Die romantische Schule in Deutschland (1873)

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Derjenige, welcher aus Büchern oder durch Reisen einen Eindruck von dem jetzigen Deutschland erhält, kann, wenn er auf das Deutschland, das vor achtzig Jahren existirte, zurück blickt, nicht genug über den Unterschied erstaunen. Welcher Abstand zwischen jetzt und damals! Wer sollte glauben, daß dies realistische Deutschland einst ein romantisches Deutschland gewesen sei!

Alle öffentlichen Aeußerungen, alle Privatgespräche, ja selbst die Physiognomien der Städte tragen in unseren Tagen das Gepräge eines entschiedenen Wirklichkeitssinnes. Durchwandelt man eine Straße in Berlin, so begegnet man überall dem strammen, uniformirten, mit Ehrenzeichen bedeckten Militär. Inden Schaufenstern der Buchhändler liegen vorwiegend Schriften aus, die ein praktisches Ziel verfolgen. Selbst Hausrath und Geschmacksgegenstände sind von dem neuen Geiste beeinflußt Nichts kann derber und kriegerischer aussehen, als ein Berliner Galanterieladen. Auf den Tafeluhren, wo sonst ein geharnischter Ritter knieend die Fingerspitzen seiner Dame küßte, stehen jetzt Uhlanen und Kürassiere in voller Uniform, Spitzkugeln hängen als Berloques an den Taschenuhren, und Gewehrpyramiden bilden Leuchter. Das Metall, welches in der |27| Mode ist, ist das Eisen. Das Wort, welches in der Mode ist, ist ebenfalls das Eisen. Jenes Volk von Dichtern und Denkern ist augenblicklich mit allem Andern als damit beschäftigt, zu dichten und zu philosophiren. Selbst hochgebildete Deutsche sind heutigen Tags unwissend in der Philosophie – nicht einer von zwanzig deutschen Studenten hat in jetziger Zeit das Mindeste von Hegel gelesen, – das Interesse für Poesie in metrischer Form ist so gut wie erloschen, die politischen und socialen Probleme erwecken hundertmal mehr Aufmerksamkeit, als die Bildungsprobleme und Räthsel des Herzens. – Und dies Volk ist es, das sich einstmals in romantische Reflexionen und Träumereien verlor, und seinen Repräsentanten in Hamlet sah. Hamlet und Bismarck! Bismarck und Romantik! Sicherlich hat der große deutsche Staatsmann besonders aus dem Grunde ganz Deutschland mit sich fortzureißen vermocht, weil er dem Volke in seiner Person alle die Eigenschaften brachte, die es so lange vermißt und ersehnt hatte. Mit ihm hat die Politik die Aesthetik abgelöst. Deutschland ist Eins geworden, die Militärmonarchie hat die Kleinstaaten und mit ihnen all’ ihre feudalen Idyllen verschlungen, Preußen ist Deutschlands Piemont geworden und hat dem neuen Reiche seine regelrechte und praktische Geistesrichtung ausgeprägt, zur selben Zeit, wo die Naturwissenschaften die Philosophie verdrängt oder reformirt haben, und wo die nationale Idee das |28| Humanitätsideal verdrängt und modificirt hat. Der Freiheitskrieg von 1813 war vorherrschend ein Produkt der Begeisterung, die Siege von 1870 waren überwiegend ein Produkt umsichtigster Berechnung.

Die Idee, unter deren Sterne das neue Deutschland steht, ist die Idee, sich einem Ganzen einzuordnen. Sie durchdringt das Leben und die Literatur. Der Ausdruck: »In Reih und Glied« (der Titel eines zeitgenössischen Romans) kann in dieser Hinsicht als die allgemeine Losung gelten. Man will das Zerstreute sammeln und die in allzu wenig Händen angehäufte Kultur ausbreiten, man will einen großen Staat und eine große Gesellschaft gründen und fordert Resignation von dem Einzelnen zum Besten der Massenwirkung. Massenwirkung! Diese findet man überall in den bedeutendsten Phänomenen des Zeitalters. Es ist der Glaube an sie, welcher der Organisation Bismarck’s und der Agitation Lassalle’s, der Kriegskunst Moltke’s und der Musik Wagners zu Grunde liegt. Es ist der Wille, das Volk zu erziehen und es um gemeinschaftliche Ziele zu schaaren, welcher der literarischen Thätigkeit der Prosaschriftsteller zu Grunde liegt. Sich an die Sache und den Gegenstand zu halten, was man in früheren Tagen Objektivetät und Realismus nannte, haben alle Produktionen gemein, welche am treuesten die Zeit abspiegeln. Die Massenwirkung wird in der Literatur von dem Verhältnis zu geschichtlichen Ideen, von dem Glauben an Fortschritt |29| und Freiheit als historische Mächte bedingt. Das Verhältnis des Einzelnen zur Menschheit, die Aufopferung des Ich für die Idee steht in dieser Literatur in scharfem Kontraste zu der Vergötterung des geistreichen Individuums mit all’ seinen Besonderheiten und zu der Gleichgültigkeit für alles Historische und Politische, welche der Romantik eigen war. Die Romantik war und blieb ja vorherrschend Salonpoesie und ihr Ideal die geistreiche Gesellschaft und der ästhetische Thee. (Man sehe z. B. die Gespräche in Tieck’s »Phantasus«.)

