Die romantische Schule in Deutschland (1873)

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Im Juni 1801 stand ein junger Mann auf einem Katheder in Jena, um für die Erlangung des Doktorgrades zu disputiren. Man chikanirte ihn aus allen Kräften, ja, was unerhört war, man nöthigte ihm Opponenten auf. Der Eine, übrigens ein fader Gesell, suchte sich an ihm zum Ritter zu schlagen, und bemerkte: »In Eurem tractatum eroticum Lucinda saget Ihr etc. etc.,« worauf der Doktorand trocken damit erwiderte, daß der den Opponenten einen Narren nannte. Es entstand Aufruhr und Skandal, und einer der Professoren erklärte, daß in dreißig Jahren kein solches scandalum den philosophischen Schauplatz prosanirt habe. Der Doktorand antwortete, daß in dreißig Jahren Niemand so behandelt worden sei. Dieser Doktorand war Friedrich Schlegel, damals so gefürchtet wegen seiner schrecklichen Ansichten, daß man ihm bisweilen nicht in einer Stadt zu übernachten erlaubte. In einem Reskript des Churfürstlich Hannoverschen Universitäts-Kuratoriums an den Prorektor zu Göttingen vom 26. September 1800 lesen wir: »Sollte der Bruder des Professors, der durch seine sittenverderbliche Schriften berüchtigte Friedrich Schlegel, sich dort einfinden, um sich einige Zeit daselbst |75| aufzuhalten, so ist Selbigem Solches nicht zu erlauben, sondern ihm die Bedeutung zu thun, daß er Göttingen zu verlassen habe.«

Das heißt strenge Justiz – Und all dieser Lärm um »Lucinde«!

Nicht durch ihre dichterische Kraft ist »Lucinde« eines der Hauptwerke der Romantiker – denn so viel auch in diesem Buche von der »Empfindung des Fleisches« die Rede ist, wird man doch kein Fleisch und Blut, keine wahre Plastik darin finden; eben so wenig durch Tiefe der Gedanken – es ist mehr Philosophie in den wenigen parodoxen Blättern enthalten, die Schopenhauer unter dem Titel »Metaphysik der Liebe« geschrieben hat, als in der ganzen anspruchsvollen »Lucinde«; nicht einmal durch einen genialen bacchantischen Naturjubel – vergleicht man sie mit Heinse’s von südlicher Lebenslust glühendem »Ardinghello«, so sieht man, wie bleich und doktrinär sie ist. Aber das Buch hat seinen Werth als Manifest und Programm. Seine Hauptidee ist, die Einheit und Harmonie des Lebens zu verkünden, wie sie sich am sichtbarsten und faßlsichsten in der erotischen Begeisterung offenbart, welche dem geistigen Gefühl einen sinnlichen Ausdruck giebt und umgekehrt die sinnliche Lust vergeistigt. Was es schildern will, ist die Umwandlung des wirklichen Lebens in Poesie, in Kunst, in das freie Schiller’sche »Spiel« der Kräfte, in ein träumendes, in stets befriedigter Sehnsucht aufgehendes |76| Leben, in welchem der Mensch keinen Zweck hat, noch nach Zwecken handelt, sondern eingeweiht ist in die Geheimnisse der Natur und »die Klage der Nachtigall und das Lächeln des Neugebornen versteht, und was auf Blumen wie an Sternen sich in geheimer Bilderschrift bedeutsam offenbart.«

Man versteht Nichts von diesem Buche, wenn man, wie Kierkegaard, mit einer Reihe dogmatischer Kastelle im Rücken, sich mit dem Ausrufe auf dasselbe stürzt: »Was es will, ist die nackte Sinnlichkeit, worin der Geist ein negirtes Moment ist; was es bekämpft, ist jene Geistigkeit, in welcher die Sinnlichkeit ein einbegriffener Moment ist.« Man begreift kaum die Blindheit, welche erforderlich ist, um Dergleichen zu schreiben; doch die Orthodoxie sorgt ja für gute Scheuklappen und man versteht dies Buch auch nicht ganz, so lange man, wie Gutzkow, in demselben nur eine Doktrin von der Berechtigung der freien Liebe, oder, wie Schleiermacher, einen Protest wider die absolute Geistigkeit und eine Zurückweisung des affektirten Verneinens und Wegleugnens von Fleisch und Blut erblickt. Der Grundgedanke des Buches ist eben die romantische Lehre von der Identität von Leben und Poesie. Allein, ist auch dieser ernste Gedanke der Kern des Buches, so ist doch die Form desselben von der Art, daß sie ausdrücklich darauf ausgeht, die Lorberen des Skandals zu ernten. Sympathetisch wirkt zwar die Kühnheit, der Trotz, mit |77| welchem der herausfordernde Ton angeschlagen wird, der Muth, mit welchem der Verfasser sich aus Ueberzeugung allen Angriffen, allen persönlichen Verspottungen und Verleumdungen seines Privatlebens aussetzte, die zu erwarten waren. Anerkennenswerth ist die Sicherheit, mit welcher hier auf einem sehr kleinen Raume alle Ansichten und Stichwörter der Romantik vereinigt sind, so daß man mit Leichtigkeit in diesem Buche alle Tendenzen, welche sonst auf viele Personen vertheilt sind, fächerförmig von einem Mittelpunkte sich ausbreiten sehen kann. Allein widerwärtig ist die künstlerische Ohnmacht, von welcher dieser Roman, der im Grunde nur ein Entwurf ist, Zeugnis giebt, die vielen Anläufe, welche zu Nichts führen, und die ganze marklose Selbstvergötterung, welche ihre Unfruchtbarkeit dadurch zu verhehlen sucht, dass sie eine künstliche und ungesunde Hitze erzeugt, um darin ihre Windeier auszubrüten. Karoline Schlegel hat uns folgendes beißende Epigramm aufbewahrt, das damals gegen das Buch gerichtet ward:

