Die romantische Schule in Deutschland (1873)

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Ich habe das romantische Gemüth als die dumpfe Innerlichkeit ohne Streben und ohne Tendenz geschildert, als den glühenden Ofen, in welchem die Freiheit erstickt und jede Richtung nach außen ertödtet ward. Dies ist jedoch nicht die volle Wahrheit. Eine einzige Tendenz nach außen ist zurück geblieben, die, welche man Sehnsucht nennt. Die Sehnsucht ist die Form des romantischen Strebens, die Mutter all’ seiner Poesie. Was ist Sehnsucht? Sie ist Entbehrung und Verlangen zugleich, an und für sich ohne Willen oder Entschluß, das Entbehrte zu erlangen, und ohne Wahl der Mittel, es in seine Gewalt zu bekommen. Und worauf ist diese Sehnsucht gerichtet? Ja, worauf anders, als auf Das, woraus alles Sehnen und Verlangen in der Welt gerichtet ist, mit wie hochklingenden oder wie heuchlerischen Worten es sich auch drapire? Auf Genuß und Glück. Der Romantiker braucht freilich nicht den Ausdruck Glück, aber es ist dies, was er meint. Er nennt es nicht Glück, er nennt es das Ideal. Man lasse sich jedoch nicht durch das Wort verblüffen. Das dem Romantiker Eigenthümliche ist nun nicht sein Suchen nach diesem Glücke, sondern sein Glaube daß dies Glück vor|266|handen sei. Er weiß, es muß ihm vorbehalten, es muß irgendwo zu finden sein, es wird unerwartet über ihn kommen. Und da es eine Gabe des Himmels und er selbst nicht der Schöpfer desselben ist, kann er sein Leben so planlos führen, wie er will, nur von seiner unbestimmten Sehnsucht gelenkt. Es gilt einzig den Glauben festzuhalten, daß diese Sehnsucht ihren Gegenstand finden wird. Und es ist so leicht, diesen Glauben festzuhalten. Denn Alles um ihn her enthält Ankündigungen und Ahnungen desselben. Novalis war es, der ihm den berühmten und geheimnisvollen Namen »Die blaue Blume« gab. Aber der Ausdruck ist natürlich nicht buchstäblich zu verstehen. Die blaue Blume ist ein geheimnisvolles Symbol, ungefähr wie IX0YZ, der Fisch, für die ersten Christen. Es ist eine Abbreviatur, ein verkürzter, zusammengedrängter Ausdruck, in welchem all das Unendliche einbegriffen ist, wonach ein schmachtendes Menschenherz sich sehnen kann. Die blaue Blume ist das Symbol der vollkommenen Befriedigung, des die ganze Seele ausfüllenden Glückes. Daher schimmert sie uns entgegen, lange bevor wir sie finden. Daher träumt man von ihr, lange bevor man sie erblickt. Daher ahnt man sie bald hier, bald dort, und es zeigt sich, daß es eine Täuschung war; sie grüßt uns einen Augenblick unter anderen Blumen und entschwindet; aber der Mensch empfindet ihren Dust, bald schwächer, bald stärker, so daß er von demselben berauscht |267| wird. Ob er dann auch wie der Schmetterling von Blume zu Blume flattert und bald bei dem Veilchen, bald bei der tropischen Pflanze verweilt, sucht und trachtet er doch stets nach dem Einen, dem vollkommenen, idealen Glücke.

Um diese Sehnsucht und ihren Gegenstand dreht sich das Hauptwerk von Novalis. Dies Werk müssen wir studiren, und, um es zu verstehen, müssen wir zusehen, wie es entsteht. Die erste Voraussetzung für diesen Roman ist der Hauptroman der modernen Zeit, »Wilhelm Meister«, und man kann deutlich den geistigen Proceß verfolgen, durch welchen »Wilhelm Meister« langsam in »Heinrich von Ofterdingen« umgeschmolzen wird. Wilhelm Meister handelt nicht, er bildet sich. Er strebt nicht, er sehnt sich. Er jagt Idealen nach, und sucht sie erst im Bühnenleben, dann in der Wirklichkeit. Auch Wilhelm Meister ist eine Frucht des Gemüthes. Es ist das Gemüth, welches alle hier auftretenden Personen umspannt. Nicht allein, daß diese Personen selbst seelenvoll sind, wie in so manchem modernen englischen Romane, z. B. von Dickens; sondern es liegt gleichsam Seele in der eigenthümlich dämpfenden und das Licht mildernden Atmosphäre um die Gestalten, kein Zug tritt realistisch schroff oder scharf hervor, die Kinder des Gemüthes haben weiche Kontouren. Heiberg hat einmal die Goethe’sche Weltanschauung, welcher er sich selbst anschließt, in dem Satze zusammen gefaßt: »Goethe ist |268| weder unmoralisch noch irreligiös, wie man sagt, sondern er zeigt, daß es keine absoluten Pflichtregeln giebt, und daß wir unsere Religion unserer Poesie und Philosophie einordnen müssen.« Das Eigenthümliche im Wilhelm Meister ist also, daß die steife schul- oder lehrbuchsmäßige Sittlichkeit, die spießbürgerlichen Moral- und Rechtschaffenheitsregeln hier solchermaßen umgebildet sind, daß das Moralische nicht mehr für die absolute Lebensmacht ausgegeben, sondern als ein bedeutungsvolles Princip im Leben, als eine von mehreren berechtigten und beherrschten Mächten angesehen wird, ungefähr wie dem Naturforscher das Hirn, so wichtig es auch ist, nicht als Eins und Alles gilt, sondern seine Rolle im Verein mit dem Herzen, der Leber und den übrigen Organen spielt. So wird z. B. im Wilhelm Meister die Sinnlichkeit nicht als thierisch gescholten, sondern ohne Pedanterie als schön und verlockend in Philinen dargestellt, welche stets mit Ausdrücken wie »die angenehme Sünderin«, »die zierliche Sünderin« bezeichnet wird. Die harmonische Bildung wird von Wilhelm durch manche zweideutige Verhältnisse errungen; der edle und sichere Weltton, das angeboren Aristokratische einer schönen Natur wird in den Frauengestalten verherrlicht; die Ueberlegenheit und Freiheit in Wesen und Sinn, welche glückliche, stark bevorzugte Verhältnisse verleihen, werden in der Schilderung der adlig Geborenen mit warmer Sympathie hervorgehoben. Daß das Edle und das Adlige in dieser |269| Schilderung manchmal auf Eins hinaus zu laufen scheint, kann uns heutigen Tages wohl verletzen, hatte aber damals ja seinen Grund in den jämmerlich unfreien Gesellschaftsverhältnissen des zeitgenössischen Deutschlands. Da das Buch nicht ein Kind der Wirklichkeit, sondern des Gemüthes ist, liegt in seinem ganzen äußern Gepräge etwas Abstraktes. Viel ist verschleiert, Vieles verfeinert, Alles ist so idealisirt, daß die äußere Welt im Schatten der inneren steht. Zum ersten kommen nur Privatereignisse und Privatpersonen vor. Wir hören wohl von Krieg reden und können mit einiger Wahrscheinlichkeit schließen, daß die Revolutionskriege gemeint sein müssen; aber Bestimmtes wird nicht darüber gesagt. Der Schauplatz wird ebenfalls ganz allgemein angedeutet, man kann auf Mitteldeutschland rathen, aber das Lokal bleibt in der Schwebe, und die Landschaft macht sich nie mit einem deutlichen Charakter geltend, sondern klingt nur als schwaches Accompagnement zur Stimmung mit. In der hier geschilderten Welt, wo die Kunst – so naturwidrig ging es damals in Deutschland zu – eine Vorschule für das Leben ist, nicht umgekehrt, sind das Welt- und Staatsleben nicht Mehr, als »etwas Theatergeräusch hinter den Koulissen«.*)*