Denn wie ganz anders sah es nicht vordem im Leben und in der Literatur aus! Ueberall sehen wir das losgerissene Ich, in seiner heimatlosen Willkür. Das freie unhistorische Ich ist hier der Stern. Das ganze Reich war in eine Menge von Kleinstaaten unter 300 Souverainen und 1500 Halbsouverainen getheilt. In diesen herrscht der sogenannte aufgeklärte Despotismus des achtzehnten Jahrhunderts mit seinen kleinlich verknöcherten Gesellschaftsverhältnissen. Der Edelmann ist der Herr seiner Leibeigenen, der Hausvater Tyrann seiner Familie gegenüber; aller Enden strenge Justiz und keine Gerechtigkeit. Keine Aufgaben in der Wirklichkeit für den Einzelnen, daher kein Platz für das Genie. Das Theater wird die einzige Stätte, wo Der, welcher nicht von fürftlicher Geburt ist, alle Scenen des Menschenlebens durchleben kann. Daher die Theatermanie der Literatur. Da es keine Gesellschaft giebt, in der man |30| wirken könnte, nimmt alle Thätigkeit nothwendig die Form entweder des Kampfes gegen die Wirklichkeit oder der Flucht aus der Wirklichkeit an. Die Flucht wird durch den Einfluß der wieder entdeckten Antike, durch die Eindrücke der Winckelmann’schen Schriften vorbereitet, der Kampf durch den Einfluß der sentimentalmelancholischen Dichter Englands (Young, Sterne) und des Franzosen Rousseau, welcher als der Apostel der Natur verehrt wird, der nach Schiller’s Ausdruck »aus Christen Menschen wirbt.« Bei Keinem erreicht die Gräkomanie eine solche Höhe, wie bei Hölderlin. Seine ganze Schriststellerthätigkeit und sein ganzes Leben sind nur eine lange Sehnsuchtsklage um das verlorene Hellas. Von den Deutschen sagt er: »sie stehen wie Gänse mit platten Füßen im modernen Wasser und mühen sich ohnmächtig ab, zum griechischen Himmel empor zu flattern.« Er nennt sie Barbaren, welche durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion noch barbarischer geworden. Er jubelt über die Siege der Franzosen, über die »Riesenschritte der Republikaner«, verhöhnt alle die »Lumpereien des politischen und geistlichen Würtembergs und Deutschlands und Europas«, verspottet die »bornirte Häuslichkeit« der Deutschen, und klagt über ihre Fühllosigkeit für gemeinsame Ehre und gemeinsames Eigenthum. »Ich kann,« sagt er, »mir kein Volk denken, das zerrissener wäre, als die Deutschen. Handwerker siehst Du, aber keine Menschen, Denker, aber keine |31| Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Junge und Gesetzte, aber keinen Menschen.« – Man weiß, bis zu welchem Punkte daher die Interesselosigkeit für die politische Wirklichkeit bei dem größten Dichtergeiste der Epoche ging. Ein Paar Anekdoten aus Goethe’s Leben können als Beweis dafür dienen, wie bei ihm das parteilose wissenschaftliche Interesse an die Stelle des persönlichen politischen Interesses treten mußte. Von seiner Theilnahme an dem Feldzuge gegen Frankreich während der Revolution gebraucht er den Ausdruck, daß er seine Zeit dort benutzt habe, um verschiedene Phänomene der »Farbenlehre« und des »persönlichen Muthes« zu studiren. Nach der Schlacht bei Jena schreibt Knebel von ihm und sich: »Goethe war die ganze Zeit mit seiner Optik beschäftigt. Wir studiren hier unter seiner Anleitung Osteologie, wozu es passende Zeit ist, da alle Felder mit Präparaten besäet sind.« Die Leichen seiner gefallenen Landsleute begeisterten ihn nicht zu Oden oder Elegien, er skelettirte sie und präparirte die Knochen. Und als der einundachtzigjährige Goethe gleich nach der Julirevolution einen Bekannten mit dem Ausrufe empfing: »Nun, was sagen Sie zu dem großen Ereignisse? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen!« und der Betreffende mit einem Herzensergusse über die Vertreibung der königlichen Familie antwortete, wies Goethe das Mißverständnis zurück: er hatte von dem gerade in der Akademie ausgebrochenen |32| wissenschaftlichen Streite zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire gesprochen.

Dergleichen macht es Einem auch verständlich, wie Goethe sich als Dichter den Zeitbewegungen so fern halten konnte. Daß er während des Kampfes mit Napoleon keine patriotischen Kriegslieder schrieb, hat freilich auch seine gute Seite, die man nicht übersehen darf:Gottschall, Nationalliteratur. Bd. I, S. 58. »Kriegslieder schreiben und im Zimmer sitzen, Das wäre meine Art gewesen! Aus dem Bivouak heraus, wo man Nachts die Pferde der feindlichen Vorposten wiehern hört: da hätte ich es mir gefallen lassen! Aber Das war nicht mein Leben und nicht meine Sache, sondern die von Theodor Körner. Ihn kleiden seine Kriegslieder auch ganz vollkommen. «Bei mir aber, der ich keine kriegerische Natur bin und keinen kriegerischen Sinn habe, würden Kriegslieder eine Maske gewesen sein, die mir sehr schlecht zu Gesicht gestanden hätte. Ich habe in meiner Poesie nie affektirt.« Der starke Drang, nur zu behandeln, was er selbst erlebt hatte, führte Goethe, ähnlich wie seinen Schüler Heiberg, dazu, sich hier zurück zu halten, wie er ja überhaupt nach seinem Ausspruche alles Historische für »das undankbarste und gefährlichste Fach« hielt.

Die reine Humanität ist sein Ideal, wie das der ganzen Periode; das Privatleben verschlingt Alles. All’ |33| die gewaltigen Kämpfe des achtzehnten Jahrhunderts und der Aufklärungszeit bleiben, in Uebereinstimmung mit dem idealistischen Naturell der Deutschen, auf den Bildungsproceß des Individuums beschränkt. Aber die reine Humanität ist nicht bloß Abwendung vom Historischen, sondern überhaupt Interesselosigkeit für den Stoff als Stoff. In einem seiner Briefe an Goethe bemerkt Schiller, daß zwei Dinge vom Dichter und Künstler verlangt werden müßten, erstlich daß er sich über das Wirkliche erhebe, und sodann daß er innerhalb des Sinnlichen stehen bleibe. Und Dies entwickelt Schiller genauer so, daß der Künstler, welcher inmitten ungünstiger, formloser Verhältnisse steht und deshalb die Wirklichkeit verläßt, leichtlich zugleich die Sinnenwelt verläßt und abstrakt, ja, wenn sein Verstand schwach ist, sogar phantastisch wird; oder, wenn er sich umgekehrt an die Sinnenwelt hält, leicht bei Dem, was bloß wirklich ist, stehen bleibt, und, wenn seine Phantasie gering ist, sklavisch und gemein wird. In diesen Worten ist gleichsam die Wasserscheide enthalten, welche die deutsche Literatur jenes Zeitalters trennt. Auf der einen Seite liegt die Goethe-Schiller’sche unpopuläre Kunstpoesie und ihre Fortsetzung in den Phantastereien der Romantiker, auf der andern Seite die bloße Unterhaltungsliteratur, welche auf dem Boden der Wirklichkeit, aber einer spießbürgerlichen Wirklichkeit steht, und deren bekannteste Vertreter Lafontaine’s bürgerlich-sentimentale Romane und Schröder’s, Issland’s, |34| Kotzebue’s populär-prosaische Familiendramen sind. Daß diese Spaltung eintrat, war ein Unglück für die deutsche Literatur. Aber trat auch die Losreißung der guten Literatur von der Wirklichkeit erst bei den Romantikern in abschreckender Gestalt hervor, so darf man doch nicht vergessen, daß die Spaltung viel weiter zurück liegt, und daß Kotzebue schon eben so sehr Schiller’s und Goethe’s Gegenpol war, wie später derjenige der Romantiker. Eine Anekdote aus jener Zeit kann uns einen lebendigen Eindruck hievon geben. Goethe, Tag- und Jahreshefte, 1802. – G. Waitz, Karoline. Bd. II, S. 207. – Gottschall, Nationalliteratur. Bd. I, S. 33.

