Die romantische Schule in Deutschland (1873)

|118| 6.

Die verbündeten Romantiker waren weit entfernt davon, »Lucinde« mit Befriedigung erscheinen zu sehen. Wir sahen, wie Karoline bald ihre satirische Laune an derselben ausließ, »und A. W. Schlegel, Schelling, Steffens und die Andern betrachteten sie unter sich wie ein enfant terrible, wie sie sich sonst auch officiell darüber auslassen mochten. A. W. Schlegel sagt freilich in einem Sonette an Friedrich:

Dich führt zur Dichtung Andacht brünst’ger Liebe,
Du willst zum Tempel Dir das Leben bilden,
Wo Götterrecht die Freiheit lös’ und binde.
Und daß ohn’ Opfer der Altar nicht bliebe,
Entführtest Du den himmlischen Gesilden
Die hohe Gluth der leuchtenden Lucinde. –

wie er auch, als Kotzebue auf Veranlassung des Buches sein Lustspiel »Der hyperboräische Esel« gegen Friedrich schrieb, mit der witzigen Satire »Ehrenpforte für den Präsidenten von Kotzebue« antwortete; aber privatim nannte er das Buch »eine thörichte Rhapsodie«. Tieck nannte es »eine wunderliche Chimäre«, und selbst Schleiermacher suchte seine Urheberschaft der Briefe über die »Lucinde« zu verleugnen, als später die protestantisch-rationalistische |119| Richtung bei ihm das Uebergewicht über die sinnlichmystische bekam. Nichtsdestoweniger oder gerade um so viel mehr ist es für uns von Wichtigkeit, einen Blick auf die Natur dieser Briefe zu werfen, deren Zweck es ist, die »Lucinde« nicht allein als ein unschuldiges, fondern als ein gutes und heiliges Buch darzustellen, welches durch die Beschäftigung edler Frauen mit demselben und durch ihre Begeisterung für dasselbe gerechtfertigt wird. Die eine dieser Frauen, deren Briefe zu Grunde lagen, war Schleiermacher’s Schwester Ernestine, die andere seine Geliebte, Eleonore Grunow.

Die Briefe einzeln durchzugehen, hat in jetziger Zeit kein Interesse mehr. Wir wollen uns nur an die hervorspringendsten Punkte halten. Da »Lucinde« der einzige Versuch der Romantiker in socialer Beziehung, und da die Beleuchtung der Ehe überhaupt fast die einzige sociale Aufgabe ist, mit der sich die Literatur im Anfange dieses Jahrhunderts beschäftigt – nur Goethe’s »Wanderjahre« ziehen, wie Rousseau’s Romane, aber in noch größerem Umfang, die socialen Probleme in Betracht, – so hat es seinen Werth, die Auslassungen der verschiedenen europäischen Hauptliteraturen über diesen Punkt zu vergleichen.