*) B. Auerbach, Deutsche Abende. Neue Folge, S. 30.
Keine der Personen hat ein äußeres praktisches Ziel, sie werden von dem Strom ihrer Sehnsuchten und Launen fort|270|gerissen, sie schweifen frei umher, ohne sich um die Schranken der Verhältnisse oder die Grenzen der Länder zu kümmern, »lauter paßlose Existenzen«. Bedeutungsvoll zeugt von dem Mittelpunktsuchen im Gemüthe ein Zug wie der, dass Goethe jede psychologische Aeußerlichkeit vermeidet. Eine solche Aeußerlichkeit ist das Verbrechen, als kriminalistisch aufgefaßt: selbst wo Goethe das Unheimliche, wie z. B. Liebe zwischen Geschwistern, das Schicksal des Harfenspielers, berührt, will er nur, daß es ergreifen, nicht daß man darüber richten soll; er stellt es nicht vor den moralischen, viel weniger vor den juridischen Richterstuhl. Ja, das Allerschmerzlichste sogar verliert seinen Stachel durch die Form der Mittheilung. Der Mund des Harfenspielers ist verschlossen, seine Geschichte kommt nie über seine Lippen; erst nach seinem Tode wird sein Schicksal von einem ruhigen Fremden erzählt.

In dieser so stark idealisirten Welt, welche von der Hand des Dichters einen Schönheitsstempel empfangen hat, schweift nun Wilhelm umher, ohne Plan, aber nicht ohne Ziel, er sucht nach dem Ideale: dem Ideal einer Lebensstellung dem Ideal eines Weibes, dem Ideal der Bildung. Er ist zuerst Kaufmann, dann Schauspieler, dann Arzt. Er liebt Mariannen, dann die Gräfin, dann Theresen, dann Natalien. Er setzt die Bildung zuerst in Erfahrung, dann in geistige Feinheit, dann in Resignation, und er endigt im zweiten Theile mit socialen |271| Reformplänen und Reformversuchen, die ihrer Zeit die »Wanderjahre« zu einem der Werke machten, welche die socialistischen Revolutionäre am eifrigsten für ihre Richtung ausbeuteten. Aber das Eigenthümliche an dem Buche ist, daß Wilhelm beständig sein Ideal umbildet. Er findet es nicht, er verliert es, so zu sagen; nicht als würde er selbst Spießbürger, aber das Wort verliert für ihn seinen Sinn. Es ergeht ihm dem Leben gegenüber, wie es oft dem jungen Manne der Philosophie gegenüber ergeht. Er wirft sich auf dieselbe, um in ihr Aufklärung über Gott, über die Ewigkeit, über den Zweck des Lebens und die Unsterblichkeit der Seele zu finden, aber während des Studiums verlieren diese Worte den Sinn für ihn, in welchem er sie früher nahm, er erhält eine Antwort auf seine Fragen, aber eine Antwort, welche ihn lehrt, daß diese Fragen anders gestellt werden müssen. So ergeht es Wilhelm in der Wirklichkeit mit seiner Sehnsucht nach einem vorgefaßten Ideale. Andere haben die Wolke als Juno umarmt, er läßt die Wolke fahren und drückt Juno an sein Herz.

Nächst den »Herzensergießungen des Klosterbrüders« war es Goethe’s Meister, welcher den »Sternbald« hervor rief. Derselbe ist durchgehends ein Nachklang dieses gewaltigen Werkes. Gleich als Meister erschien, faßte Tieck den Plan zu der erst einundvierzig Jahr später veröffentlichten, höchst interessanten Novelle »Der junge Tischlermeister«, in welcher der Held, ein in ästhetischer |272| Hinsicht fast allzu fein gebildeter Tischler, einen dem Meisterschen durchaus verwandten Entwicklungsgang im Verhältnis zu adligen Kreisen, zu Schauspielkunst und Theater und mit Theaterliebschaften durchmacht. Er führt als echter Romantiker Shakspeare’sche Lustspiele auf einem nach Shakspeare’schem Muster eingerichteten Salontheater auf, und ist Liebhaber sowohl hinter den Koulissen, wie auf der Bühne. Vorläufig ward jedoch dieser Plan um Sternbald’s willen zurück gelegt. Der moderne Handwerker mußte dem Künstler aus Dürer’s romantischer Zeit weichen. In diesem Buche ist das Gemüth aus den Thron gesetzt, aber als reines Gemüth von Vernunft und Klarheit geschieden. Deshalb ist das ganze Buch lauter Sehnen und Schmachten. So heißt es hier z. B. von der Reformation, sie habe statt einer göttlichen Religionsfülle nur eine vernünftige Leere erzeugt, in welcher alle Herzen verschmachten. Und so wird die milde Sinnlichkeit in Goethe’s Romane hier zu einem brutalen William Lovell’schen Verlangen. Wenn der Held in sich selbst hinein blickt, sieht er, wie Lovell, »einen unergründlichen Wirbel, ein verbrausendes, lärmendes Räthsel«, und in der zweiten Ausgabe fühlte Tieck sich veranlaßt, einen Theil der allzu häufigen lüsternen Bade- und Zechscenen wegzulassen, zwischen denen der Held sich in seinem unruhigen Trachten umher treibt.