Eines Tages in der ersten Frühlingszeit des Jahres 1802 war die kleine Stadt Weimar in größter Aufregung über ein in allen Häusern und Kellern besprochenes und beklatschtes Ereignis. Man hatte lange gewußt, daß eine besondere Festlichkeit im Werke sei. Es hieß, daß ein sehr berühmter und angesehener Mann, der Präsident von Kotzebue, unter der Hand sich an den Bürgermeister gewandt habe, um die Ueberlassung des kürzlich neu dekorirten Rathhaussaales zu erlangen. Die vornehmsten Damen der Stadt hatten seit einem Monate Nichts anders gethan, als Kostüme nähen zu lassen, und sie anzuprobiren. Man wußte, daß Fräulein von Imhof fünfzig Goldgulden für ihr Gewand ausgegeben. |35| Man hatte mit Verwunderung einen Bildschnitzer und einen Vergolder einen merkwürdigen Helm und eine Fahne bei helllichtem Tag über die Straße tragen sehen. Wozu sollten diese Sachen gebraucht werden? Wollte man aus dem Rathhause Komödie spielen? Man wußte, daß eine riesige Glockenform aus Pappe, die aussehen sollte, als wäre sie gemauert, in der Stadt bestellt worden sei. Wozu sollte sie benutzt werden? Bald war es kein Geheimnis mehr Kotzebue, der berühmte Verfasser von »Menschenhaß und Reue«, war, mit russischen Rubeln und einem Adelsdiplom ausgestattet, in seine Vaterstadt Weimar heimgekehrt, um in Goethe’s und Schiller’s Hunde der Dritte zu sein. Es war ihm geglückt, bei Hofe empfangen zu werden. Jetzt galt es für ihn, Einlaß in Goethe’s Kreis zu erlangen, der ein Hof wie der andere, und zu welchem der Zutritt noch schwieriger war. Eine geschlossene Gesellschaft, die, für welche Goethe seine unsterblichen Gesellschaftslieder gedichtet, kam einmal wöchentlich bei dem Dichter zusammen. Kotzebue ließ sich von den Damen dieses Kreises vorschlagen, aber Goethe fügte den Gesellschaftsstatuten eine Bestimmung hinzu, welche den Eindringling ausschloß. Nun beschloß Kotzebue, um sich zu rächen, Schiller auf eine Weise zu feiern, welche, wie er hoffte, Goethe einen gründlichen Aerger bereiten würde. Dieser hatte so eben einige persönliche Ausfälle gegen die Brüder Schlegel in Kotzebue’s aus dem Weimarer Theater auf|36|geführtem Stücke »Die deutschen Kleinstädter« gestrichen. Kotzebue wollte daher, um mit dem Theater zu rivalisiren, eine große Vorstellung zu Ehren Schiller’s auf dem Rathhause geben. Scenen aus all’ seinen Stücken sollten ausgeführt, und zuletzt sollte »Das Lied von der Glocke« dargestellt und vorgetragen werden. Wenn Kotzebue dann als Meister mit dem Schurzfell am Ende des Gedichtes die Pappform mit seinem Hammer entzwei schlüge, sollte darin nicht eine Glocke, sondern Schiller’s Büste erscheinen. Man hatte jedoch die Rechnung ohne den Wirth, d. h. ohne Goethe, gemacht. In Weimar befand sich nur Eine Büste Schiller’s. Diese stand in der Bibliothek. Als man am letzten Tage hinschickte, um sich dieselbe leihweise zu erbitten, erhielt man zu seiner Verwunderung die Antwort, daß das Verlangen leider abgeschlagen werden müsse, da noch nie, so lange die Welt stehe, eine zu einer Festlichkeit benutzte Gipsbüste im selben Zustande, in welchem sie verliehen worden, zurück gekommen sei. Und was glich der Verwunderung und Wuth der verbündeten Armee, als die Zimmerleute, welche mit Brettern, Pfählen und Latten zum Rathhause hinmarschirt lamen, den Saal verschlossen fanden und von Bürgermeister und Rath den Bescheid erhielten, daß man den Saal, da er ganz neu eingerichtet und dekorirt worden sei, zu einem so tumultuarischen Vorhaben nicht hergeben könne. Dies ist nur eine Kleinstädter-Anekdote und ein Sturm im Wasserglase. Aber |37| was merkwürdig ist und den Kern dieses Ereignisses ausmacht, ist die Thatsache, daß jener ganze Kreis der feinsten adligen Damen, Fräulein Egloffstein, die schöne, später von Gentz bewunderte Hofdame und Dichterin Amalie von Imhof, welche bei dieser Gelegenheit ihre fünfzig Goldgulden zu beklagen hatte, und alle übrigen adligen Damen, die bisher Goethe’s Ruhm gefeiert hatten, jetzt in ihrem Zorne von ihm abfielen und aus Goethe’s Lager in das Kotzebue’sche übergingen. Ja, die Gräfin Einsiedel, welche Goethe beständig ausgezeichnet hatte, wurde von jetzt an seine offene Feindin. So wenig tief war die klassische Bildung in diese höchsten, durch Geist und gesellschaftliche Stellung hervorragenden Kreise eingedrungen, so mächtig war noch Der, welcher in seinen literarischen Erzeugnissen in direkter Beziehung zum wirklichen Leben stand und seine Stoffe seinen Umgebungen entnahm.

Gab es denn nicht eine Zeit, wo Goethe und Schiller selbst Naturalisten gewesen waren? Ganz gewiß, sie hatten Beide mit einem rohen, unruhigen, gährenden Wirklichkeitsdrange begonnen. Sie hatten Beide der Natur und dem Gefühl in ihren ersten Produktionen freien Spielraum gelassen, Goethe in »Götz« und »Werther«, Schiller in den »Räubern«. Aber als »Götz« Veranlassung zu Ritter- und Räuberromanen gab, »Werther« zu faktischen und literarischen Selbstmorden, »die Räuber« zu Produktionen wie »Abällino, |38| der große Bandit«, und als das große Publikum nur geringen Unterschied zwischen den Originalen und den Nachahmungen machte, zogen die großen Dichter sich von der Konkurrenz zurück. Ihr Interesse für den Stoff verlor sich über dem Interesse für die Form. Das Studium der Antike führte sie Beide dahin, ausschließlich Gewicht auf die künstlerische Idealität zu legen. Ein Publikum, das sie verstand, geschweige ein Volk, das ihnen Stoffe vorlegen, Ansprüche an sie stellen, so zu sagen Bestellungen bei ihnen machen konnte, fanden sie nicht vor. Dazu war das deutsche Volk noch allzu weit zurück. Als Goethe von Weimar aus versucht, Etwas für Schiller zu thun, begegnet er überall der Auffassung, daß Dieser mit seiner bewegten und leichtsinnigen Mannheimer Jugend, mit seiner Vergangenheit als politischer Flüchtling, und namentlich bei seiner völligen Armuth, ein Schriftsteller von ungünstigen Antecedentien sei. Während des Xenienkampfes 1797 werden die beiden Dichter durchgehends als »zwei Literaten von zweifelhafter Begabung« behandelt. Eine der Hauptbroschüren wider sie ist wider »die zwei Sudelköche in Weimar und Jena« gerichtet. Napoleon’s Anerkennung Goethe’s, der Umstand, daß Jener ihn zu sehen und zu sprechen wünschte, das Wort: »Voi1à un homme!« stärkten erheblich sein Ansehen in Deutschland. Ein preußischer Stabsofficier, der zu jener Zeit bei Goethe in Einquartirung lag, hatte niemals Dessen Namen gehört.