Der Pedantismus bat die Phantasie
Um einen Kuß; sie wies ihn an die Sünde;
Frech, ohne Kraft, umarmt er die,
Und sie genau von einem todten Kinde,
Genannt Lucinde.

Abgesehen von dem Wort »Sünde«, das nicht hieher gehört – denn Lucinde versündigt sich zuerst und vor Allem an der Poesie und der Kunst – habe ich Nichts gegen diesen sanglanten Spott einzuwenden.

|78| Zutiefst in der »Lucinde« liegt wieder der Subjektivismus, der Eigenwille als die Wilkür, welche zu allem Möglichen werden kann, zur Revolution, zur Frechheit, zum Dogmatismus, zur Reaktion, weil sie von Anbeginn an keine Macht geknüpft ist, weil das Ich nicht im Dienste der einzigen Idee arbeitet, welche einem Streben Festigkeit und Werth verleiht: nicht im Dienste des Fortschritts und der Freiheit. Die Willkür, welche in der Kunst zu der von Friedrich Schlegel ersundenen »Ironie«, dem Schweben des Künstlers über seinem Stoffe, seinem freien Spiel mit dem Stoffe, in der Poesie bestimmter zum Principe von der reinen Form wird, welche sich beständig über ihren eigenen Inhalt lustig macht und ihre eigene Illusion zerstört, – diese Willkür wird auf dem Gebiete der Wirklichkeit zu einer Ironie, welche die Daseinsweise der Hochbegabten, die genial-paradoxe Weise der Geistesaristokraten ist, ihr Leben auszukosten. Diese Ironie ist ein Räthsel für die Profanen, »denen das Organ dazu mangelt«. Sie ist »die freieste aller Licenzen« (ein Ausdruck, der ja auch der Poesie angehört), weil man durch sie sich über sich selbst weg und hinaus setzt; aber doch ist sie die am meisten an das Gesetz gebundene; denn sie ist – heißt es – unbedingt und nothwendig. Sie ist eine beständige Selbstparodie, unverständlich für die »harmonisch Platten« (ein Ausdruck, welchen die Romantiker stets von Denen gebrauchen, die sich in einer trivialen |79| Harmonie beruhigt finden); denn Diese nehmen ihren Ernst für Scherz und ihren Scherz für Ernst. Nicht bloß dem Namen nach ist daher diese Ironie völlig der Kierkegaard’schen gleich, welche ebenfalls aristokratisch »darauf ausgeht, mißverstanden zu werden«. Die Unmittelbarkeit des genialen Ich, »die Subjektivetät«, ist also die Wahrheit, wenn auch nicht so, wie Kierkegaard es verstanden haben will, aber doch so, daß die Subjektivetät alle nach außen hin gültigen Bestimmungen in ihrer Macht hat und zum Aergernis und Staunen der Welt sich stets in der Form von Paradoren äußert. Die Ironie ist »die göttliche Frechheit«. Die so aufgefaßte Frechheit ist eine allseitige Möglichkeit. Sie ist die Freiheit von Vorurtheilen, aber sie eröffnet, rein formell wie sie ist, der frechsten Behauptung aller möglichen Vorurtheile einen Horizont. Sie ist, so wird uns gesagt, leichter erreichbar für das Weib, als für den Mann. »Wie die weibliche Kleidung vor der männlichen, so hat auch der weibliche Geist vor dem männlichen den Vorzug, daß man sich da durch eine einzige kühne Kombination über alle Vorurtheile der Kultur und bürgerlichen Konventionen wegsetzen und mit einem Male mitten im Stande der Unschuld und im Schooß der Natur befinden kann.« Schooß der Natur! Man höre, wie Rousseau’sche Töne selbst in dieser leichtfertigen Fanfare spuken! Es klingt, als würde die Reveille zur Revolution geblasen – in Wirklichkeit wird nur die Reaktion ein|80|geläutet. Rousseau predigte die Rückkehr zum Naturzustande, wo die Menschen nackt in den Wäldern umher liefen und sich von Eichelkost nährten. Schelling wollte die Entwicklung zur Urzeit zurück führen, wo die Menschheit noch nicht durch den Sündenfall verderbt worden war. Friedrich Schlegel bläst revolutionäre Melodien aus dem grossen romantischen Wunderhorn. Aber, wie es in »Des Knaben Wunderhorn« heißt:

