Die romantische Schule in Deutschland (1873)

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Ich habe geschildert, wie die Romantik von ihrer negativen Seite, der Wirklichkeitsscheu und der Willkür, durch die ältere Literatur, durch Goethe und Schiller, vorbereitet war, und in welchen Lebensverhältnissen Dies seinen Grund hatte. Man wird jetzt sehen, wie die Romantik andererseits auch von ihrer positiven Seite in höchstem Grade durch das ihr Vorhergegangene vorbereitet war.

Verweilen wir noch einen Augenblick bei Roquairol. Sehen wir ab von der besondern Nuance dämonischer Phantastik, welche der Charakter hier erhalten hat. Was ist dann seine Grundlage? Seine Grundlage ist Leidenschaft, d. h. was man in Deutschland »Freigeisterei« der Leidenschaft, ihr Freiheitsgefühl und ihren Empörungsdrang nennt. Allein gerade dies Gefühl war der Ausgangspunkt der modernen deutschen Literatur in Goethe’s und Schiller’s Jugenddichtnngen. Sie werden von einer und derselben Grundstimmung titanischen Trotzes getragen. Sie sind Ausdrücke einer und derselben Opposition.« Sie sind revolutionäre Ausbrüche und revolutionäre Experimente. Goethe’s Schauspiel »Die Geschwister« experimentirt mit der Liebe zwischen Bruder |61| und Schwester. Seine »Stella« schließt in ihrer ursprünglichen Gestalt wie eine Vertheidigung der Doppelehe, und auf gleiche Art schildert Jean Paul im »Siebenläs« die Bigamie als Etwas, das dem Genie gestattet sei, wenn es sich durch die zuerst eingegangene Verpflichtung bedrückt fühlt. »Götz« ist der tragische Untergang des genialen Individuums im Kampf wider ein schlaffes und verderbtes Zeitalter. Schiller’s »Räuber« mit ihrer Vignette »In tyrannos« und ihrem Motto von Hippokrates: »Was Arzenei nicht heilt, heilt das Eisen; was das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer«, sind eine Kriegserklärung wider die Gesellschaft. Karl Moor ist der hochherzige Idealist, der im »Kastraten- Jahrhundert« nothwendig als Verbrecher zu Grunde gehen muß. Schiller’s Räuber sind keine Banditen, sondern Revolutionäre. Sie wollen nicht plündern, sondern strafen, sie haben es nicht auf das Postfelleisen, sondern auf die Privilegien abgesehen, sie scheiden sich von der Gesellschaft ab, um sich für erlittenes Unrecht an ihr zu rächen. In Schillers »Räubern« treibt die Revolution ihr Räuberspiel, acht Jahre bevor sie im Ernste losbricht. Noch persönlicher spricht sich Schiller’s Titanentrotz in den Gedichten seiner ersten Periode aus, die er unter der Inspiration seines Liebesverhältnisses zu Frau von Kalb schrieb. Sie sind in der gewöhnlichen Ausgabe umgearbeitet und gänzlich entstellt. Man muß sie in den kritischen Ausgaben von Kurz oder |62| Goedeke nachlesen. Indem Gedichte, welches später »Der Kampf« betitelt ward, aber ursprünglich die Ueberschrift »Freigeisterei der Leidenschaft« trug, heißt es:

Woher dies Zittern, dies unnennbare Entsetzen,
Wenn mich Dein liebevoller Arm umschlang?
Weil Dich ein Eid, den auch schon Wallungen verletzen,
In fremde Fesseln zwang?
Weil ein Gebrauch, den die Gesetze heilig prägen,
Des Zufalls schwere Missethat geweiht?
Nein – unerschrocken trotz’ ich einem Bund entgegen,
Den die erröthende Natur bereut.
O zittre nicht – Du hast als Sünderin geschworen,
Ein Meineid ist der Reue fromme Pflicht,
Das Herz war mein, das Du vor dem Altar verloren,
Mit Menschenfreuden spielt der Himmel nicht.

So wunderlich diese naive Sophistik auch klingen, so zweifelhaft es erscheinen mag, ob der Himmel sich nicht doch manchmal gestatten sollte, ein wenig mit Menschenfreuden zu spielen, so unzweideutig ist hier die Tendenz, und, wie Hettner (III, 3, I, S. 375) treffend bemerkt, sagt Don Carlos fast gleichlautend: »Die Rechte meiner Liebe sind älter als die Formel am Altar.« Denn »Don Carlos«, welcher dreimal je nach der herrschenden Passion Schiller’s umgearbeitet wurde, hat in seinem zweiten Entwurfe den Angriff auf die Ehe zum Hauptgedanken.