|39| Als die Gesammtausgabe von Goethe’s Schriften unternommen werden soll, klagt der Verleger in seinen Briefen bitterlich über den geringen Absatz. Der illegitime Schwager des Dichters, Vulpius, Verfasser des »Rinaldo Rinaldini«, erfreut sich eines weit besseren. Ja, mit einem europäischen Lieblingsstücke, wie Kotzebue’s »Menschenhaß und Reue«, vermögen »Tasso« und »Iphigenie« so wenig zu wetteifern, daß Goethe selbst erzählt, sie würden in Weimar nur jedes dritte, vierte Jahr einmal gegeben. Sichtbar genug hat der Unverstand des Publikums die großen Dichter vom profanen Wege hinweg auf die Bahn des Ruhmes getrieben, allein umgekehrt ist auch die antikisirende Richtung, welche sie einschlugen, eine steigende Ursache ihrer Unpopularität gewesen. Von Goethe’s Werken hatten eigentlich nur zwei entschiedenen Succeß: »Werther« und »Hermann und Dorothea«, welche letztere idyllische Dichtung die Erbitterung über »Die Wahlverwandtschaften« dämpfte, die man durchgehends als eine Vertheidigung der Immoralität und einen Angriff auf die Ehe betrachtete.

Wie benehmen sich nun die beiden großen Dichter, indem sie ihrer Umgebung den Rücken wenden? Goethe macht seine eigenen Bildungskämpfe zum Gegenstande dichterischer Gestaltung und Behandlung. Aber da er, so lange er sich in die »moderne Individualität vertieft, niemals die Einfachheit und Schönheit der alten Griechen erreichen kann, läutert er das Individuelle, wird Sym|40|boliker und Allegoriker, schreibt »Die natürliche Tochter«, in welcher die Personen nur nach ihrer Standesbeschaffenheit als König, Weltgeistlicher u. s. w. bezeichnet sind, verfaßt die antikisirenden Studien Achilleis, Pandora, Paläophron und Neoterpe, Epimenides und den zweiten Theil des Faust. Er beginnt die griechische Mythologie ungefähr zu behandeln, wie sie in der klassischen französischen Literatur benutzt wurde, nämlich als eine allgemein verständliche Bildersprache. Er behandelt nicht mehr, wie im ersten Theile seines Faust, das Individuum als Typus, sondern stellt Typen auf, die für Individuen gelten sollen. Seine eigene Iphigenie ist ihm jetzt zu modern. Die Neigung zur Allegorie, welche Thorwaldsen’s Kunst vom Leben entfernt, nimmt bei ihm immer mehr überhand. Auf dieselbe Weise behauptet er in seinen kunsthistorischen Schriften beständig, daß es nicht auf die Naturwahrheit, sondern aus die Kunstwahrheit ankomme, und zieht als Kunstrichter idealistische Manierirtheit, wie die, welche sich in seinen eigenen Zeichnungen (in seinem Hause zu Frankfurt) findet, linkischer, aber frischer Natürlichkeit vor. Als Theaterdirektor verfährt er nach denselben Principiem das Feierliche und Würdevolle ist ihm Alles. Er verbündet sich mit dem konventionellen Stil bei Calderon und Alfieri, Racine und Voltaire. Seine Schauspieler sollen, wie die antiken, sich als lebende Statuen präsentiren; dem Publikum die Seite oder den Rücken zuzuwenden, nach dem |41| Hintergrunde zu sprechen, ist ihnen untersagt. Er läßt, der modernen lebendigen Mimik zum Trotz, Schauspiele mit Masken aufführen. Er bewerkstelligt, trotz des widerstrebenden allgemeinen Urtheils, die Aufführung von A. W. Schlegel’s »Jon«, einer unnatürlichen Bearbeitung des euripideischen Dramas, welche für ein Quasi-Original gelten sollte, und welche durch das Beispiel der »Iphigenie« hervorgerufen worden war. Ja, er setzt es durch, daß Friedrich Schlegel’s »Alarkos«, dies klägliche Machwerk, das den Eindruck der Arbeit eines talentlosen Schulknaben macht, in Weimar über die Bühne geht, lediglich damit er Gelegenheit finde, die Schauspieler im Versvortrage zu üben. »Ueber den Alarkos,« schreibt er an Schiller, »bin ich völlig Ihrer Meinung; allein mich dünkt, wir müssen Alles wagen, weil am Gelingen oder Nichtgelingen nach außen hin Nichts liegt. Was wir dabei gewonnen, scheint mir hauptsächlich Das zu sein, daß wir diese äußerst obligaten Silbenmaße sprechen lassen und sprechen hören.«In solchem Grade opfert er allmählich Alles der äußeren Kunstform auf.