Die Hauptsache jedoch ist, daß hier auf eine ganz |273| andere Weise, als bei Goethe, die Wirklichkeit verfeinert und destillirt wird. Sie wird verdünnt, bis sie in Stimmungsduft ausgeht, bis der Charakter in der Landschaft und die Handlung in Waldhornmusik ersäuft. In »Sternbald« ist’s alle Tage Sonntag, und es waltet hier eine beständige Andachtstimmung mit Müßiggang und Glockenklang. Die Lebensanschauung des Buches liegt in den Worten Sternbald’s: »Wir vermögen in dieser Welt nur zu wollen (d. h. zu wünschen, uns zu sehnen), nur in Vorsätzen zu leben, das eigentliche Handeln liegt jenseits.« Deshalb wird hier niemals gehandelt, die austretenden Personen fahren unplastisch wie Kometen umher, ihr Leben besteht aus der Reihe ihrer zufällig und unabsichtlich erlebten Abenteuer; sie sind immer auf der Reise nach dem Ideale, und da dies ja stets als in der Nähe von Rom heimisch gedacht wird, so endigt das Buch dort« übrigens ohne Schluß, und es wurde auch niemals fortgesetzt. In demselben Maße nun, wie Sternbald träumerischer und zusammenhangsloser als Meister ist, in demselben Grade stellt Novalis Jenen über Diesen. Denn, sagt er, der Kern meiner Philosophie ist, daß die Poesie das absolut Reelle, und daß Alles um so wahrer ist, je poetischer es ist. Der Dichter soll also nicht idealisiren, sondern zaubern. Die wahre Poesie ist die Poesie des Märchens. Ein Märchen ist wie ein Traumbild ohne Zusammenhang, und die Stärke des Märchens besteht darin, der Welt der Wahrheit durchaus entgegen|274|gesetzt und ihr dennoch durchaus ähnlich zu sein. Die künftige Welt, sagt er, ist das vernünftige Chaos, das Chaos, das sich selbst durchdrang. Das echte Märchen muß daher zugleich prophetische Darstellung, idealische Darstellung, absolut nothwendige Darstellung sein. Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft. Der Roman ist daher gleichsam die freie Geschichte, gleichsam die Mythologie der Geschichte. Da die Liebe diejenige Form der Sittlichkeit ist, welche die Möglichkeit der Magie bedingt, ist sie die Seele des Romans, der Urgrund in allen Romanen. Denn wo wahre Liebe ist, da spinnen sich Märchen, magische Begebenheiten an.

Aus dieser Novalis’schen Anschauung vom wahren Wesen der Poesie und des Romans lassen sich leicht seine harten Urtheile über »Wilhelm Meister« verstehen, den er in seiner frühesten Jugend aufs höchste bewundert hatte. In »Wilhelm Meister« muß ja eben die Poesie, wie im »Tasso«, sich vor der Wirklichkeit beugen. Für Novalis ist Dies das Schändlichste von Allem, eine Sünde wider den heiligen Geist der Poesie. Nicht vernichtet oder begrenzt werden soll die Poesie im Romane, sondern verherrlicht, erklärt werden.

Er beschließt deshalb, einen Roman zu schreiben, welcher das direkte Gegenstück zu Meister werden soll. Ja, er bestimmt mit kleinlicher Umsicht, daß sogar durch vollkommen gleichen Druck und gleiches Format »Heinrich von Ofterdingen« sich als Seitenstück zum |275| Goethe’schen Buche darstellen solle. Es ist ja dies, welches vernichtet werden, es ist dessen weltliche Lebensanschauung, welche durch die mystisch-magische Ofterdingen’s besiegt werden soll. Er schreibt an Tieck: »Mein Roman ist in vollem Gange. . . . Das ganze soll eine Apotheose der Poesie sein. Heinrich von Ofterdingen wird im ersten Theile zum Dichter reif, und im zweiten als Dichter verklärt. Er wird mancherlei Aehnlichkeiten mit dem Sternbald haben, nur nicht die Leichtigkeit; doch ist dieser Mangel vielleicht dem Inhalt nicht ungünstig.« Ueber Goethe und Wilhelm Meister urtheilt er, wie folgt: »Goethe ist ganz praktischer Dichter. Er ist in seinen Werken, was der Engländer in seinen Waaren ist: höchst einfach, nett, bequem und dauerhaft. . . . Er hat, wie die Engländer, einen natürlich ökonomischen, und einen durch Verstand erworbenen edeln Geschmack. . . . Wilhelm Meisters Lehrjahre sind gewissermaßen durchaus prosaisch und modern. Das Romantische geht darin zu Grunde, auch die Naturpoesie, das Wunderbare. Das Buch handelt bloß von gewöhnlichen menschlichen Dingen, die Natur und der Mysticismus sind ganz vergessen. Es ist eine poetisirte bürgerliche und häusliche Geschichte, das Wunderbare darin wird ausdrücklich als Poesie und Schwärmerei behandelt. Künstlerischer Atheismus ist der Geist des Buches. . . . Wilhelm Meister ist eigentlich ein Candide, gegen die Poesie gerichtet.«

|276| Im Gegensätze hier will also Novalis einen Roman liefern, in welchem Alles zuletzt sich in Poesie auflöst, oder, was in seiner Sprache Dasselbe ist, in welchem die Welt am Schlusse Gemüth wird. Denn Alles ist Gemüth. »Die Natur ist für unser Gemüth,« heißt es in dem Buche, »was ein Körper für das Licht ist. Er hält es zurück, er bricht es in eigenthümliche Farben ect. ect. Die Menschen sind Krystalle für unser Gemüth.«

Das in den Roman eingefügte Märchen enthält den Schlüssel zum Ganzen. Das Märchen soll zeigen, wie die wahre, ewige Welt entsteht, soll die Zurückgewinnung jenes Reiches der Liebe und der Poesie schildern, in welchem das große Weltgemüth »überall sich bewegt und endlos blüht.« Da, wie es in einem von Novalis’ Fragmenten heißt, der jetzige Himmel und die jetzige Erde von prosaischer Natur sind, und unsere Zeit eine Periode des Nutzens ist, so muß ein poetischer Tag des Gerichtes voraus gehn, eine Verzauberung gelöst werden, bevor das neue Leben erblühen kann: König Arktur und seine Tochter schlummern eingefroren in ihrem Eispalaste, wie der Geist schlummert, wenn er in den strengen Formen des Rechts gebunden liegt. Die Befreiung kommt von der Fabel, d. h. der Poesie, und ihrem Bruder Eros. Eros ist das Kind des geschäftigen, unruhigen Vaters, des »Sinnes«, des Verstandes. Seine Mutter ist das treue, warme, schmerzlich |277| bewegte Herz. Aber die Milchschwester des Eros ist die Frucht einer Untreue von Seiten des Vaters. Die üppige Ginnistan, die Phantasie, die Tochter des Mondes, hat sie geboren. Neben diesen Gestalten steht als die Wächterin des Hausaltares Sophie, die himmlische Weisheit. Fabel nennt sich das Pathenkind Sophiens. Aber feindliche Mächte gewinnen die Oberhand im Hause. Während die Liebe und Phantasie mit einander auf Reisen gehn, verwickelt »der Schreiber« das Gesinde in eine Verschwörung. Der Schreiber ist der Geist der Prosa, die beschränkte, verstandesstolze Aufklärung; er wird als immerfort schreibend geschildert. Wenn Sophie das Geschriebene in eine Schale taucht, die aus dem Altare steht, bleibt manchmal Etwas davon stehen, manchmal wird Alles ausgelöscht. Treffen ihn einige Tropfen aus der Schale, so fallen eine Menge Zahlen und geometrische Figuren nieder, die er mit vieler Emsigteit aus einen Faden zieht und sich zum Zierat um den mageren Hals hängt. Der Schreiber ist Novalis’ Rureddin. Auf sein Anstiften werden der Vater und die Mutter in Bande gelegt, der Altar wird zerschlagen. Zum Glück ist die kleine Fabel entkommen. Sie gelangt zuerst in das Reich des Bösen, wo die todbringenden Parzen hausen, aber sie vermögen ihr Nichts anzuhaben. Sie tödtet das Böse, indem sie es den Taranteln, d. h. den Leidenschaften, preisgiebt. Jetzt sind Zeit und Sterblichkeit aufgehoben. »Der Flachs ist versponnen. |278| Das Leblose ist wieder entseelt, das Lebendige wird regieren.« In einem allgemeinen Weltbrande erleidet die Mutter, das Herz, den Flammentod; auf dem Scheiterhaufen geht der glänzende Stern der früheren Welt, die Sonne, zu Grunde, die Flamme zieht gen Norden und schmilzt das Eis um Arktur’s Palast. Eros und Fabel ziehen durch eine verwandelte und blühende Welt in denselben ein. Fabel hat ihre Sendung erfüllt; denn sie führt Eros zu seiner Geliebten, der Tochter des Königs. Das strenge Recht hat sein Reich an die Poesie und die Liebe abgetreten.

