab. Bis zum Schlusse des Buches ist man Unklar über die wahre Bedeutung der Ereignisse und den moralischen Charakter der Handlungen, so sehr hat die Phantasterei hier die Persönlichkeit aufgelöst.
Es ist bekannt, in welchem Grade Ingemann bei uns Hoffmann auf dieser Bahn gefolgt ist. Er beutet z. B. das unheimliche Grauen aus, welches in der Vorstellung liegen kann, aus einem Kirchhofe bei nächtlicher Weile dreimal seinen eigenen Namen zu rufen. Man vergleiche sein Märchen »Die Sphinx« und andere in der sogenannten Callot-Hoffmann’schen Manier. Aber, wie schon gesagt, die Romantik begnügt sich keineswegs damit, das Ich solchermaßen zu dehnen und zu spalten, es in Zeit und Raum zu vertheilen, sie löst das Ich in seine Bestandtheile auf, nimmt Stücke aus demselben heraus, fügt demselben Stücke hinzu, regiert es mit freier Phantasie Dies ist einer der Punkte, in welchen |219| die Romantik am tiefsten ist. Hier stehen wir bei der Psychologie der Romantik. Dieselbe ist wahr und tief, aber einseitig. Die Romantik verweilt in dieser Beziehung stets bei der Nachtseite der Dinge, bei der Nothwendigkeit, sie enthält keinen befreienden oder erhebenden Zug.
In alten Tagen betrachtete man das Ich, die Seele, die Persönlichkeit als ein Wesen, dessen Eigenschaften seine sogenannten Fähigkeiten und Kräfte wären. Das Wort »Fähigkeit« und »Kraft« bedeutet aber ja nur, daß die Möglichkeit für gewisse Ereignisse, des Sehens, des Lesens etc., in mir vorhanden ist. Mein wahres Wesen besteht nicht aus den Möglichkeiten, sondern aus diesen Ereignissen selbst, aus meinen wirklichen Zuständen. Das Wirkliche in mir ist eine Reihenfolge innerer Ereignisse. Mein Ich wird für mich aus einer langen Reihe von Bildern und Ideen gebildet, die mir als innere erscheinen. Von diesem Ich büße ich täglich und fortwährend Etwas ein. Die Vergessenheit verschlingt einen ungeheuren Theil davon. Von allen Gesichtern, die ich gestern und vorgestern auf der Straße sah, von all’ diesen sinnlichen Wahrnehmungen, die mein waren, bleiben mir heute kaum zwei oder drei übrig. Gehe ich noch weiter zurück, so taucht nur die eine oder andere besonders kräftige Wahrnehmung und Vorstellung wie ein hervorragender Punkt, wie eine einzelne Felsspitze aus der Sinfluth der Vergessenheit empor. Die Ideen |220| und Bilder, welche uns aus unserm verrinnenden Leben geblieben sind, halten wir nur mit Hilfe der Association dieser Ideen, mit Hilfe der Eigenthümlichkeit zusammen, welche sie besitzen, kraft gewisser Gesetze einander hervorzurufen. Hätten wir nicht die Zahlenreihe, nicht die Jahreszahlen, nicht den Kalender, an die wir unsere verschiedenen Erinnerungen knüpfen können, so würden wir nur eine äußerst schwache und unklare Vorstellung von unserem Ich haben. Allein so solid diese lange innere Kette scheinen mag – und sie wird verstärkt, sie gewinnt an Kohäsionskraft, je öfter wir sie in der Erinnerung durchlaufen, – so kommt es doch einerseits vor, daß wir der Kette Glieder einfügen, die in Wirklichkeit nicht zu ihr gehören, andererseits, daß wir der Kette Glieder entreißen, welche zu ihr gehören, und dieselben in eine andere Verbindung bringen.*)*
Ersteres – daß wir neue, fremde Glieder unserer Erinnerung einfügen – geschieht im Traume. Im Traume glauben wir Viel gethan zu haben, was wir niemals ausgeführt. Sodann geschieht es überall, wo eine falsche Erinnerung entsteht. Wer ein weißes Tuch im Dunkel flattern sah und ein Gespenst erblickt zu haben wähnt, Der hat solch eine falsche Erinnerung. Der größte Theil der Mythen und Legenden, zumal der religiösen Legenden, wird auf solche Weise gebildet.