Ist es nun aber leicht zu sehen, wie Goethe die Einseitigkeit der Romantiker durch die seinige vorbereitet hat, so scheint es schwieriger, das Gleiche bei Schiller nachzuweisen. Seine Dramen nehmen sich ja wie Weissagungen wirklicher Ereignisse aus. In den »Räubern« gährt schon die Wildheit der französischen Revolution (das Stück verschaffte bekanntlich dem »Monsieur Gille« |42| später den Titel eines Ehrenbürgers der französischen Republik), und, wie Gottschall bemerkt, »im Fiesko spiegelt sich der 18. Brumaire, im Posa die Beredtsamkeit der Gironde, im Wallenstein der cäsarische Soldatengeist, in der »Jungfrau« und im »Tell« der Aufschwung der Befreiungskriege«. In Wirklichkeit aber läßt Schiller doch nur in seinen ersten Dramen sich ohne Nebengedanken und Nebenabsicht von seinem Stoffe inspiriren. Bei allen späteren fühlt jeder Kenner, in welchem Grade die Sujets aus rein formalen Gesichtspunkten ergriffen und gewählt worden sind. Einer unserer ersten jetztlebenden Dichter machte mich einmal in Betreff der »Jungfrau von Orleans« gesprächsweise darauf aufmerksam, er behauptete, daß dies Werk nicht »erlebt«, nicht aus starken, selbsterlebten Eindrücken hervorgegangen, sondern konstruirt worden sei. Und Hettner hat dies Verhältnis für sämmtliche späteren Werke nachgewiesen. Seit dem Jahre 1798 führt Schiller’s Bewunderung der antiken Tragödie ihn dahin, überall Surrogate für den antiken Schicksalsglauben zu suchen. Der Nemesisgedanke beherrscht den »Ring des Polykrates«, den »Taucher«, »Wallenstein«. »Maria Stuart« ist nach dem Vorbilde von Sophokles’ »König Oedipus« geschrieben und der Stoff mit Rücksicht daraus gewählt, ein Sujet zu finden, in welchem das tragische Schicksal wie ein Richterspruch im Voraus feststehend sei, so daß das Stück nur analytisch entwickelt, was von Anbeginn gegeben ist. |43| »Die Jungfrau von Orleans«, welche so romantisch scheint, ist als Stoff gewählt, weil Schiller ein Sujet haben wollte, bei welchem nach antiker Art eine unmittelbare Botschaft des Gottes die menschliche Seele ergriffe, so daß man ein unmittelbar sinnliches Eingreifen der Gottheit empfande, und der Mensch, welcher das Werkzeug der Gottheit würde, in echt griechischer Weise gleichzeitig seiner menschlichen Schwäche erliegen könnte. Lange hatte Schiller, so wenig musikalisch er war, in Uebereinstimmung mit dieser seiner abstrakten Richtung die Oper auf Kosten des Schauspiels gepriesen und die Behauptung ausgestellt, daß der Chor der Alten weit imposanter sei, als der moderne tragische Dialog. In der »Braut von Messina« liefert er dann ein Schicksalsdrama, das von Anfang bis Ende eine sophokleische Studie ist. Ja, nicht einmal in »Wilhelm Tell« ist der Gesichtspunkt modern, im Gegentheil in jeder Beziehung rein hellenisch. Der Stoff ist nicht dramatisch, sondern episch aufgefaßt. Der Einzelne steht nicht mit scharf ausgeprägter Eigenthümlichkeit da. Es ist nur ein Zufall, welcher Teil aus der Masse hervorhebt und ihn an die Spitze der Bewegung stellt. Er ist, wie Goethe sagt, »eine Art Demos«. Es handelt sich daher in dem Stücke nicht um den Kampf großer geschichtlicher Gegensätze, die Rütlimänner haben kein Freiheitspathos, und nicht die Freiheits- oder Staats-Idee ruft den Aufstand hervor. Es sind Privatideen und Privatinteressen, Ein|44|griffe in das Eigenthum und in die Familie, wie in den übrigen Dramen persönlicher Ehrgeiz und dynastische Zwecke, welche die Triebräder der Handlung oder vielmehr der Begebenheit bilden. Es liegt den Bauern ausdrücklich nicht an der Eroberung neuer Freiheiten, sondern, wie es heißt, an der Aufrechterhaltung alter ererbter Sitten. Ich möchte bezüglich dieses Punktes auf einen Schriftsteller verweisen, der überall, wohin er sieht, mit dem Blicke des Genies sieht, auf Lassalle, welcher in der interessanten Vorrede zu seinem Drama »Franz von Sickingen« diese Ansicht näher entwickelt.

So sehen wir also, daß selbst wenn Schiller, der vorwiegend politische und historische unter Deutschlands Dichtern, sich am meisten mit Geschichte und Politik abzugeben scheint, er nichtsdestoweniger verhältnismäßig abstrakt und idealistisch zu Werke geht, und so darf wohl als bewiesen gelten, daß der sogenannte Subjektivismus und Idealismus, die Scheu vor der Geschichte und der äußeren Wirklichkeit das Charaktermerkmal der ganzen Literatur jener Zeit ist.

Ihren philosophisch-wissenschaftlichen Ausdruck empfing diese Geistesrichtung in Fichte’s Wissenschaftslehre. Das absolute Ich verlangt, da es alle Realität enthält, daß das Nicht-Ich, welches es sich gegenüberstellt, in Uebereinstimmung mit ihm selbst stehen solle und nur das unendliche Streben sei, seine Schranken zu überwinden. Dies Resultat der Wissenschaftslehre ist Das, |45| was bei dem jungen Geschlechte zündet. Unter dem absoluten Ich verstand man (wie Fichte selbst im Grunde, aber auf sehr verschiedene Weise) nicht die Idee der Gottheit, sondern das menschliche, das denkende Wesen, und der neue Freiheitsdrang, die Alleinherrschaft und Selbstherrlichkeit des Ich, welches mit der Willkür eines unumschränkten Monarchen die ganze äußere Welt dem eigenen Selbst gegenüber in ein Nichts verschwinden läßt, dieser Freiheitsrausch kommt in einer possirlich willkürlichen, ironischen und phantastischen Schaar junger Genies zum Ausbruch. Die Sturm- und Drangperiode, in welcher die Freiheit, in der man schwelgte, die Ausklärung des achtzehnten Jahrhunderts war, wiederholt sich in feineren und abstrakteren Formen, und die Freiheit, in der man schwelgt, ist die Willkür des neunzehnten Jahrhunderts.

Allen so weit aus einander fallenden Bestrebungen und Produktionen der Romantiker gemeinsam – dem Klosterbruder Wackenroder’s mit seiner schwärmerisch- seelenvollen Begeisterung für die Kunst und die ideale Schönheit, wie der sinnlichen Lucinde mit ihrer Apotheose des Fleisches, den tiefsinnigen Romanen und Märchen Tieck’s, in welchen ein unberechenbares Fatum mit dem Menschen spielt, wie den Dramen Tiecks und den Erzählungen Hoffmanns welche alle festen Formen in die Kapricen und Arabesken der Laune auflösen – ihnen allen gemeinsam ist die willkürliche Selbstbehauthng |46| oder die Behauptung einer Grundwillkürlichkeit, welche ihren Ausgangspunkt in dem Kampfe wider eine einengende Prosa, in dem Nothrufe nach Poesie und Freiheit hat.

Die erste bedeutendere Produktion, welche uns begegnet, ist Tieck’s »William Lovell«. Der erste Theil dieses Romanes, den Tieck in seinem einundzwanzigsten Jahre verfaßt hatte, erschien 1795. Hie und da werden hier schon in Betreff des Kunstgeschmackes die Saiten angeschlagen, auf welchen die romantische Schule nachher spielte.

William Lovell kommt nach Paris (das Tieck damals noch nie gesehen hatte), und wird natürlich von Allem angeekelt, was er erlebt (Bd. 1., S. 49–52): »Die Stadt ist ein wüster, unregelmäßiger Steinhaufen, in ganz Paris hat man das Gefühl eines Gefängnisses.

Man spricht und schwatzt ganze Tage, ohne auch nur ein einzig Mal zu sagen, was man denkt. . . . Ich bin aus Langeweile einige Male ins Theater gegangen. Tragödien voller Epigrammen, ohne Handlung und Empfindung, Tiraden, die mir gerade so vorkommen, wie auf alten Gemälden. Worte den Personen aus dem Munde gehn. . . . Je mehr sich der Schauspieler von der Natur entfernt, je mehr wird er für einen großen Künstler gehalten. Inder großen, weltberühmten Pariser Oper bin ich eingeschlafen.« Das sind die Eindrücke, welche Lovell, der in dem Buche ein Engländer |47| ist, von Paris zur Revolutionszeit empfangen hat, – die ganze herkömmliche deutsche Verachtung französischen Wesens und französischer Kunst, hier doppelt komisch, weil sie aus Büchern erlernt ist. Im Gegensatze hier bricht Lovell im Theâtre francais in die Worte aus: »O Sophokles! und göttlicher Shakspeare!« und sehr bezeichnend sagt er: »Ich hasse die Menschen, die mit ihrer nachgemachten kleinen Sonne [der Vernunft nämlich] in jede trauliche Dämmerung hinein leuchten und die lieblichen Schattenphantome verjagen, die so sicher unter der gewölbten Laube wohnten. In unserm Zeitalter ist eine Art von Tag geworden, aber die romantische Nacht- und Morgenbeleuchtung war schöner, als dieses graue Licht des wolkigen Himmels.«