Schleiermacher’s Schrift ist wider die Prüderie gerichtet. Gleich in einem der ersten Briefe heißt es: »Fast müßte ich glauben, Du seist seit Kurzem eine Prüde geworden. Auf diesen Fall würde ich Dich bitten, |120| Dich doch mit der nächsten Gelegenheit nach England einzuschiffen, wohin ich die ganze Gattung verweisen möchte.« Und ein ganzer Abschnitt des Buches ist gegen das falsche Schamgefühl gerichtet, welches die rechte Schamhaftigkeit ausschließt und so viel überflüssiges Unheil anrichtet. »Jene ängstliche und beschränkte Schamhaftigkeit,« heißt es auf Seite 64 und 83 ff. dieser Briefe, »die jetzt der Charakter der Gesellschaft ist, hat ihren Grund nur in dem Bewußtsein einer großen und allgemeinen Verkehrtheit und eines tiefen Verderbens. Was soll aber am Ende daraus werden? Es muß Dieses, wenn man die Sache sich selbst überläßt, immer weiter um sich greifen; wenn man ganz so eigentlich Jagd macht auf das Nichtschamhafte, so wird man sich am Ende einbilden, in jedem Ideenkreise Dergleichen zu finden, und es müßte am Ende alles Sprechen und alle Gesellschaft aufhören . . . Die völlige Verderbtheit, und die vollendete Bildung, durch welche man zur Unschuld zurückkehrt, machen beide der Schamhaftigkeit ein Ende; durch jene stirbt mit der falschen auch die wahre ihrem Wesen nach, durch diese hört sie nur auf, Etwas zu sein, worauf eine besondere Aufmerksamkeit gewendet und ein eigener Werth gesetzt wird . . . Ueberlege Dir nur, liebes Kind, ob nicht alles Geistige im Menschen ebenfalls von einem instinktartigen, unbestimmten innern Treiben anfängt, und sich erst nach und nach durch Selbstthätigkeit und Uebung zu einem bestimmten Wollen |121| und Bewußtsein und zu einer in sich vollendeten That heraus arbeitet; und ehe es so weit gediehen ist, ist an eine bleibende Beziehung dieser innern Bewegungen auf bestimmte Gegenstände gar nicht zu denken. Warum soll es mit der Liebe anders sein, als mit allem Uebrigen? Soll etwa sie, die das Höchste im Menschen ist, gleich beim ersten Versuch von den leisesten Regungen bis zur bestimmtesten Vollendung in einer einzigen That gedeihen können? sollte sie leichter sein, als die einfache Kunst, zu essen und zu trinken? Auch in der Liebe muß es vorläufige Versuche geben, aus denen nichts Bleibendes entsteht, von denen aber jeder Etwas beiträgt, um das Gefühl bestimmter und die Aussicht auf die Liebe größer und herrlicher zu machen. Bei diesen Versuchen nun kann auch die Beziehung auf einen bestimmten Gegenstand nur etwas Zufälliges, im Anfang oft nur eine Einbildung, und immer etwas höchst Vergängliches sein, eben so vergänglich als das Gefühl selbst, welches bald einem klareren und innigeren Platz macht. So findest Du es gewiß bei den reifsten und gebildetsten Menschen, die über ihre ersten Lieben als über ein kindisches und wunderliches Beginnen lächeln, und oft ganz gleichgiltig neben den vermeinten Gegenständen derselben hinleben. Auch muß es der Natur der Sache nach so sein, und hier Treue fordern und ein fortdauerndes Verhältnis stiften wollen, ist eine eben so schädliche als leere Einbildung.«

|122| Schleiermacher warnt daher vor Dem, was er »das Hirngespinst von der Heiligkeit einer ersten Empfindung« nennt: »Glaube nur nicht, es beruhte nun Alles darauf, daß daraus etwas Ordentliches würde. Die Romane, die Dieses beschützen, und zwischen denselben zwei Menschen die Liebe vom ersten rohen Anfange bis zur höchsten Vollendung sich in einem Strich fort ausbilden lassen, sind eben so verderblich als sie schlecht sind, und Die, welche sie machen, verstehen insgesammt von der Liebe eben so wenig als von der Kunst . . . Wenn sich nun Deine noch mehr oder weniger unbestimmte Sehnsucht nach Liebe auf einen bestimmten Gegenstand richtet, so entsteht daraus nothwendig ein bestimmtes Verhältnis, indem es einen Punkt der größtmöglichen Annäherung giebt, und wenn ihr den nun erreicht habt und fühlt, daß es der rechte nicht ist, auf dem ihr bleiben könnt, was bleibt euch dann übrig, als daß ihr euch eben wieder von einander entfernt? Nur nachdem ein solcher Versuch als Versuch vollendet, d. h. abgebrochen worden, kann die Erinnerung daran und die Reflexion darüber zur näheren Bestimmung der Sehnsucht und des Gefühls wirken, und so zu einem andern. besseren Versuch vorbereiten. Sollte es nun etwa eine Verbindlichkeit geben, diesen wieder mit demselben Subjekt anzustellen? Wo sollte denn die liegen? Ich für meinen Theil finde Das widernatürlicher, als die Ehen zwischen Bruder und Schwester. Laß Dir also darin die unbeschränkteste |123| Freiheit, und sorge nur, einen reinen Sinn und ein zartes Gefühl dafür zu behalten, was ein Versuch ist, damit Du nicht einen solchen, der bestimmt ist Versuch zu bleiben, durch die Hingebung festhältst und sanktionirst, die ihrer Natur nach das Ende des schülerhaften Versuchens und der Anfang eines Zustandes wahrer und dauernder Liebe sein soll. Einen solchen Mißgriff, der die Folge und die Ursache der unseligsten Täuschungen ist, halte für das Schrecklichste, was Dir begegnen kann, und wisse, Dies heißt eigentlich sich verführen lassen. Denn wenn Du die wahre Liebe ergriffen hast und Dich auf dem Punkt fühlst, von wo aus Du Dein Gemüth vollenden und Dein Leben schön und würdig bilden kannst, so wird Dir von selbst jede Zurückhaltung und jede Scheu vor dem letzten und schönsten Siegel der Vereinigung als Ziererei erscheinen. Das Gefährlichste ist nur, daß auch jeder Versuch seiner Natur nach auf diesen Punkt hinstrebt. Der Sättigungspunkt ist nur durch Uebersättigung zu finden. Aber wenn Du gesund bleibst an Sinn und Gefühl, wird Dich gewiß, so oft sich ein Versuch, zu lieben, diesem Punkt nähert, eine heilige Scheu ergreifen, die etwas viel Höheres ist, als die Gewalt eines fremden Gebots, oder was man gemeinhin Scham und Zucht nennt.«