Gegründet ist das Reich der Ewigkeit;
In Lieb’ und Frieden endigt sich der Streit;
Vorüber ging der lange Traum der Schmerzen:
Sophie ist ewig Priesterin der Herzen.

Sophie spielt in dieser Dichtung dieselbe Rolle, welche Beatrice in Dante’s Dichtung spielt.

Wie nun das Weltschicksal hier als ein Märchen dargestellt ist, so sollte im Roman das Menschenschicksal als ein romanhaftes, zuletzt in das Märchen übergehendes Ereignis dargestellt werden. So dunkel, so allegorisch dieser Roman ist, beruht doch Das, was Werth in demselben hat, darauf, daß er so vollständig wie jedes andere lebendige Dichterwerk erlebt ist. Die Verherrlichung des alten Meistersängers sollte auf eine Vergötterung der Poesie hinauslaufen; aber der Held dieser Apotheose ist Hardenberg selbst. Heinrich, welcher zum Dichter geboren wird, lebt ein stilles Leben im Hause seiner Eltern |279| zu Eisenach, wie Hardenberg in seinem väterlichen Hause. Ein Traum, der noch wunderbarer erscheint, weil der Vater einmal als Jüngling einen ähnlichen geträumt hat, läßt ihn das heimliche Glück seines Dichterlebens vorausahnen, und zeigt ihm in Gestalt einer seltsamen blauen Blume das Ziel seiner Liebe. Jetzt tritt er hinaus in die Welt. Mit der Mutter und in Gesellschaft reisender Kaufleute zieht er zu seinem Großvater mütterlicher Seite in Augsburg. Vielerlei bunte Lebensbilder begegnen ihm unterweges; sie sind bestimmt, im Verein mit den Erzählungen seiner Begleiter, seinen Gesichtskreis zu erweitern und die Poesie zu entwickeln, welche in seiner Seele schlummert. Denn all ihre Gespräche drehen sich um Poesie und Dichter, sie erzählen ihm die Arionssage und Volksmärchen, in welchen der Dichter auf gleichen Rang mit dem Könige gestellt wird, und philosophiren überhaupt über die Poesie und die Kunst, nicht wie Kaufleute aus der barbarischsten Zeit des Mittelalters, sondern wie Romantiker von 1801. Einer von ihnen giebt z. B. folgende Erklärung vom Triebe des Menschen zur bildenden Kunst: »Die Natur will selbst auch einen Genuß von ihrer großen Künstlichkeit haben, und darum hat sie sich in Menschen verwandelt, wo sie nun selber sich über ihre Herrlichkeit freut, das Angenehme und Liebliche von den Dingen absondert, und es auf solche Art allein vorbringt, daß sie es auf mannigfaltigere Weise und |280| zu allen Zeiten und aller Orten haben und genießen kann.«

Auf einer Ritterburg trifft Heinrich ein morgenländisches Mädchen, das ihn an den kriegerischen Gegensatz zwischen Westen und Osten erinnert, wie derselbe im Mittelalter die Zeit bewegte. Es ist interessant, das innige Lied dieses Mädchens mit Victor Hugo’s brillantem Gedichte »La captive« in »Les Orientales« zu vergleichen. Der Gegenstand ist verwandt. Hugo’s

Bien loin de ces sodomes
Au pays, dont nous sommes,
Avec les jeunes hommes
On peut parler le soir.

widerruft die gefühlvollen Worte des deutschen Liedes:

Dem Geliebten darf man trauen,
Ew’ge Lieb und Treu’ den Frauen
Ist der Männer Losung hier.

Die Poesie der Natur und Geschichte tritt Heinrich in den Gestalten eines Bergmanns und eines Einsiedlers entgegen. Im Buche des Einsiedlers findet er sein eigenes Lebensschicksal aufgezeichnet. Endlich kommen die Reisenden nach Augsburg, und Heinrich’s Bestimmung scheint sich rasch erfüllen zu sollen. In Klingsohr steht der entwickelte Dichter vor ihm, ein Dichter, dessen Aussprüche vielfach an diejenigen Goethe’s erinnern. Fast Alles, was dieser Dichter sagt, ist so überraschend vernünftig und gesund, daß man kaum begreift, wie Novalis selbst sich Nichts davon zu Herzen |281| genommen hat. So sagt er: »Ich kann Euch nicht genug anrühmen, Euren Verstand, Euren natürlichen Trieb, zu wissen, wie Alles sich begiebt und unter einander nach Gesetzen der Folge zusammenhängt, mit Fleiß und Mühe zu unterstützen. Nichts ist dem Dichter unentbehrlichen als Einsicht in die Natur jedes Geschäfts, Bekanntschaft mit den Mitteln, jeden Zweck zu erreichen. . . Begeisterung ohne Verstand ist unnütz und gefährlich, und der Dichter wird wenig Wunder thun können, wenn er selbst über Wunder erstaunt. . . . Der junge Dichter kann nicht kühl, nicht besonnen genug sein. Zur wahren melodischen Gesprächigkeit gehört ein weiter, aufmerksamer und ruhiger Sinn.« In Einem Punkte jedoch sind Klingsohr und Novalis vollkommen einig, nämlich darin, daß Alles Poesie sei und sein müsse: »Es ist recht übel, daß die Poesie einen besondern Namen hat, und die Dichter eine besondere Zunft ausmachen. Es ist gar nichts Besonderes. Es ist die eigenthümliche Handlungsweise des menschlichen Geistes. Dichtet und trachtet nicht jeder Mensch in jeder Minute?«

In Klingsohr’s Tochter Mathilde trifft Heinrich den Gegenstand seiner lieberfüllten Sehnsucht. Ihm ist zu Muthe wie beim Anblick der blauen Blume. Er scheint am Ziele zu stehen, wie Novalis, als er Sophie von Kühn gefunden hatte. Da ertrinkt die Geliebte. In tiefer Trauer verläßt Heinrich jetzt Augs|282|burg. Eine Vision ganz von der Art, wie Novalis sie selbst an Sophiens Grabe gehabt, tröstet ihn, er sieht die Verstorbene und hört ihre Stimme.