Für die junge Königin Elisabeth gab Charlotte von Kalb das Vorbild ab. Diese Dame, welche Schiller’s Geliebte in seiner Jugendzeit war, hatten ihre Eltern |63| zur Eingebung einer Ehe gezwungen. Im Jahre 1784 lernte Schiller sie kennen, und noch 1788 dachten sie daran, ihr Schicksal für immer mit einander zu vereinen. In ihrem Hause placirt Schiller den armen Hölderlin, als Derselbe seine Hauslehrerstelle in Frankfurt wegen seines Liebesverhältnisses mit der Dame des Hauses, Susette Gontard, aufgeben mußte. Kurz nachdem Schiller sie verlassen, ward sie die Geliebte Jean Paul’s. (Karoline Schlegel nennt sie im Scherz Jeannette Pauline.) Er beschreibt sie folgendermaßen: »Sie hat zwei große Dinge, große Augen, wie ich noch keine sah, und eine große Seele«. Nach seinem eigenen Geständnisse ist sie es, welche er als die Titanide Linda Roquairol gegenüber gestellt hat. Von Linda heißt es im »Titan« (118. Zykel), sie müsse geschont werden, »nicht nur in ihrer Zartheit, sondern auch in ihrer eigenen Ehescheu, die sehr weit gehe«. Sie kann nicht einmal eine Freundin an den Traualtar begleiten, sie nennt diesen den Richtplatz der weiblichen Freiheit, den Scheiterhauer der schönsten, freiesten Liebe, und sagt, das Heldengedicht der Liebe werde dann höchstens zum Schäfergedicht der Ehe. Und vergebens hält ihre verständige Freundin ihr vor (125. Zykel), gewiß sei nur ihre Abneigung gegen die »Priester« an ihrer Abneigung gegen die Ehe Schuld – sei denn das Eheband Etwas anders, als ewige Liebe, und halte sich nicht jede rechte für eine ewige? – man zähle eben so viele, wo |64| nicht mehr unglückliche Liebeshändel, als unglückliche Ehen u. s. w. Frau von Kalb schreibt selbst an Jean Paul: »Das Ködern mit dem Verführen, ach, ich bitte, verschonen Sie die armen Dinger und ängstigen Sie ihr Herz und Gewissen nicht mehr! Die Natur ist schon genug gesteinigt. Ich ändere mich nie in meiner Denkart über diesen Gegenstand. Ich verstehe diese Tugend nicht und kann um ihretwillen Keinen selig sprechen. Die Religion hier auf Erden ist Nichts anders, als die Entwickelung und Erhaltung der Kräfte und Anlagen, die unser Wesen erhalten hat. Keinen Zwang soll das Geschöpf dulden, aber auch keine ungerechte Resignation. Immer lasse der kühnen, kräftigen, reisen, ihrer Kraft sich bewußten und ihre Kraft brauchenden Menschheit ihren Willen; aber die Menschheit und unser Geschlecht ist elend und jämmerlich. Alle unsere Gesetze sind Folgen der elendesten Armseligkeit und Bedürfnisse, und selten der Klugheit. Liebe bedürfte keines Gesetzes.«

Es spricht ein großer und energischer Geist aus diesem Briefe. Der Sprung von hier bis zur Idee der »Lucinde« ist nicht groß, aber der Fall von hier bis zur platten Ausführung der »Lucinde« ist tief. Doch recht versteht man erst diese Ausbrüche, wenn man auf die gesellschaftlichen Verhältnisse blickt, aus denen sie hervorgingen, und wenn man weiß, daß sie keine vereinzelten, losgerissenen und zufälligen Anklagen, sondern durch das allgemeine Verhältnis der poetischen Naturen |65| zur damaligen Gesellschaft bedingt sind Das Hauptquartier und der Sammelpunkt der deutschen Klassiker war damals Weimar. Die Ursache, wie eine so kleine Stadt in einem kleinen Herzogthum dazu werden konnte, läßt sich unschwer nachweisen. Von den zwei großen Fürsten Deutschlands war Joseph II. allzu sehr von seinen rationalistischen Reformbestrebungen in Anspruch genommen, allzu eifrig um die Verstandesaufklärung besorgt, als daß er für die deutsche Poesie noch irgendwie hätte Interesse haben können, und der voltairianische Friedrich von Preußen war, wie bekannt, an Geschmack und Geistesrichtung allzu französisch, um ein Interesse an den deutschen Dichtern zu haben. Nur die kleinen Höfe nahmen sich ihrer an: Schiller fand seinen Zufluchtsort in Mannheim, Jean Paul in Gotha, Goethe residirte in Weimar. Lange Zeit war die poetische Produktion in Deutschland nicht centralisirt gewesen. Jetzt wurde Weimar ihr Mittelpunkt. Goethe berief Herder und Wieland dorthin und verschaffte Schiller eine Anstellung in dem benachbarten Jena. Weimar war also die Stätte, wo praktisch wie theoretisch die Leidenschaft am rücksichtslosesten und vorurtheilslosesten als poetisch gegenüber der Gesellschaftskonvenienz vergöttert ward. »Ach, hier sind Weiber!« ruft Jean Paul aus, als er nach Weimar kommt, »hier ist Alles revolutionär kühn, und Gattinnen gelten Nichts.« Wieland nimmt seine frühere Geliebte, die La Roche, ins Haus, »um aufzuleben.« |66| Schiller schlägt der Frau von Kalb eine gemeinschaftliche Reise nach Paris vor.