Gefunde und verständige Reflexionen in der That! Aber wie bezeichnend ist diese ganze Grübelei über das Gefühl für die Nation, welcher der Verfasser angehört! |124| Ein Italiäner sagte mir einmal: »Was uns in dem Gefühlsleben der germanischen Nationen zumeist Wunder nimmt, Das ist doch die Art und Weise, wie sie die Liebe auffassen und betreiben. Bei ihnen ist die Liebe eine Religion, Etwas, an das ein guter Mensch glauben muß. Und diese Religion hat ihre Theologie. Auch fehlt’s dort nicht an ihrer Philosophie, ihrer Metaphysik, was weiß ich! Wir lieben simplement, wie die Franzosen sagen.« Diese Replik fiel mir bei der Lektüre Schleiermacher’s ein. Wie viel Scharfsinn ist hier aufgeboten, um zu beweisen, daß die Menschen, wenn sie lieben, sich nicht durch falsche Theorien stören lassen sollen, und welcher felsenfeste Glaube an die Liebe, welche »das Gemüth vervollkommnen und vollenden« soll, liegt diesen Entwicklungen zu Grunde! Es ist lehrreich, verwandte Aussprüche großer Schriftsteller anderer Nationen damit zu vergleichen; das Nationalgepräge tritt dadurch stärker hervor.

George Sand, deren erste Romane dieselbe Bewegung in Frankreich vertreten, welche »Lucinde« in Deutschland einleitet, spricht in »Jacques« und in »Lucretia Floriani« durch die Hauptpersonen, wie durch eine Maske, folgende Ansichten aus: »Paul und Virginie konnten einander fortdauernd und ungestört lieben; denn sie waren Kinder, von derselben Mutter erzogen. Wir kommen aus allzu verschiedenen Gegenden . . . Damit zwei Wesen einander immer verstehen und durch eine |125| unveränderliche Liebe mit einander vereint bleiben könnten, müßte eine gleichartige Erziehung sie als Kinder gebildet haben, und dieselben Glaubenslehren, dieselbe Geistesrichtung, ja dasselbe äußere Wesen müßten sich bei Beiden finden. Aber wir gequälten Sprößlinge einer stürmischen und verderbten Gesellschaft, die ihren versprengten Kindern wie eine Stiefmutter gegenüber steht und in ihren Wildheitsperioden grausamer als der wilde Zustand ist, mit welchem Rechte verwundern wir uns nach so großen öffentlichen Spaltungen über die ununterbrochene Scheidung der Herzen und die Unmöglichkeit innerlicher Harmonie?«