In einem fernen Kloster, dessen Mönche, Priester zur Erhaltung »des heiligen Feuers in jungen Gemüthern«, als eine Art von Geisterkolonie erscheinen, lebt er unter Todten. Er durchlebt die Stimmungen, welchen Novalis in den »Hymnen an die Nacht« Ausdruck gegeben hat. Aber er taucht wieder von den Todten empor. Ein neues, wunderbares Wesen hat sich ihm angeschlossen, sie ersetzt ihm Mathilden. – Der zweite Theil ist nur flüchtig entworfen: Heinrich durchstreift die ganze Welt. Nachdem er alles Irdische erlebt hat, »kehrt er wie in eine alte Heimat in sein Gemüth zurück.« Hier verändert die Welt sich zu einem rein poetischen Geisterreiche. Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt. Er findet Mathilden wieder, aber Mathilde ist nicht mehr von Cyane, seiner zweiten Geliebten, verschieden. Diese Doppelliebe war, wie Novalis’ eigene, nur Eine. Alle Zeit- und Lebensunterschiede werden jetzt in der Einheit seines Gemüthes aufgehoben. Das Fest des Gemüthes, der Liebe und der ewigen Treue wird begangen. Bei diesem Fest feiert die Allegorie ihre schönsten Triumphe. Das gute und das böse Princip treten im Wettkampfe auf und singen Wechselgesänge, wie die Wissenschaften, sogar auch die Mathematik. Indische Pflanzen werden be|283|sungen. Vermuthlich hat die Lotusblume, als mehr oder minder geeignet zur blauen Blume, dabei eine Rolle spielen sollen. – Der Schluß ist nur leicht angedeutet: Heinrich findet die blaue Blume; es ist Mathilde. »Heinrich pflückt die blaue Blume, und erlöst Mathilden von dem Zauber, der sie befangen hält, aber sie geht ihm wieder verloren. Er erstarrt im Schmerz und wird ein Stein. Edda (die blaue Blume, die Morgenländerin Mathilde [vierfache Doppelgängerei!] opfert sich an dem Steine, er verwandelt sich in einen klingenden Baum. Cyane haut den Baum um, und verbrennt sich mit ihm, er wird ein goldener Widder. Edda-Mathilde muß ihn opfern, er wird wieder ein Mensch. Während dieser Verwandlungen hat er allerlei wunderliche Gespräche.« Man glaubt Das gern! Dasjenige Werk in unserer Literatur, welches dem »Heinrich von Ofterdingen« am nächsten entspricht, ist Ingemann’s, von Grundtvig so sehr bewundertes Gedicht »Die schwarzen Ritter«. Wie verwandt Ingemann’s Stimmungsleben während der Arbeit an dieser Dichtung mit dem des deutschen Romantikers war, sieht man aus seiner Autobiographie: »Auf das große, bewegte Weltleben da draußen achtete ich während dieser ganzen Periode nur wenig. Selbst die Flammen Moskau’s, der Untergang der großen Armee und Napoleon’s Sturz waren mir transitorische Phänomene; . . . selbst im Befreiungskampfe Deutschlands sah ich nur das zersplitterte Volksleben in Zwie|284|spalt mit sich selber und die edelsten Kräfte ohne Einheit und Zusammenhalt in ihrem Innersten. Zwischen dem Ideenleben und dem Menschenleben blieb für mich ein klaffender Spalt, über welchen nur der Regenbogen der Liebe und der Poesie die Brücke schlagen konnte . . . Ich dichtete mich in das Labyrinth einer Märchenwelt hinein, worin die Liebe mein Ariadnefaden war, und worin ich mit der Weltharfe der Lebenspoesie, deren Saiten der Genius zwischen Felsen über Abgründen ausspannt, die Ungeheuer des Seins in Schlaf lullen und alle Dissonanzen und Räthsel der gestörten Weltharmonie auflösen wollte.« Man weiß, wie grauslich das Resultat ausfiel.

Es ist klar, daß Novalis im »Ofterdingen« sein Ziel erreicht hat, Etwas zu erschaffen, das dem »Wilhelm Meister« so ungleich wie möglich sei. Die blaue Blume war ja das Symbol des Ideales. Hier ist die Wirklichkeit ganz im Ideale, und das Ideal ganz im Symbole aufgegangen. Die Poesie ist vollständig vom Leben losgerissen. Ja, Novalis meint, daß Dies das Richtige sei. So sagt er im Roman von den Dichtern: »Große und vielfache Begebenheiten würden sie stören. Ein einfaches Leben ist ihr Loos, und nur aus Erzählungen und Schriften müssen sie mit dem reichen Inhalt und den zahllosen Erscheinungen der Welt bekannt werden. Nur selten darf im Verlauf ihres Lebens ein Vorfall sie auf einige Zeit in seine raschen Wirbel |285| mit hineinziehen, um durch einige Erfahrungen sie von der Lage und dem Charakter der handelnden Menschen genauer zu unterrichten. Dagegen wird ihr empfindlicher Sinn schon genug von nahen unbedeutenden Erscheinungen beschäftigt. . . . Sie, die schon hier im Besitz der himmlischen Ruhe sind, und, von keinen thörichten Begierden umhergetrieben, nur den Duft der irdischen Früchte einathmen, ohne sie zu verzehren, sind freie Gäste, deren goldner Fuß nur leise auftritt, und deren Gegenwart in Allen unwillkürlich die Flügel ausbreitet . . . Wenn man den Dichter mit dem Helden vergleicht, so findet man, daß die Gesänge der Dichter nicht selten den Heldenmuth in jugendlichen Herzen erweckt, Heldenthaten aber wohl nie den Geist der Poesie in irgend ein Gemüth gerufen haben.« Hier scheint mir der Grundirrthum zu stecken. Also nicht für das Leben und seine Thätigkeiten ist die Poesie ein Ausdruck, nein, die Thätigkeiten des Lebens haben die Poesie zum Ausgangspunkt. Sie erschafft Leben. Von mancher Poesie mag Das wahr sein; aber giebt es eine Poesie, von welcher es niemals gelten kann, so ist es wohl diese. Zu welcher Thätigkeit könnte sie wohl in aller Welt entflammen? Sich in einen singenden Baum oder in einen goldenen Widder zu verwandeln? Hier ist nämlich ja gar nicht von Thätigkeit, sondern nur von Sehnsucht die Rede. Alles Beste in Novalis’ Poesie ist nur ein Ausdruck dieser Sehnsucht, welche sich vom reinen |286| Naturverlangen bis zur höchsten Schwärmerei erstreckt. Als Probe von Beidem mögen hier zwei Lieder folgen, welche zu dem Schönsten gehören, was er geschaffen hat.