|221| Das Entgegengesetzte findet überall statt, wo wir nicht Glieder zu der Kette des Ich hinzufügen, sondern umgekehrt sie davon abziehen. So legt während der Hallucination der Kranke die Worte, welche er hört, einer fremden Stimme bei, oder verleiht seinem inneren Gesicht eine äußere Wirklichkeit, wie Luther es that, als er auf der Wartburg den Teufel in seinem Zimmer sah. Im Wahnsinn endlich verwechselt die Persönlichkeit sich bekanntlich oft nicht nur theilweise, sondern völlig mit einer ganz anderen.
Im vernünftigen Zustande also ist das Ich ein Kunstprodukt, ein Produkt von Ideenassociationen. Ich bin meiner Identität so gewiß, weil ich erstlich meinen Namen, diesen Laut des Namens, mit der Kette meiner inneren Erlebnisse associire, und weil ich zweitens alle Glieder dieser Kette durch die Associationen zusammen halte, kraft deren sie einander hervorrufen. Da das Ich aber solchermaßen kein angeborener, sondern ein erworbener Begriff ist, da das Ich auf einer Ideenassociation beruht, welche Schlaf, Träume, Einbildungen, Hallucinationen und Tollheit immerfort angreifen, und welche sich immerfort im Kampfe mit all’ diesen Feinden behaupten muß, so ist es seinem Wesen nach allen möglichen Anfechtungen ausgesetzt. Wie die Krankheit stets auf der Lauer liegt, um unseren Leib anzugreifen, so steht der Wahnwitz stets auf der Schwelle des Ich, und dann und wann hören wir ihn an die Thür klopfen.
|222| Es ist diese wahre psychologische Anschauung, welche den Romantikern noch nicht in wissenschaftlicher Form bekannt war, aber welche sie vorausgeahnt haben. Der Traum, die Hallucinationen, der Wahnsinn, alle die Mächte, welche das Ich auflösen und seine Ringe von einander losnesteln, sind ihre intimsten Vertrauten. Man lese z. B. Hoffmanns Erzählung »Der goldne Topf«, und höre, wie die Stimmen aus den Aepfelkörben klingen, wie die Blätter des Holunderbusches und die Blumen klingen und singen, wie die Glockenzüge sich für das Auge in Schlangen verwandeln u. s. w. Die grelle, seltsame Wirkung entsteht hier besonders dadurch, daß auf einem Hintergrunde der allerplattesten Prosa des Lebens, Bündeln juristischer Akten, Thee- und Kaffeekannen etc., die Gespenster uns auf den Leib rücken. Alle Personen Hoffmann’s werden, wie Andersen’s Justizrath in den »Galoschen des Glücks« – einer Studie nach Hoffmann, – von ihren Umgebungen bald für betrunken, bald für wahnsinnig gehalten, da ihre Hallucinationen von ihnen selbst beständig als Wirklichkeit aufgefaßt werden.
Hoffmann hat in seinen Hauptpersonen nur Gestalten nach seinem eigenen Muster geschildert. Sein ganzes eigenes Leben löste sich in Stimmungen auf. Man sieht aus seinen Tagebüchern, mit welcher Gründlichkeit und Peinlichkeit er über dieselben Buch führte, z. B.: »Stimmung zum Romantisch-Religiösen; exaltirt |223| humoristische Stimmung, gespannt bis zu Ideen des Wahnsinns, die mir oft kommen; humoristisch-ärgerliche; musikalisch-exaltirte; romaneske Stimmung; höchst ärgerliche Stimmung, bis zum Exceß romantisch und kapriciös; ganz erotische Verstimmung, sehr exaltirte, aber poetisch reine, höchst komfortable, schroffe, ironische, gespannte, höchst morose, ganz kaduke, exotische, aber miserabele, senza entusiasmo, senza esaltazione, schlecht und recht«, u. s. f.