Man sieht, George Sand ist der Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit, daß das Individuum den sogenannten »Rechten« trifft, durch die Liebe zu welchem »das Gemüth vollendet« wird, viel weniger gewiß, als Schleiermacher. Jacques sagt: »Die Ehe ist jetzt und für alle Zeit nach meiner Ansicht eine der verhaßtesten Institutionen. Ich zweifle nicht daran, daß sie abgeschafft werden wird, wenn die Menschheit einen Fortschritt auf der Bahn der Gerechtigkeit und Vernunft macht; ein menschlicheres und nicht minder heiliges Band wird dann dieses ersetzen und wird im Stande sein, die Existenz der Kinder zu sichern, ohne für immer die Freiheit der Eltern in Fesseln zu schlagen. Allein die Männer sind zu roh und die Frauen zu feige, um ein edleres Gesetz zu verlangen, als das eherne Gesetz, welches sie |126| beherrscht. Für Wesen ohne Gewissen und ohne Tugend eignen sich schwere Fesseln. Die Verbesserungen, von welchen einige edle Geister träumen, lassen sich unmöglich in diesem Jahrhundert verwirklichen; diese Geister vergessen, daß sie ihren Zeitgenossen hundert Jahre voraus sind, und daß man die Menschen verändern muß, ehe man das Gesetz verändert«. – Am Hochzeitstage sagt Jacques zu seiner Braut: »Die Gesellschaft wird Dir jetzt eine Eidesformel diktiren. Du wirst schwören müssen, mir treu und gehorsam zu sein, d. h. keinen Andern als mich jemals lieben zu wollen, und mir in allen Stücken zu gehorchen. Der erste dieser Schwüre ist eine Absurdität, der zweite eine Niedrigkeit«.

George Sand’s Gedankengang in all’ diesen Werken ist der, daß es die wahre Unsittlichkeit im Liebesverhältnisse sei, nachdem die Liebe aufgehört habe, den äußeren Schein derselben durch Liebkosungen etc. aufrecht zu erhalten. Jacques sagt: »Ich habe nie meine Einbildungskraft angestrengt, ein Gefühl wieder in meiner Seele zu entzünden oder neu zu beleben, das dort nicht mehr vorhanden war; ich habe mir niemals selbst die Liebe als eine Pflicht, Beständigkeit als eine Rolle auferlegt. Wenn ich die Liebe in meiner Seele erlischen fühlte, so habe ich es gesagt, ohne mich Dessen zu schämen, und ohne Gewissenszwang«. Und noch eindringlicher ruft Lucretia Florian aus: »Von all’ diesen |127| Liebschaften, denen ich mich kindisch und blind hingegeben hatte, erschien keine einzige Verbindung mir so schuldvoll wie die, welche ich, mir selbst zum Trotz, über ihre Zeit hinaus dauern zu lassen versuchte«. Die französische Schriftstellerin hält also die fortdauernde Liebe zu Einem und Demselben für eine nur unter gewissen Bedingungen statthafte Möglichkeit, und ihre Auffassung der Liebe ist nicht diejenige Schleiermacher’s, daß sie die höchste Bildungsmacht, sondern daß sie als unwiderstehliche Naturmacht, als die ganze Seele erfüllende Leidenschaft schön, ja das Schönste im Menschenleben sei. Die Institutionen müssen sich nach ihrer Natur richten, da sie nicht ihre Natur nach den Institutionen verändern kann. Als eine Schülerin Rousseau’s versieht sie die Sache der Natur.