Wie artig ist in dem Romane das Lied, in welchem die jungen Mädchen ihr hartes Geschick beklagen!

Sind wir nicht geplagte Wesen?
Ist nicht unser Loos betrübt?
Nur zu Zwang und Noth erlesen;
In Verstellung nur geübt,
Dürfen selbst nicht unsre Klagen
Sich aus unsern Busen wagen.
Allem, was die Eltern sprechen,
Miderspricht das volle Herz;
Die verbotne Frucht zu brechen,
Fühlen wir der Sehnsucht Schmerz;
Möchten gern die süßen Knaben
Fest an unsern Herzen haben.
Wäre Dies zu denken Sünde?
Zollfrei sind Gedanken doch.
Was bleibt einem armen Kinde
Außer süßen Träumen noch?
Will man sie auch gern verbannen,
Nimmer ziehen sie von dannen.
Wenn wir auch des Abends beten,
Schreckt uns doch die Einsamkeit,
Und zu unsern Kissen treten
Sehnsucht und Gefälligkeit.
Könnten wir wohl wiederstreben,
Alles, Alles hinzugeben?
Unsre Reize zu verhüllen,
Schreibt die strenge Mutter vor;
Ach, was hilft der gute Willen,
Quellen sie nicht ganz empor?
|287| Bei der Sehnsucht innerm Leben
Muß das beste Band sich geben.
Jede Neigung zu verschließen,
Hart und kalt zu sein wie Stein,
Schöne Augen nicht zu grüßen,
Fleißig und allein zu sein,
Keiner Bitte nachzugehen:
Heißt Das wohl ein Jugendleben?

Hier ist die blaue Blume, wie man sieht, nur die verbotene Frucht. Aber mit welcher lieblichen Schelmerei ist die Sehnsucht ausgedrückt! In einem ganz anders feierlichen und innigen Stile kommt sie in folgendem Gedicht an einen Freund zu Worte:

Was paßt, Das muß sich ründen,
Was sich versteht, sich finden,
Was gut ist, sich verbinden,
Was liebt, zusammen sein.
Was hindert, muß entweichen,
Was krumm ist, muß sich gleichen,
Was fern ist, sich erreichen,
Was keimt, Das muß gedeihn.
Gieb treulich mir die Hände,
Sei Bruder mir, und wende
Den Blick vor Deinem Ende
Nicht wieder weg von mir.
Ein Tempel, wo wir knieen,
Ein Ort, wohin wir ziehen,
Ein Glück, für das wir glühen,
Ein Himmel mir und Dir!

Hier ist die Sehnsucht, ungefähr wie bei den Kreuzfahrern, ein Suchen in weiter Ferne nach einem erhabenen Ziel. Die blaue Blume verschmilzt mit dem blauen |288| Horizonte, dessen Farbe ja auch die Ferne andeutet. Richten wir daher noch einmal unsere Aufmerksamkeit auf dieselbe. In Spielhagens »Problematischen Naturen« sagt eine der auftretenden Personen: »Sie erinnern sich doch der blauen Blume in Novalis’ Erzählung? Die blaue Blume! Wissen Sie, was Das ist? Das ist die Blume, die noch keines Menschen Auge erschaute, und deren Duft doch die ganze Welt erfüllt. Nicht alle Kreatur ist fein genug organisirt, diesen Duft zu empfinden; aber die Nachtigall ist von ihm berauscht, wenn sie beim Mondenschein oder in der Dämmerung des Morgens singt und klagt und schluchzt, und all’ die närrischen Menschen waren es und sind es, die früher und jetzt in Prosa und Versen dem Himmel ihr Weh und Ach klagten und klagen, und noch Millionen dazu, denen kein Gott gab, zu sagen, was sie leiden, und die in ihrer stummen Qual zum Himmel blicken, der kein Erbarmen mit ihnen hat. Ach, und aus dieser Krankheit ist keine Rettung – keine, als der Tod. Wer nur einmal den Duft der blauen Blume eingesogen, für Den kommt keine ruhige Stunde mehr in diesem Leben. Als wäre er ein verruchter Mörder, als hätte er den Herrn von seiner Schwelle gestoßen, so treibt es ihn weiter und immer weiter, wie sehr ihn auch seine wunden Füße schmerzen und es ihn verlangt, das müde Haupt endlich einmal zur Ruhe zu legen. Wohl bittet er, von Durst gequält, in dieser oder jener Hütte um einen |289| Labetrunk, aber er giebt den leeren Krug ohne Dank zurück, denn es schwamm eine Fliege in dem Wasser, oder das Gefäß, und wäre es von Asbest, war nicht reinlich, und so oder so – Erquickung hatte er sich nicht getrunken. Erquickung! Wo ist das Auge, in das wir einmal geschaut haben, um nie wieder in ein anderes, glänzenderes, feurigeres schauen zu wollen; wo ist der Busen, an dem wir einmal ruhten, um nie wieder das Pochen eines anderen, wärmeren, liebedurchglühteren Herzens hören zu wollen? wo? ich frage Sie, wo?«

»Die Liebe,« lautet die Antwort, »ist der Duft der blauen Blume, der, wie Sie vorher sagten, die ganze Welt erfüllt, und in jedem Wesen, das Sie von ganzem Herzen lieben, haben Sie die blaue Blume gefunden.«

»Sie lösen so doch das Räthsel nicht,« klingt es leise und traurig zurück, »denn eben die Bedingung, daß wir von ganzem Herzen lieben müssen . . . können wir ja nicht erfüllen. Wer von uns kann denn noch mit ganzem Herzen lieben? Wir Alle sind so abgehetzt und müde, daß wir weder die Kraft noch den Muth haben, die zu einer wahren, ernsten Liebe gehören, zu jener Liebe, die nicht ruht und rastet, bis sie jeden Gedanken unseres Geistes, jedes Gefühl unseres Herzens, jeden Blutstropfen unserer Adern sich zu eigen gemacht hat.«

Diese letzte Auslegung ist sein und schön, sie ist nicht unwahr, aber sie ist nicht erschöpfend. Die blaue |290| Blume ist nicht bloß in der Liebe, sondern in allen Richtungen des Lebens das vollkommene, und in so fern ideale, aber rein persönliche Glück. Da sich dies seinem Wesen nach nicht erreichen läßt, so ist es die Sehnsucht nach demselben, das beständige, unruhige Trachten von Ort zu Ort, welches alle Romantiker schildern.