Goethe ist Derjenige, welcher bei seiner Ankunft in Weimar die ganze Sturm- und Drang-Periode mitbringt. Man kann sich keine eigenthümlichere und frischere Gesellschaft als diese denken: der Herzog und die Herzogin 18, Goethe 26, die Herzogin Amalie, Karl August’s Mutter, erst 86 Jahre alt und voll ungebundenster Lebenslust. Die Seele diese Hofes wird Goethe, und mit dem Uebermuthe der Jugend reißt er diesen Kreis in einem Taumel von Vergnügungen, Festen, Landpartien, Wettläusen und Maskeraden, in einer oft »wüthigen« Ausgelassenheit, einer wilden Naturfreude mit sich fort, welche durch mehr oder minder leichtfertige Liebschaften bald erhellt, bald »verdüstert« wird. Jean Paul schreibt seinem Freunde, daß er die weimaranischen Sitten nur mündlich schildern könne. Wenn man bedenkt, daß schon das Schlittschuhlaufen dem weimaranischen ehrbaren Philister ein Skandal dünkte, wird man sich nicht über den galligen Ausspruch des alten Wieland verwundern, daß man es nur daraus anzulegen scheine, »die bestialische Natur zu brutalisiren.« So war die sanfte und seinsinnige Kokette Frau von Stein zehn Jahre hindurch Goethe’s Muse, das Urbild seiner Leonore und Iphigenie. Und groß war das Aergernis, als Goethe Christiane Julpius das Blümchen, »wie Sterne leuchtend, wie Aeuglein schön«, in sein Haus nahm und |67| achtzehn Jahre mit ihr lebte, ehe er seinen Bund durch kirchliche Einsegnung legitimirte. Schiller war mit Charlotte von Lengefeld vermählt, allein ihre Schwester Karoline, Schülers »Ideal«, mit welcher er sich inniger verwandt fühlte, trennte sich von ihrem Gatten und zog in sein Haus. So begreift man, daß Jean Paul unter dem Eindrucke von Frau von Kalb’s Persönlichkeit hier in Weimar ausrufen kann: »So Viel ist gewiß, eine geistigere und größere Revolution, als die politische, und eben so mörderisch wie diese schlägt im Herzen der Welt.«

Welche Revolution? Die Emancipation des Gefühls vom Herkommen der Gesellschaft, das respektividrige Pochen des Herzens auf sein Recht, sein Gesetzbuch als den neuen Sittenkoder zu betrachten und die Sitten nach der Sittlichkeit, zuweilen bloß nach der Neigung umzuformen. Darüber hinaus wollte man Nichts, dachte man an Nichts. Praktische oder sociale Reformen hatte man nicht im Auge. Das echt Deutsche zeigt sich darin, daß man sich äußerlich immer tief vor jeder Regel beugte, über welche man sich offen hinwegsetzte oder welcher man sich heimlich entzog. Nicht nur betont z. B. der ältere Goethe in direkten Gesprächsauslassungen beständig die Aufrechterhaltung der bestehenden Formen des Zusammenlebens der Geschlechter als absolut nothwendig für die Kultur, sondern durchgehends sprach man in seinen Schriften revolutionäre Ideen aus, denen man selbst mehr oder minder beistimmte, und widerrief sie dann am |68| Schlusse, indem der Held entweder sein Unrecht bekennt, oder sich selbst umbringt, oder für seinen Trotz gestraft wird, oder damit endet, daß er entsagt (wie Karl Moor, Werther, Tasso, Linda), gerade wie die ketzerischen Verfasser im Mittelalter am Schlusse eine Notiz hinzufügten, daß Alles, was in dem Buch stehe, selbstverständlich in Uebereinstimmung mit den Satzungen der heiligen allgemeinen Mutter Kirche aufzufassen sei.