Werfen wir endlich einen Blick in das Werk eines zeitgenössischen englischen Schriftstellers von derselben Geistesrichtung: Shelley’s »Queen Mab«, und achten wir besonders auf die Anmerkungen, mit welchen er das Gedicht versehen hat, so begegnet uns eine dritte Nuance der Opposition gegen die herrschende Ansicht. Shelley sagt: »Der Gesellschaftszustand, in welchem wir uns befinden, ist ein Gemisch feudaler Wildheit und unvollkommener Civilisation. Seit Kurzem erst hat die Menschheit eingeräumt, daß Glückseligkeit das alleinige Ziel der Ethik, wie aller andern Wissenschaften, ist, und hat die fanatische Idee, das Fleisch aus Liebe |128| zu Gott kreuzigen zu wollen, verworfen«. Man sieht, er geht als echter Engländer vom Nützlichkeits- oder Glücks-Principe als dem höchsten aus. »Liebe«, sagt er, »ist eine unvermeidliche Wahrnehmung von Liebenswürdigkeit. Die Liebe welkt unter dem Zwange; ihr eigenthümliches Wesen ist Freiheit; sie verträgt sich weder mit Gehorsam, noch mit Eifersucht oder Furcht; sie ist dort am reinsten, vollkommensten und schrankenlosesten, wo ihre Jünger in Vertrauen, Gleichheit und offenherziger Hingebung leben. . . . Mann und Frau sollten so lange vereint bleiben, als sie einander lieben; jedes Gesetz, das sie zum Zusammenleben auch nur einen Augenblick nach dem Erlischen ihrer Neigung verpflichtete, wäre eine unerträgliche Tyrannei, und höchst unwürdig zu ertragen. Als eine wie gehässige Bevormundung des Rechts individueller Urtheilsfreiheit würde man nicht ein Gesetz betrachten, welches die Bande der Freundschaft unauflöslich machte, trotz der Launen, der Unbeständigkeit, der Fehlbarkeit und Vervollkommnungsfähigkeit des menschlichen Geistes? Und um so Viel würden die Fesseln der Liebe schwerer und unerträglicher als diejenigen der Freundschaft sein, wie die Liebe heftiger und launenhafter, abhängiger von jenen zarten Eigenthümlichkeiten der Einbildungskraft und unfähiger ist, sich mit den augenfälligen Vorzügen ihres Gegenstandes zu begnügen. . . . Die Liebe ist frei; das Versprechen abzugeben, ewig dasselbe Weib lieben zu wollen, |129| ist nicht minder thöricht, als zu geloben, ewig demselben Glauben anhangen zu wollen. . . . Das gegenwärtige Zwangssystem hat in den meisten Fällen nur die Wirkung, Heuchler oder offene Feinde zu erschaffen. Leute von Zartgefühl und Tugend, die unglücklicherweise mit Jemand verbunden sind, den sie unmöglich lieben können, verbringen die schönste Zeit ihres Lebens mit unfruchtbaren Bemühungen, anders zu erscheinen, als sie sind. . . . Die Ueberzeugung, daß die Ehe unauslöslich ist, führt die Schlechten aufs stärkste in Versuchung; sie geben sich rücksichtslos der Bitterkeit und allen kleinen Tyranneien des häuslichen Lebens hin, da sie wissen, daß ihr Opfer an Niemand appelliren kann. . . . Prostitution ist das rechtmäßige Kind der Ehe und der Verirrungen, die in ihrem Gefolge sind. Weibliche Wesen werden für kein anderes Verbrechen, als weil sie den Geboten eines natürlichen Gelüstes gehorchten, mit Erbitterung von den Annehmlichkeiten und Sympathien der Gesellschaft ausgeschlossen . . . Ist ein Weib dem Triebe der nie irrenden Natur (sic!) gefolgt, so erklärt die Gesellschaft ihr den Krieg, erbarmungslosen und ewigen Krieg; sie muß die gefügige Sklavin sein, sie darf keine Repressalien üben; der Gesellschaft steht das Recht der Verfolgung zu, ihr nur die Pflicht, zu dulden. Sie lebt ein Leben der Schande; das laute und bittere Hohngelächter verwehrt ihr jede Umkehr. Sie stirbt an langer und langsamer Krankheit; aber sie hat gefehlt, sie ist die Verbrecherin, sie |130| das störrige, unlenksame Kind, – und die Gesellschaft die reine und tugendhafte Matrone, welche sie wie eine Mißgeburt von ihrem unbefleckten Busen fortschleudert! . . . Die bigotte Keuschheitsidee der heutigen Gesellschaft ist ein mönchischer und evangelischer Aberglaube, ja selbst ein größerer Feind der natürlichen Mäßigung, als die geistlose Sinnlichkeit; sie nagt an der Wurzel alles häuslichen Glückes, und verdammt mehr als die Hälfte des Menschengeschlechtes zum Elend, damit einige Wenige sich eines gesetzlichen Monopols erfreuen können. Es hätte sich nicht wohl ein System ersinnen lassen, das dem menschlichen Glücke mit raffinirterer Feindseligkeit entgegen träte, als die Ehe. Ich glaube mit Bestimmtheit, dass aus der Abschaffung der Ehe das richtige und naturgemäße Verhältnis des geschlechtlichen Verkehrs hervorgehen würde. Ich sage keinesweges, daß dieser Verkehr ein häufig wechselnder sein würde; es scheint sich im Gegentheil aus dem Verhältnis der Eltern zu den Kindern zu ergeben, daß eine solche Verbindung in der Regel von langer Dauer sein und sich vor allen andern durch Großmuth und Hingebung auszeichnen würde. . . . In der That bilden Religion und Moral, wie sie gegenwärtig beschaffen sind, ein praktisches Gesetzbuch des Elends und der Knechtschaft; der Genius des menschlichen Glückes muß jedes Blatt aus dem verruchten Gottesbuche herausreißen, bevor der Mensch die Schrift in seinem Herzen lesen kann. Wie würde die in steifer |131| Schnürbrust und Flitterprunk aufgeputzte Moral vor ihrem eignen widerwärtigen Bilde erschrecken, wenn sie in den Spiegel der Natur blickte!«