»Es blies ein Jäger wohl in sein Horn –
Und Alles, was er blies, Das war verlorn.«

Es führt nicht zur Geistesfreiheit, es führt nur zu erhöhtem Genusse. Alles, auch die Wollust, wird in Kunst verwandelt. Wie die romantische Poesie Poesie in zweiter Potenz, Poesie über Poesie, raffinirte Poesie ist, so ist die Liebe für den Romantiker raffinirte Liebe, »Liebeskunst«. Die verschiedenen Grade der höheren Sinnlichkeit werden hier bezeichnet und in ein System gebracht; ich verweise auf das Buch, das nicht, wie »Ardinghello«, üppige Bilder giebt, sondern eine trockene, pedantische Theorie, deren leere Rahmen auszufüllen der Erfahrung und Phantasie des Lesers überlassen bleibt. Die Frechheit ist vielmehr Faulheit, der geniale Müßiggang. Der Müßiggang wird »die Lebenslust der Unschuld und Begeisterung« genannt. In seiner höchsten Potenz wird er zum Vegetiren: »Das höchste, vollendetste Leben ist ja Nichts, als ein reines Vegetiren.« Die Pflanze erscheint als »die sittlichste und schönste unter |81| allen Formen der Natur.« Man kehrt in solchem Grade zur Natur zurück, daß man zur Pflanze zurück kehrt. Der ruhende Genuß im reinen Vegetiren des ewig dauernden Augenblicks würde das Höchste sein. »Ich dachte,«. sagt Julius zu Lucinde, »ernstlich über die Möglichkeit einer dauernden Umarmung nach. Ich kann auf Mittel, unser Beisammensein zu verlängern.« Aber da nun die Genialität, welche keiner Mühe und Anstrengung bedarf, und die Wollust, welche in sich selbst die ruhende Seligkeit ist, Nichts mit Zweck oder Handlung oder Nutzen zu schaffen haben, so wird jenes dolce far niente der Gipfelpunkt des Lebens, und die Absicht, welche zu planmäßigem Handeln führt, wird als lächerlich und philiströs verfolgt. Die Hauptstelle hierüber in der »Lucinde« lautet so: »Der Fleiß und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert, welche dem Menschen die Rückkehr ins Paradies verwehren.« Ja, gewiß sind sie Das! Der Fleiß und der Nutzen versperren den Rückweg zu allen Paradiesen, die hinter uns liegen. Deshalb sind sie uns heilig! Der Nutzen ist für uns eben das Gute,« und was ist der Fleiß im Dienste des Nützlichen anders, als der Inbegriff aller Tugenden, was ist er anders, als die Resignation gegenüber zerstreuenden Genüssen, die Begeisterung und die Kraft, womit das Gute errungen und ausgeführt wird!

Der Rückweg zur Vollkommenheit ist in der Kunst |82| das Zurückstreben zur genialen Willkür des Künstlers, zu dem Punkte, wo er das Eine und auch ein ganz Anderes, geradezu Entgegengesetztes thun kann; im Leben ist er der Rückweg des Müßiggangs, – denn wer müßig ist, schreitet zurück, – der Rückweg zum genießenden Vegetiren; in der Wissenschaft ist er der Rückweg zum unmittelbaren Glauben, welcher Glaube von Schlegel wieder als Religion bestimmt wird, eine Religion, die wieder zum Katholicismus zurück führt. Was Natur und Geschichte betrifft, so ist er der Rückweg zum Zustande des paradiesischen Urvolks.*)*

*) A. Ruge, Gesammelte Schriften. Bd. I, S. 328 ff.
So erklärt es sich eben aus der Grundidee der Romantik – dem Rückwege, – daß sogar die himmelstürmende »Lucinde«, wie alle übrigen Himmelstürmereien der Romantiker, nicht die geringste praktische Wirkung hatten. »Laßt uns radikaler das Schlechte nun tödten!« singt Henrik Ibsen. Ich möchte lieber ruhig und leidenschaftslos sagen: Laßt uns die Probleme wieder in neuer Form aufnehmen und sie auf andere Weise behandeln, wir, die wir fest entschlossen sind, nicht rückwärts, sondern vorwärts zu schreiten!

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