Nimmt man diese einzelnen Züge aus, so scheint das Buch übrigens auf den ersten Blick Nichts von den Eigenschaften zu haben, die man den romantischen Erzeugnissen beizumessen pflegt; in Wirklichkeit jedoch zeigt kein Werk besser und sicherer, als dieses, worauf die romantischen Tendenzen beruhen. William Lovell hat seinen Grundgedanken und die Briefform einem in hohem Grade unsittlichen französischen Romane des materialistischen Schriftstellers Rétif de la Brétonne entlehnt: »Le paysan perverti«. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß wir hier sofort eine romantische Produktion auf den französischen Materialismus zurückführen können; von diesem stammt in Wirklichkeit der finstere romantische Schicksals|48|glaube ab. Lovell ist ein Buch, dessen Lektüre in unseren Tagen äußerst beschwerlich ist. Die Form ist von ermüdender Breite, alle Charaktere stehen wie im Nebel da. Nebenpersonen wie der alte edle Diener sind triviale Richardson’sche Reminiscenzen, und man findet weder einen drastischen Zug noch eine plastische Situation. Der Vorzug des Buches, welcher eben so deutsch wie seine Fehler ist, besteht in einer hartnäckig durchgeführten psychologischen Betrachtung. Sein Held ist ein Jüngling, der nach und nach langsam und sicher dazu hingeführt wird, alle festen und substantiellen Lebensmächte, alle überlieferten und gutgeheißenen Lebensregeln solchergestalt aufzulösen, daß er in einer reinen Verbrecherexistenz endet, welcher der verhärtetste Egoismus zu Grunde liegt.

Man hat Unrecht, scheint mir, sich darüber zu wundern, daß Tieck in so jugendlichem Alter eine solche Schilderung geben konnte. Beschäftigt sich nicht eben in den frühesten Jugendjahren der Jüngling dessen Blick sich noch gar nicht nach außen zu wenden vermag, beständig mit allem Seltsamen, das sich seinem Blicke zeigt, wenn er in sein eigenes Herz schaut? Muß er sich nicht beständig selbst zerfasern, seine eigenen Zustände erforschen, sich selbst in dem Spiegel sehen, den sein eigenes Bewußtsein ihm vorhält? Es giebt für viele Gemüther kein selbstkritischeres Alter, als die Periode Anfangs der zwanziger Jahre. Man hat noch so viel |49| Zeit im Leben, so viel Zeit, sich Rechenschaft über sich selbst zu geben; man verbringt seine Tage damit, das Instrument kennen zu lernen, auf welchem man das ganze Leben lang spielen soll; man stimmt es, man achtet daraus, wie es gestimmt ist. Die Zeit ist noch fern, wo man sich schlankweg seiner selbst bemächtigt und sich als Instrument benutzt, sei es nun als Violine oder als Brecheisen, oder als was immer es sei. Und bietet die Welt um uns her nun durch die Beschaffenheit der Umstände weder Aufgaben noch Nahrungsstoff, und ist das Individuum genöthigt, von seinem eigenen Blute zu leben, so muß die Reflexionssucht unvermeidlich dahin führen, daß die Individualität zerfasert oder ausgehöhlt wird.

Das dem Dichter, der Richtung, dem Zeitpunkt Eigenthümliche ist hier jene Gefühlsphantasterei, in welche die selbstkritische Reflexion umschlägt. Das Individuum wagt im Ernste, das zufällig bestimmte, unmittelbare Ich, welches Alles ausgelöst hat, was das Herkommen respektirt, zur Norm aller Dinge und zum Urquell aller Regeln zu machen. Die Verzerrung des Fichteschen Totalgedankens und der psychologische Zusammenhang mit demselben läßt sich hier nicht verkennen. Man lese folgende Verse Lovell’s und die nachfolgende Reflexion (Bd. I, S. 178):

»Willkommen, erhabenster Gedanke,
Der hoch zum Gotte mich erhebt!
|50| »Die Wesen sind, weil wir sie dachten
In trüber Ferne liegt die Welt,
Es fällt in ihre dunkeln Schachten
Ein Schimmer, den wir mit uns brachten.
Warum sie nicht in wilde Trümmer fällt?
Wir sind das Schicksal, das sie aufrecht hält!
»Den bangen Ketten froh entronnen,
Geh’ ich nun kühn durchs Leben hin,
Den harten Pflichten abgewonnen,
Von feigen Thoren nur ersonnen.
Die Tugend ist nur, weil ich selber bin,
Ein Wiederschein in meinem innern Sinn.
»Was kümmern mich Gestalten, deren matten
Lichtglanz ich selbst hervorgebracht?
Mag Tugend sich und Laster gatten!
Sie sind nur Dunst und Nebelschatten!
Das Licht aus mir fällt in die finstre Nacht,
Die Tugend ist nur weil ich sie gedacht.