In diesen Kreis begabter Frauen zu Weimar tritt während ihres Besuches in Deutschland Frau von Staël »der Sturm im Unterrocke«, wie man sie nannte. Sie nimmt sich unter ihnen wie ein wilder, fremdartiger Vogel aus. Welcher Unterschied in ihren Tendenzen und den Sympathien Jener! Bei ihnen ist Alles persönlich, bei ihr ist schon Alles social. Sie ist öffentlich aufgetreten, sie schlägt mörderliche Schlachten für große gesellschaftliche Reformen. Diese deutschen Frauen aus der Humanitätsepoche sind, selbst wo sie am weitesten gehen, dafür zu idyllisch angelegt. Für Frau von Staël gilt es, das Leben politisch umzuformen, für Jene gilt es, das Leben poetisch zu gestalten. Der Gedanke, einem Napoleon den Handschuh hinzuwerfen, hätte Keiner von ihnen jemals einfallen können. Welch unpassender Gebrauch eines Damenhandschuhs, eines Liebespfandes! Nicht auf die Menschenrechte, sondern auf die Rechte des Herzens verstehen sie sich, und sie bekämpfen nicht das Unrecht des Lebens, |69| sondern dessen Prosa. Das Verhältnis zwischen der Gesellschaft und dem genialen Individuum nimmt hier nicht, wie in Frankreich, die Form eines Kampfes zwischen individueller, revolutionärer Freiheit und socialer, traditioneller Nothwendigkeit an, sondern die Form eines Kampfes zwischen den Wünschen des Einzelnen als Poesie, und Politik und Gesellschaftsregel als Prosa. Daher der romantischen Literatur unablässiges Preisen der Fähigkeit und der Kraft, zu wünschen, ein Thema, auf welches besonders Friedrich Schlegel häufig zurück kommt. Es ist in Wirklichkeit die einzige nach auswärts gerichtete Kraft, welche man besitzt, die Ohnmacht selber als Kraft aufgefaßt. Wir finden dieselbe Jewunderung des Wünschens in Kierkegaard’s »Entweder – Oder«: »Deshalb ist Aladdin so erfrischend, weil dies Gedicht eine geniale, kindliche Kühnheit in den abeuteuerlichsten Wünschen hat. Wie Viele haben wohl in unserer Zeit wahrhaft den Muth, zu wünschen! etc. etc.« Kindlichkeit und abermals Kindlichkeit! Aber wer kann sich darüber wundern, daß der Wunsch, die Mutter der Religionen und der Ausdruck der Unthätigkeit, das Stichwort der Romantiker ward? Der Wunsch ist hier Poesie, die Gesellschaft Prosa. Erst aus diesem Gesichtspunkte versteht man auch die klarsten und geläutertsten Werke der großen deutschen Dichter. Goethe’s »Tasso« mit seinem Kampfe zwischen Staatsmann und Dichter, d. h. zwischen Wirklichkeit und Poesie, |70| mit seiner Schilderung des Gegensatzes zwischen den Beiden, die einander ergänzen und nur ungleich sind, »weil die Natur nicht Einen Mann aus ihnen Beiden formte«, ist trotz seiner krystallklaren Form und seiner hart erkämpften Resignation ein Produkt derselben langen Gährung, welche der romantischen Schule all’ ihre Fermente überliefert. »Wilhelm Meister« hat kein anderes Sujet. Auch dies Werk schildert die langsame, stufenweise Versöhnung und Verschmelznng des poetischen Ideals mit der realen Wirklichkeit. Allein nur die größten Geister vermochten diese Höhe zu erreichen, die große Schaar hervorragender, aber unklar strebender Geister verblieb in der Disharmonie und je mehr die Poesie sich jetzt ihrer als tacht bewußt ward, je mehr der Dichter sich in seiner Würde fühlte, und die Literatur eine kleine Welt für sich mit ihren besonderen Fachinteressen wurde, desto mehr nahm der Kampf gegen die Wirklichkeit die Untergeordnete Form eines Kampfes gegen das Philisterthum an (man vgl. z. B. Eichendorff’s Drama »Krieg den Philistern!«). Es wird daher nicht die Aufgabe der Poesie, das ewige Recht der Freiheit gegenüber der Tyrannei der äußeren Verhältnisse geltend zu machen, sie macht sich selbst als Poesie gegenüber der »Prosa« des Lebens geltend. Dies ist die germanische, die deutsch-nordische, d. h. die literarisch reflektirte Auffassung der Befreiungsthat der Poesie.