Man sieht gleichsam das Geistesleben sich ausbreiten und sich fächerförmig in musikalischer Stimmung und Verstimmung spalten. Schon aus diesem Stim- mungsregister könnte man schließen, daß Hoffmann als echter Nachtschwärmer erst gegen Morgen zur Ruhe zu gehen pflegte, nachdem er den Abend und die Nacht in einer Weinstube verbracht hatte. Er starb an Rückenmarksschwindsucht.
Nachdem die Romantik solchermaßen das Ich aufgelöst hat, – was für phantastische Ichs bildet sie nun, bald durch Addition, bald durch Subtraktion!
Da ist z. B. Hoffmann’s »Klein Zaches«, dies kleine Ungethüm, welchem eine Fee die Gabe geschenkt, daß alles Vortreffliche, was in seiner Gegenwart ein Anderer denkt, spricht oder thut, auf seine Rechnung geschrieben wird, so daß er in Gesellschaft wohlgestalteter, gebildeter und geistreicher Personen auch für wohlgestaltet, verständig und geistreich gehalten wird, ja überhaupt |224| immer für ein Muster jeglicher Vollkommenheit gilt, mit der er in Berührung kommt. Als der Student seine schönen Gedichte vorliest, werden ihm dafür Komplimente gemacht; als der Musiker spielt, als der Professor seine physikalischen Experimente macht, erntet er die Ehre und den Dank dafür ein. Er wächst an Größe, er wird ein einflußreicher Mann, wird erster Minister, bis er zuletzt seine Tage damit beschließt, daß er in einem silbernen Henkeltöpschen ertrinkt. – Ohne daß ich die symbolisch-satirische Absicht tadeln möchte, hat der Dichter sich hier damit ergötzt, dem Individuum Eigenthümlichkeiten beizulegen, welche Anderen zukommen, also die Form und Begrenzung des Individuums aufzuheben. In ähnlicher satirischer Absicht, mit sinnreicherer, aber derberer Benutzung, verwendet bei uns Hostrup dies Motiv in seinem Lustspiele: »Ein Spatz im Kranichschwarm«, wo immer von einem Jeden dem possirlichen Schneidergesellen die Eigenschaften beigelegt werden, welche der Betreffende persönlich am höchsten schätzt.
Und wie die Romantik sich nun hier an der Addition ergötzt, so hat die Subtraktion von der Individualität nothwendig auch ihren großen Reiz für sie. Sie raubt dem Individuum Eigenthümlichkeiten, welche sonst gerade am organischsten zu demselben zu gehören scheinen; sie löst dieselben ab und theilt so die Individualität, wie man niedere Organismen, z. B. Würmer, in größere und kleinere Hälften theilt, welche beide fortleben. Sie |225| beraubt z. B. das Individuum seines Schattens. In Chamisso’s »Peter Schlemihl« kniet ja der Mann im grauen Rocke vor Peter hin und löst mit bewunderungswerther Behendigkeit seinen Schatten von Kopf bis zu Füßen von ihm und vom Rasen ab, rollt ihn zusammen und steckt ihn ein – und die Erzählung lehrt uns, welcherlei Ungemach ein Mensch, der seinen Schatten verlor, erdulden muß. Chamisso’s Lorbeeren ließen Hoffmann nicht schlafen. In der hübschen kleinen »Geschichte vom verlornen Spiegelbilde« läßt der Held sein Spiegelbild in Italien bei der verlockenden Ginlietta bleiben, die ihn bezaubert hat, und kehrt ohne dasselbe zu seiner Frau zurück. Als sein kleiner Sohn eines Tages plötzlich entdeckt, daß er kein Spiegelbild hat, läßt das Kind den Spiegel, den es in der Hand hält, zur Erde fallen und läuft weinend zum Zimmer hinaus. Bald darauf tritt seine Frau herein, Staunen und Schreck in den Mienen. »»Was hat mir der Rasmus von Dir erzählt!« sprach sie. »Daß ich kein Spiegelbild hätte, nicht wahr, mein Liebchen?« fiel Spikher mit erzwungenem Lächeln ein, und bemühte sich zu beweisen, daß es zwar unsinnig sei, zu glauben, man könne überhaupt sein Spiegelbild verlieren, im Ganzen sei aber nicht Viel daran verloren, da jedes Spiegelbild doch nur eine Illusion sei, Selbstbetrachtung zur Eitelkeit führe, und noch dazu ein solches Bild das eigene Ich spalte in Wahrheit und Traum.«
|226| Man sieht, das Spiegelkabinett ist hier so weit entwickelt, daß die Spiegelbilder sich auf eigene Hand bewegen und sich nicht mehr nach dem Original richten.