Hier also wieder die Berufung auf die Natur, aber der Gesichtspunkt ist doch ein ganz anderer. Shelley, der begeisterte und leidenschaftliche Atheist, sieht das Grundunglück der Gesellschaft in der überlieferten Religion, die »nie irrende Natur« ist die Gottheit, welche er an die Stelle des Bibelgottes setzt. Er betrachtet den Anspruch auf Glück als das Recht des Menschen, und als Engländer beansprucht er ohne viele psychologische Grübeleien die individuelle Freiheit gegenüber dem Zwang äußerer Gesetze Schleiermacher warnt vor dem Unvernünftigen, weil es binde, wenn es verübt worden sei; allein er, der protestantische Prediger, stachelt nur indirekt zur Opposition gegen das selbe auf. George Sand ist über das Unwürdige empört; in ihrer, der französischen Dichterin, Moral spielt die Ehre dieselbe Rolle, wie die Vernunft in der Schleiermacher’schen, und ihrem Ideal männlichen Ehrgefühls, Jacques, legt sie einen Protest im Namen der menschlichen Ehre in den Mund. Shelley endlich erhebt sich als Fürsprecher und Ritter der persönlichen Freiheit. Er will die Knechtschaft entfernt wissen. Der bald nachher landflüchtige englische Freiheitsapostel geht unbedenklich den Institutionen zu Leibe. George Sand hat nie die Ehe direkt angegriffen. In der |132| Vorrede zu »Mauprat« sagt sie sogar: »Ich habe mich gegen die Ehemänner ausgesprochen, und fragt man mich etwa, was ich an ihre Stelle setzen will, so antworte ich schlechthin: die Ehe.« Shelley dagegen, welcher gleich jedes Unglück politisch und social auffaßt, will die Menschen auf dem Wege der äußeren Gesetzgebung reformiren, kraft seiner Ueberzeugung, daß der Staat in so ausgedehnter Weise, wie möglich, dem Individuum die volle Ausübung seines Freiheitsrechtes als Bürger sichern muß.

Es leuchtet ein, daß von diesen drei Repräsentanten einer und derselben Sache Schleiermacher der reflektirteste und zurückhaltendste ist. Für ihn ist das Gemüth und dessen Innigkeit das Höchste, wie das Herz für George Sand und die Glückseligkeit für Shelley das Höchste sind. Jeder dieser drei großen Schriftsteller vertritt sein Volk, und man versteht durch solche Vergleichung besser den Charakter dieser ganzen Bewegung, welche im Beginn des Jahrhunderts ihre ersten Anläufe nahm, aber weder Ruhe noch Gestalt finden, noch gute und beschwichtigende Resultate herbeiführen kann, bevor die Befreiung des Weibes in geistiger und gesellschaftlicher Hinsicht so weit erreicht ist, daß die Frau dem Manne selbständig gegenüber steht und auf dem Wege der Literatur und Gesetzgebung für ihr eigenes Bedürfnis sorgt.

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