»So beherrscht mein äußerer Sinn die physische, mein innerer Sinn die moralische Welt. Alles unterwirft sich meiner Willkür; jede Erscheinung, jede Hamlung kann ich nennen, wie es mir gefällt; die lebendige und leblose Welt hängt an den Ketten, die mein Geist regiert, mein ganzes Leben ist nur ein Traum, dessen mancherlei Gestalten sich nach meinem Willen formen. Ich selbst bin das einzige Gesetz in der ganzen Natur, diesem Gesetz gehorcht Alles.« Man sieht, wenn Friedrich Schlegel später in seiner Polemik gegen Fichte ausruft: »Fichte ist nicht genug absoluter Idealist, weil er nicht genug Kritiker und Universalist ist; ich und Hardenberg (Novalis) sind doch mehr«, so hat bereits zehn Jahre |51| vorher, und lange bevor von Romantik und romantischer Schule die Rede war, Tieck den Weg erspäht, welchen die neue Schule einschlagen sollte: das Aufgehen der Individualität in persönlicher Willkür und die Erhebung dieser Willkür zur Quelle des Lebens und der Kunst unter dem Namen Phantasie. Lovell schweift auf dieser Bahn über alle abgesteckten Schranken hinaus. Während Kierkegaard’s »Verführer Johannes«, welcher in unserer Literatur diesen Typus vollendet und abschließt, sich beständig innerhalb eines gewissen Schemas von dem Ethischen fern hält, das er als eine langweilige und verdrießliche Macht betrachtet, und das er daher auch niemals direkt angreift, läßt Lovell, als der allseitigere, kühner angelegte, wiewohl schlechter ausgeführte Charakter, sich weder durch Verrath, Todtschlag noch Gistmord abschrecken. Er ist der in der ganzen Periode immerfort variirte Don-Juan-Faust-Typus, mit einer Beimischung von Schiller’s Franz Moor. Die Blasirtheit der Selbstbeobachtung hat hier zu grenzenloser Menschenverachtung und rücksichtsloser Verbannung aller Illusionen geführt, und es ist kein anderer Trost zu gewahren, als daß die Heuchelei enthüllt wird und die häßliche Wahrheit uns vor Augen tritt. In wie tiefem Zusammenhange mit Vielem von Dem, was die Romantiker nachmals vorbrachten, steht ein Ausspruch wie folgender (Bd. 1, S. 212): »Freilich ist Wollust das große Geheimnis unseres Wesens, freilich will auch die reinste, |52| inbrünstigste Liebe sich in diesem Brunnen kühlen. . . Nur Leichtsinn, nur das Erkennen der Täuschung kann uns retten, und darum ist mir Amalie verloren gegangen, seit ich weiß, daß Poesie, Kunst und selbst die Andacht nur verkleidete, verhüllte Wollust ist. . . . Nichts als Sinnlichkeit ist das erste bewegende Rad in unserer Maschine . . . Sinnlichkeit und Wollust sind der Geist der Musik, der Malerei und aller Künste, alle Wünsche der Menschen fliegen um diesen Pol, wie Mücken um das brennende Licht; . . . daher sind Boccaz und Ariost die größten Dichter, und Tizian und der muthwillige Correggio stehen weit über Dominichino und dem frommen Rafael Ich halte selbst die Andacht nur für einen abgeleiteten Kanal des rohen Sinnentriebes, der sich in tausend mannigfaltigen Farben bricht.« Man könnte meinen, daß Lovell, in dessen Reflexionen die Sinnlichkeit eine so grosse Rolle spielt, als eine Natur geschildert wäre, deren Instinkte ihn aus Abwege führten. Ganz im Gegentheill! Er ist kalt wie Eis, kalt wie Kierkegaard’s Schatten eines Verführers, der sogar in diesem Zuge hier antecipirt ist. Er verübt seine Ausschweifungen nicht mit Fleisch und Blut, sondern mit einem phantastisch exaltirten Hirne. Er ist ein reiner Cerebralmensch, ein Norddeutscher vom reinsten Wasser. Und in einem bestimmten Punkte ist er zugleich schon durch Antecipation in unerwartetem Grade romantisch. Da er ganz ausgebrannt, da jeder Funke von Ueberzeugung |53| bei ihm erloschen ist, und all seine Gefühle »todt und hingeschlachtet« um ihn her liegen, flüchtet er sich in den Glauben an das Wundersame und setzt sein Vertrauen auf mystische Mittheilungem zu denen ein alter Betrüger ihm die Aussicht vorgegaukelt hat. Dieser Zug, welcher sich, charakteristisch genug, bei dem französischen Vorbilde nicht findet, war nöthig, um die Figur zu ergänzen.

So ausgehöhlt ist hier die Individualität, so wenig wiegt sie in ihrer eigenen Hand, daß sie sich in jedem Momente gleich wahr und unwahr erscheint; sie ist sich fremd geworden und hat eben so wenig Vertrauen zu sich selbst wie zu irgend einer objektiven Macht. Sie steht außerhalb Dessen, was sie selbst erlebt. Es ist ihr, als spiele sie eine Rolle, wenn sie handelt. Lovell erzählt, wie er ein junges Mädchen, Emilie Burton, verführt habe (Bd. II, S. 110): »Ich warf mich plötzlich zu ihren Füßen nieder und gestand ihr, daß zu meinem Aufenthalt im Schlosse mich allein eine heftige Liebe zu ihr vermocht habe; Dies solle mein letzter Versuch sein, ob es irgend ein menschliches Herz gebe, das sich meiner noch annehme, um mich mit dem Leben und dem Schicksale wieder auszusöhnen. Sie war schön, und wie in einem Schauspiele spielte ich meine Rolle, auf eine wunderbare Weise begeistert, fort; es gelang mir Alles, was ich sagte, ich sprach mit Feuer und doch ohne Affektation.« Und weiterhin heißt es: »Daß sie sich selbst auf einige Zeit ihr häusliches Glück zerstört |54| hat, ist ihre eigene Schuld; daß sie sich nach dem Uebereinkommen jetzt vor manchen Menschen schämen muß, kann mir zu keinem Vorwurfe gereichen. Ich übte eine Rolle an ihr und sie kam mir mit einer andern entgegen; wir spielten mit vielem Ernste die Komposition eines schlechten Dichters, und jetzt thut es uns wieder leid, daß wir die Zeit so verdorben haben.« Also ein Spiel, eine Rolle war das Ganze. Man sieht hier schon in einer schriftstellerischen Figur entfaltet, was später in Charakteren wie Friedrich Schlegel und Gentz zu einer Wirklichkeit des Lebens ward, und man findet hier psychologisch charakterisirt, was künstlerisch bestimmt zur vielberufenen Ironie der Romantiker wurde. Hier im Charakter der nackte Egoismus, welcher das Leben wie eine Rolle nimmt, in der Kunst Mißverständnis und Uebertreibung des Schiller’schen Grundgedankens, daß die ästhetische Thätigkeit »ein Spiel« sei, d. h. ein Thun ohne äußeren Zweck, so daß die wahre Kunstform diejenige wird, welche jeden Augenblick die Form zerbricht, die Illusion unmöglich macht und mit der Selbstparodie endet, wie es in Tieck’s Lustspielen geschieht. Es besteht hier der allergenaueste Zusammenhangzwischen der Art, wie der Held handelt, und der Art, wie die Komödie geschrieben wird. Die Ironie ist eine und dieselbe. Alles läßt sich auf die gleiche Selbstsucht und Unwirklichkeit zurückführen.

Um den Seelenzustand, welcher im »Lovell« ge|55|schildert wird, recht zu verstehen, genügt es nicht, daß wir seine künftigen Konsequenzen erblicken, wir müssen hier, wie früher bei René, sehen, worin dies psychologische Moment begründet, und wodurch es bedingt ist. Bedingt ist es durch die ganze Eigenwilligkeit, in welcher die Zeit gährt. Daher begegnen sich die verschiedenen Dichtergeister in der Ausbildung des Typus. Als ein Titane der Blasirtheit ist Lovell heimisch in einem Geschlecht von Titanen.