Dies ist sehr ergötzlich, sehr originell und phantastisch; da es einem Jeden freisteht, welchen Werth er will, dem Schatten oder dem Spiegelbilde unterzuschieben, kann es sogar recht tiefsinnig genannt werden. Auch will ich kein Urtheil sprechen, sondern charakterisiren. Ich stelle den Werken und den Dichtern keine Zeugnisse aus, ich schildere meinen Landsleuten eine historische Richtung, die viele Jahre lang das Fundament unsrer Bildung gewesen ist, und ich zeige ihnen, worauf sie abzielt und wohin sie führt.
Indem die Romantik mit innerer Nothwendigkeit die Kunstform auflöst; indem Hoffmann die Theile seines Werkes bunt durch einander wirrt, so daß die Vorderseite des Blattes Eine Geschichte, die Rückseite des Blattes eine ganz andere enthält; indem Tieck Dramen nach der Kugelschalen-Theorie fabricirt, um uicht ernsthaft auf den Leser zu wirken; und indem Kierkegaard bei seiner Produktion nach chinesischem Schachtelmuster einen Verfasser in den andern steckt, kraft der Theorie, daß die Wahrheit sich nicht anders als indirekt mittheilen lasse, eine Theorie, die er selbst schließlich mit Füßen tritt, – ist der künstlerische Standpunkt der Romantik dem der Antike schnurgrade entgegengesetzt. Und indem die Romantik metaphysisch-senti|227|mental die Persönlichkeit über mehrere auf einander folgende Geschlechter ausreckt und dieselbe vor ihrer Geburt und nach ihrem Tode leben läßt; indem sie, um eine schauerliche Wirkung zu erreichen, den Menschen zerspaltet und ihn sich selbst in der Thüre begegnen läßt; indem sie ihn als einen Träumer bei helllichtem Tage, als einen Hallucinirten und Wahnwitzigen schildert; indem sie humoristisch ihm die Eigenschaften anderer Menschen beilegt und ihn seiner eigenen beraubt, phantastisch bald einen Schatten, bald ein Spiegelbild von ihm ablöst, hat ihre phantastische Reflexion, ihre reflektirende Phantastik auch psychologisch den dem antiken schnurgrade entgegengesetzten Standpunkt eingenommen; denn in der antiken Zeit waren das Kunstwerk und die Persönlichkeit aus Einem Gusse. Darin ist dies Streben konsequent – als Gegenpol der Klassicität, als Romantik.
Aber ist der Mensch nun auch mannigfaltig aus Naturnothwendigkeit, und von Natur gespalten und getheilt, so ist er doch Eins durch Freiheit Freiheit, Wille, Entschluß machen den Menschen zu einem Ganzen. Ist der Mensch auch als Naturerzeugnis nur eine Gruppe, welche durch Associationen mehr oder minder kräftig zusammen gehalten wird, so ist der Mensch als Geist eine Individualität, und im Willen sammeln sich alle Elemente des Geistes und laufen darin aus, wie in die Schneide eines Schwertes. Die Romantik hat also den Menschen nur von seiner Naturseite und Nacht|228|seite mit Genialität geschildert und begriffen. Zur Sammlung, Einheit und Freiheit des Geistes ist sie so wenig auf diesem, wie auf irgend einem anderen Punkte gelangt.
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