Am typischsten erscheint mir die Schilderung in Eichendorff’s Novelle »Aus dem Leben eines Taugenichts«. Dies Buch, welches 1824 erschien, ist zwanzig Jahre nach dem »Ofterdingen« verfaßt, aber von einem Schriftsteller, welcher doch nur zehn Jahre jünger als Novalis war, von Joseph Freiherrn von Eichendorff einem Schüler Tieck’s, einem Ultra-Romantiker, einem frommen, liebenswürdigen Gemüthe. Eichendorff war Oesterreicher von Nationalität, süddeutsch von Temperament, von Geburt an katholisch, und endet damit, von seinem ultramontanen Standpunkte aus die ganze frühere deutsche Poesie als irreligiös zu befehden. Er blickt mit Geringschätzung auf Schiller’s Helden mit ihrer »rhetorischen Idealität« und auf Goethe’s kleine Lieder mit ihrer symbolischen Naturpoesie herab. Im Gegensatze hierzu sei, sagt er, die Idee der Romantik Heimweh, die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat, d. h. nach einer Alle umschließenden Kirche. Aber sie sei von diesem ihrem Grundgedanken abgefallen. Mit diesen ungesunden Ideen vereinigt Eichendorff eine wahrhafte, echt poetische Begabung von stark lyrischer Natur, und Keiner hat |291| besser, als er, in musikalischer, zusammengedrängter Form ein Bild von der Sehnsucht und den Idealen der romantischen Schule gegeben. In dem kleinen Buche »Aus dem Leben eines Taugenichts« summt und klingt die ganze ursprüngliche Romantik, wie in einem Käfig eingeschlossen. Hier ist Alles: Waldesduft und Vogelsang, Reisesehnsucht und Reiselust, besonders nach Italien, Sonntagsstimmung und Mondenschein, das echte romantische Landstreicher- und Vagabundenleben, eine Unthätigkeit, »so daß die Glieder von dem ewigen Nichtsthun ordentlich aus allen Gelenken gehen«, und es ihm ist, »als würde er vor Faulheit noch ganz aus einander fallen«.

Der Taugenichts ist ein junger, armer Müllerssohn, dessen einzige Lust im Leben darin besteht, unter den Bäumen zu liegen, und nach dem Himmel hinauf zu blicken, umher zu schwärmen mit der Geige auf seinem Rücken, schwärmerische Weisen zu dieser Geige zu singen, unbekümmert um alle Herrlichkeiten dieser Erde, aber so schön, daß alle Herzen von Sehnsucht ergriffen werden. »Jeder,« sagt er, »hat sein Plätzchen auf der Erde ausgesteckt, hat seinen warmen Ofen, seine Tasse Kasse, seine Frau, sein Glas Wein zu Abend und ist so recht zufrieden. Mir ist’s nirgends recht.« Er betet eine hohe, vornehme, schöne Dame an, die er ein Paar Mal gesehen hat, und besingt sie in einem, für seine untergeordnete Lebensstellung (er ist Gärtner) wunderhübschen und gefühlvollen Liede:

|292| Wohin ich geh’ und schaue,
In Feld und Wald und Thal,
Vom Berg hinab in die Aue,
Vielschöne, hohe Fraue,
Grüß’ ich Dich tausendmal.
In meinem Garten sindich
Viel’ Blumen, schön und fein,
Viel’ Kränze wohl draus wind’ ich,
Und tausend Gedanken bind’ ich
Und Grüße mit darein.
Ihr darf ich keinen reichen,
Sie ist zu hoch und schön;
Die müssen alle verbleichen,
Die Liebe nur ohne Gleichen
Bleibt ewig im Herzen stehn.
Ich schein’ wohl froher Dinge
Und schaffe auf und ab,
Und ob das Herz zerspringe,
Ich grabe fort und finge,
Und grab’ mir bald mein Grab.

Durch ihren Einfluß wird er zum Zolleinnehmer auf dem Schlosse befördert, und erbt von seinem Vorgänger einen prächtigen rothen Schlafrock mit gelben Punkten, grüne Pantoffeln, eine Schlafmütze und einige Pfeier mit langen Röhren. In seiner neuen Herrlichkeit, aus dem längsten Rohre rauchend, das er vorgefunden, verbringt er einige Zeit in einer stillen Muße. Die Kartoffeln und anderes Gemüse wirft er aus seinem kleinen Gärtchen hinaus und bepflanzt es mit den auserlesensten Blumen, horcht mit Entzücken auf ferne Jagdhorn- und Posthorntöne, und legt jeden Morgen demüthig |293| seinen Blumenstrauß auf einen steinernen Tisch, wo seine Dame ihn finden muß, bis sie endlich aus seinem Horizonte verschwindet. Als er nun eines schönen Tages allein bei seinem Rechnungsbuche und seiner verstaubten Geige sitzt, fährt ein Morgenstrahl aus dem gegenüberstehenden Fenster gerade blitzend über die Saiten. »Das gab einen rechten Klang in meinem Herzen. Ja, sagt’ ich, komm nur her, du getreues Instrument! Unser Reich ist nicht von dieser Welt!« Und so verläßt er Rechnungsbuch, Schlafrock, Pantoffeln und Pfeifen, um in die weite, weite Welt zu wandern, zuerst nach Italien.

Der Taugenichts ist nun der drolligst unbeholfene und kindliche Bursch, den man sich denken kann; in geistiger Hinsicht ist er etwa zehn Jahre alt und wird niemals älter. In einzelnen delikaten Situationen, wo seine Unschuld in Versuchung geführt wird, ist er so keusch aus Unerfahrenheit, wie einer von H. C. Andersen’s Helden, der Improvisator oder O. Z. Er weiß niemals, was ihm passirt. Alles geschieht mit ihm, ohne irgend ein Eingreifen von seiner Seite. Um ihn gruppiren sich lauter Personen, die ein eben so freies Gewerbe, wie er, treiben, Maler, welche nach Italien reisen, ein Künstler, der seine Geliebte entführt, Musikanten, welche von Stadt zu Stadt ziehen, und Studenten auf der Fußwanderung, welche Studentenlieder singen. Diesem träumerischen, unstät umher schweifenden Leben gegenüber nimmt sich das Alltägliche selbstverständlich wie ein |294| ewiges Einerlei aus. Als der Held nach seinem Heimatsorte zurück kommt, findet er den neuen Zolleinnehmer vor seiner Thür stehen, in demselben Schlafrock mit gelben Punkten, denselben Pantoffeln u. s. w. Es ist die Situation wie in Heiberg’s »Elsen«*)*