Jean Paul, welcher zehn Jahre älter als Tieck, vier Jahre jünger als Schiller ist, begann zwei Jahre ehe »Lovell« ersonnen ward, eine Schilderung dieser Race in seiner »Faustiade«, dem Romane »Titan«. Jean Paul ist in mancher Hinsicht der Vorläufer der Romantik; innerhalb der romantischen Schule wird er von Hoffmann nachgeahmt, wie Goethe von Tieck. Er ist Romantiker vor Allem durch die maßlose Willkür, mit welcher er als Künstler zu Werke geht. Er hat, wie Auerbach von ihm sagt, »Studienköpfe, Stimmungen, Charakterzüge, psychologische Verschlingungen, Bilder im Allgemeinen empfunden und bereit gehalten, die er nun beiläufig anfügt oder auf gegebene Charaktere und Situationen überträgt«, er schiebt alle erdenklichen, noch so ungehörigen Einfälle in den elastischen Rahmen seiner Erzählungen ein. Sodann ist er Romantiker durch seine maßlose Eigenwilligkeit; denn man hört ihn und abermals ihn aus all’ seinen Personen, wie sie auch heißen |56| mögen, heraus; ferner durch seinen Alles beherrschenden und keine feste Kunstform achtenden Humor; endlich durch seine ganze Stellung als Antipode der antiken Bildung. Aber was er auch in der Kunst sein mochte, so war er im Leben nicht der Mann der schlechten Wirklichkeit, sondern der Freiheit, ihr leidenschaftlicher Vorkämpfer, Fichte’s Ebenbild an begeistertem Pathos; er bekämpft weder die Aufklärung, noch die Vernunft, noch die Reformation, noch die Revolution, er ist überzeugt von dem geschichtlichen Werthe und der vollen Gültigkeit der Ideen, welche erzeugt und verfechten zu haben der Ruhm des achtzehnten Jahrhunderts ist. Deshalb wendet er sich warnend gegen die hohle und demoralisirende Phantastik der Romantiker.

Im »Titan« findet man die am kräftigsten ausgeprägte von Jean Paul’s Idealgestalten, Roquairol. Idealgestalten, sage ich, weil er als vorzüglicher realistischer Idyllendichter eine ganz andere Art von Charakteren erschuf. Roquairol ist ein Prototyp für die Form, in welche die Zeit ihre Leidenschaft und ihre Verzweiflung gießt. Er ist das rasende und tief reflektirte Verlangen, das in Phantasterei umschlägt, weil es eine Kraft ist, für welche die Verhältnisse keine Verwendung haben, und welche nicht die Fähigkeiten in sich trägt, mit denen man die Wirklichkeit sich aneignet oder sie durchbricht und beherrscht. So wird das Verlangen eine Krankheit, die nach innen schlägt und zu Selbstbespiegelung |57| und Selbstmord führt. Man höre Roquairol sich selbst in einem Briefe schildern (III. Band, 88. Zykel): »Jetzt sieh mich an, ich ziehe meine Maske ab, ich habe konvulsivische Bewegungen aus dem Gesicht, wie Leute, die genossenen Gift überstanden! Ich habe mich in Gift betrunken, ich habe die Giftkugel, die Erdkugel verschluckt .. . Ausgehöhlt, verkohlt vom phantastischen Feuer ist mein Baum. Wenn so zuweilen die Eingeweidewürmer des Ichs, Erbosung, Entzückung, Liebe und dergleichen wieder herumkriechen und nagen, und einer den andern frisset, so seh’ ich vom Ich herunter ihnen zu; wie Polypen zerschneide und verkehr’ ich sie, stecke sie in einander. Dann seh’ ich wieder dem Zusehen zu, und da Das ins Unendliche geht, was hat man denn von Allem? Wenn Andere einen Glaubens-Idealismus haben, so hab’ ich einen Herzens-Idealismus, und Jeder, der alle Empfindungen oft auf dem Theater, dem Papier und dem Erdboden durchgemacht, ist so. Wozu dient’s? – Oft seh’ ich die Berge und Flüsse und den Boden um mich an, und mir ist, als könnten sie jeden Augenblick aus einander flattern und verrauchen, und ich mit. . . . Es giebt einen kalten, kecken Geist im Menschen, den Nichts etwas angeht, nicht einmal die Tugend; denn er wählt sie erst und er ist ihr Schöpfer, nicht ihr Geschöpf. Ich erlebte einmal auf dem Meere einen Sturm, wo das ganze Wasser sich wüthend und zackig und schäumend aufriß und durch einander warf, indeß |58| oben die stille Sonne zusah; – so werde! Das Herz ist der Sturm, der Himmel das Ich. – Glaubst Du, daß die Romanen- und Tragödienschreiber, nämlich die Genies darunter, die Alles, Gottheit und Menschheit, tausendmal durch- und nachgeäfft haben, anders sind als ich? Was sie und die Weltleute noch reell erhält, ist der Hunger nach Gold und nach Lob. . . . Die Affen sind Genies unter dem Vieh; und die Genies sind Affen im ästhetischen Nachmachen, in der Herzlosigkeit, Bosheit Schadenfreude, Wollust und – Lustigkeit.« Er erzählt, wie er, ohne selbst Etwas anders als einen aus Langeweile entspringenden Trieb zu empfinden, die Schwester seines Freundes berückt hat: »Ich verlor Nichts – in mir ist keine Unschuld – ich gewann Nichts – ich hasse die Sinnenlust; – der schwarze Schatte, den Einige Neue nennen, fuhr breit hinter den weggelaufenen bunten Lustbildern der Zauberlaterne nach; aber ist das Schwarze weniger optisch, als das Bunte?«

Wer nur dies kurze Citat aus Jean Paul’s dickem, vierbändigem Romane achtsam liest, wird erkennen, wie hier wieder eine Verbindungslinie zwischen dem Leben und der Kunst gezogen ist. Unwillkürlich, aber höchst bedeutungsvoll, gebraucht Roquairol die Natur des producirenden Künstlers als Symbol der seinigen, und die Ausdrücke »ausgehöhlt von phantastischem Feuer« und »Herzens-Idealismus« (Dasse1be, was ich Subjektivismus genannt habe) sind so scharf bezeichnend, als |59| wären sie geradezu kategorisch gewählt. Ja, so sehr war der Dichter sich Dessen bewußt, was er schildern wollte, daß er, nachdem Roquairol sein letztes und abscheulichstes Verbrechen verübt, nachdem er, sich für Albano, den Helden, ausgehend, Dessen Geliebte Linda im Dunkel der Nacht besucht hat, ihn aus der Bühne sterben, ihn sich selbst während der Ausführung einer Rolle, die mit einem Selbstmorde endet, erschießen läßt, noch bis zum letzten Augenblicke in der Welt des Scheines und Spieles lebend, Wirklichkeit und Phantasie verwechselnd oder vermischend. Ward es nicht die Losung des nachfolgenden Geschlechtes, die Wirklichkeit phantastisch oder poetisch zu gestalten? Es war die Aufgabe, welche es sich stellte, und welche es in seiner ganzen Produktion zu lösen suchte; das Streben nach dieser Lösung erklärt und entschuldigt seine Verirrungen, wo es eine Umgestaltung der Wirklichkeit skizzirt, wie z. B. in Schlegel’s »Lucinde«.

Das große Problem von dem Verhältnisse zwischen der Poesie und dem Leben, die Verzweiflung über ihre tiefe, bittere Disharmonie, das rastlose Suchen nach einer Versöhnung ist der geheime Hintergrund der ganzen deutschen Literaturgruppe von der Zeit der Sturm- und Drang-Periode bis zum Ende der Romantik. Um sowohl die »Lucinde« wie den »Lovell« zu verstehen, muß man daher zurückgreifen. Beide versteht man besser durch Jean Paul’s »Titan«, Lovell durch den Titaniden Roquairol, Lucinde durch die Titanide Linda.

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