»Man muß sich erinnern, sagt Kierkegaard (in seiner |71| Abhandlung über den Begriff der Ironie, S. 322), »daß Tieck und die ganze romantische Schule in ein Verhältnis zu einer Zeit traten oder zu treten glaubten, in welcher die Menschen gleichsam gänzlich verknöchert waren in den endlichen socialen Verhältnissen. Alles war vollkommen und beschlossen in einem göttlichen chinesischen Optimismus, welcher keine vernünftige Sehnsucht unbefriedigt und keinen vernünftigen Wunsch unerfüllt ließ. Die herrlichen Grundsätze und Maximen der Sitte und des Herkommens waren Gegenstand einer frommen Gottesverehrung; Alles war absolut, selbst das Absolute; man enthielt sich der Polygamie, man ging mit spitzen Hüten einher, Alles hatte seine Bedeutung. Jeder fühlte nach Verhältnis seiner Stellung mit nüancirter Kürde, wie Viel er beschaffte, von wie großer Bedeutung sein unermüdliches Streben für ihn selbst und das Ganze war. Man lebte nicht quäkerhaft leichtsinnig, ohne auf Stunde und Glockenschlag zu achten, solche Gottlosigkeit suchte sich vergebens einzuschleichen. Alles ging seinen ruhigen, seinen abgemessenen Gang, selbst Der, welcher auf Freiersfüßen ging; denn er wußte ja, daß er auf gesetzlicher Bahn wandelte und einen höchst ernsthaften Schritt unternahm. Alles geschah nach dem Glockenschlage. Man schwärmte am St. Johannistage in der Natur, man war zerknirscht im Gefühl seiner Sünden am Buß- und Bettage, man verliebte sich, wenn man sein zwanzigstes Jahr vollendet |72| hatte, man ging um zehn Uhr zu Bette. Man verheirathete sich, man lebte für seine Häuslichkeit und für seine Stellung im Staate; man bekam Kinder und Familiensorgen; man stand in seiner vollen Manneskraft, wurde höheren Ortes in seiner segensreichen Thätigkeit bemerkt, verkehrte freundschaftlich mit dem Prediger, unter dessen Augen man episch all’ die schönen Züge zu einem ehrenvollen Nachruf vollbrachte, den er, wie man wußte, dereinst mit gerührtem Herzen vergebens hervorzustammeln bemüht sein würde; man war Freund in des Wortes wahrer und aufrichtiger Bedeutung, ein wirklicher Freund, wie man wirklicher Kanzleirath war.«

Mir scheint diese Schilderung an sich nicht besonders historisch zu sein. Abgesehen davon, daß man jetzt keine spitzen, sondern runde Hüte trägt, sehe ich nicht, weshalb sie 1873 minder gut auf uns passen sollte, als zu jeder anderen Zeit. Sie charakterisirt nicht bestimmter Ein Zeitalter, als ein anderes. Nein, das Eigenthümliche liegt hier nur in der Auffassung der begabten Geister, der Romantiker von der Spießbürgerlichkeit. Sie faßten sie philosophisch als das Endliche, intellektuell als das Beschränkte auf, nicht moralisch wie wir, wenn wir sie als das Schlechte betrachten. Sie machten ihr gegenüber ihre eigene unendliche Sehnsucht geltend. Ihrer Prosa stellten sie ihre eigene jugendliche Poesie gegenüber, wie wir ihrer Jämmerlichkeit unseren Manneswillen. Als allgemeine Regel gilt also, daß sie mit ihrer Sehn|73| sucht und ihren Gedanken aus der Gesellschaft und der Wirklichkeit flüchteten. Ausnahmsweise machten sie jedoch, wie schon angedeutet, hin und wieder den Versuch, wenn nicht ihre Ideen im Leben zu verwirklichen, so doch zu skizziren, wie sie sich die Lösung des Räthsels dachten, wie die Wirklichkeit solchergestalt umgeformt werden könnte, daß sie ohne Rest in der Poesie aufginge.

Nicht daß hier ein Funke von Entrüstung oder von einer Iniative aufblitzte, wie bei französischen Schriftstellern auf diesem Gebiete, z. B. bei George Sand, aber man amüsirt sich damit, revolutionäre oder mindestens skandalöse Ideen zu entwerfen.

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