*) Deutsch von Dr. K. L. Kannegießer in J. L. Heiberg's »Dramatischen Schriften«, Bd. 1. Leipzig, Carl B. Lorck, 1847.
zwischen Grimmemann und Mannegrimm. Nachdem er das ganze Leben lang seine blaue Blume gesucht hat, findet er sie in seiner Heimat, und sein erstes Entzücken wird scherzhaft, fast in H. C. Andersen’s Manier, folgender Maßen geschildert: »Mir war so wohl, wie sie so fröhlich und vertraulich neben mir plauderte, ich hätte bis zum Morgen zuhören mögen. Ich war so recht seelenvergnügt, und langte eine Hand voll Knackmandeln aus der Tasche, die ich noch aus Italien mitgebracht hatte. Sie nahm auch davon, und wir knackten nun und sahen zufrieden in die stille Gegend hinaus.«

Der Taugenichts ist hier ein Repräsentant des romantischen Suchens und Sehnens, ungefähr wie bei uns die jungen Liebhaber in Heiberg’s Jugendarbeiten »Frisch gewagt ist halb gewonnen« und »Töpfer Walter«. Er repräsentirt die brotlosen Künste, die vogelfreie, unnütze Kunst, und die unendliche Sehnsucht.

Die unendliche Sehnsucht! Halten wir uns an dies Wort, denn hierauf ist die romantische Poesie gebaut. |295| Werfen wir einen Blick auf unsere eigene Literatur, auch hier finden wir in einer gewissen Periode die freie Wanderlust und ihre Sehnsucht zum Lebensprincipe gemacht. Erst Fernweh, dann Heimweh. Denken wir einen Augenblick an einen Schriftsteller wie Goldschmidt, dessen ganze Poesie in Wirklichkeit ihre Quelle in der Sehnsucht hat, in »verzehrendem Sehnen«, um uns seines eigenen Lieblingsausdruckes zu bedienen. Oder gehen wir etwas weiter zurück, und nehmen wir ein Paar Zwillingsgeister, wie Paul Möller und Christian Winther, so werden wir dieselbe Tendenz und denselben Typus finden.

Paul Möller’s Typus ist »Der kraushaarige Fritz«. Das Lied des Bauerjungen:

Leb wohl, mein Dörfchen lieb und werth,
Meiner Mutter Kessel dampft auf dem Herd,
Meines Vaters Kuh die käut im Stall,
Meiner Schwester Hühner die schlafen all’,
Ich will fort in die Welt!

enthält lauter Fernweh.

Dies Lied erweckt die Wanderlust in der Seele des Helden, und er macht sich auf den Weg, um »die unbekannte Schöne« aufzusuchen. Er findet erst Marien, dann Sophien, und echt romantisch bricht die Erzählung in der Mitte ab; denn dies Umherschweifen und Suchen läßt sich ins Unendliche fortsetzen, so lange die jugendliche Sehnsucht vorhält.

Der einzige rechte Typus, den Christian Winther |296| erschaffen hat, ist der Sänger Folmer in »Des Hirsches Flucht«.*)*

*) Deutsch von Ryno Quehl. Berlin, 1857.
Diese Gestalt, in welcher sich Winther’s ganze Poesie personificirt, ist die verkörperte romantische Ungebundenheit selbst. Das Grundthema ist hier die romantische Unruhe und Rastlosigkeit, die Willkür und Sehnsucht, das Verlangen, sich frei unter den Baumwipfeln auszustrecken und dem Geplauder des Bächleins zu lauschen, unstät und ruhelos unter Gesang umher zu schweifen. Sein letztes Lied ist ein wahres Programm der Romantik.

Eine feine, liebenswürdige Sinnlichkeit bildet hier das neue variirende Element im Gegensatze zu der grobkörnigen Gesundheit und Derbheit, welche Paul Möller seinem Fritz von seiner eigenen Natur mit auf den Weg gegeben hat. Aber verstehen wir recht diesen romantischen Zug bei Paul Möller, eben weil seine Gesundheit uns im Uebrigen so leicht dazu veranlaßt, ihn zu übersehen, und uns wirklich ihn so lange hat übersehen lassen. Mit seiner Begeisterung für eine Vorzeit, die sehr verschieden von dem Bilde war, das er von ihr entwirft:

Vor Zeiten war unser altes Land
Voll thurmgeschmückter, rother Paläste, –

mit seiner romantischen Vorliebe für diese Zeit der Unwissenheit und Knechtschaft hängt sein Haß gegen alle |297| liberalen Bestrebungen der Gegenwart zusammen. In seiner Biographie heißt es: »Er verfocht in seinen späteren Jahren mit einem komischen Ernste die Behauptung, daß alle liberalen Agitatoren von irgendwelcher Bedeutung Juden seien.« Dies gilt bekanntlich fast nur für Deutschland, wo Heine und Börne, Karl Beck und Moritz Hartmann, Lassalle und Karl Marx allerdings nicht sehr vorsichtig in der Wahl ihrer Eltern gewesen sind. Und an einer anderen Stelle lesen wir: »Er war überhaupt geneigt, das Streben der Liberalen als einen Ausdruck niederer Naturtriebe, wie der Herrschsucht und des Eigennutzes, befangen im Dienste des Materiellen, und daher feindlich gegen wahre Poesie, Kunst und andere höhere Lebensinteressen, zu betrachten. Man sieht Das z. B. aus der Verbindung, welche er, wie oben bemerkt, zwischen dem Liberalismus und dem Judenthum finden wollte, gegen welches es durchaus nicht günstig gestimmt war.« Es liegt, scheint mir, ein gut Theil Bornirtheit in diesen Worten. Fügt man nun noch seine klägliche Abhandlung über die Unsterblichkeit, sein Gedicht »Der Künstler unter den Rebellen« und seine Aeußerungen über die Frauenemancipation hinzu: daß zu schriftstellern für eine Frau Dasselbe sei, wie tüchtig auf den Tisch zu trumpfen oder derb und mannhaft mit dem Speichel einen Bogen in der Luft zu beschreiben, daß Frau von Staël und George Sand geistige Mißgeburten seien, daß es unschön, »ja wider|298|wärtig« sei, wenn eine Frau Gedichte verfasse – so hat man das Bild eines Romantikers, der noch reaktionärer als die deutschen ist, und man kann sich nicht wundern, daß auch für ihn das ewige Sehnen der Ausgangspunkt der Poesie wird. Sein Student kehrt in den Studenten der Hostrup’schen Lustspiele wieder. Auch sie schweifen unstät umher:

Ewiges Sehnen ohn’ Rast und Ruh’,
Tiefstes Geheimnis des Wanderns bist du!

Ich kann nicht der Lust widerstehen, dem Leser zu zeigen, welche krankhafte Form diese, das ganze Leben beherrschende Sehnsucht bei minder gesunden romantischen Gemüthern annehmen kann. Der bekannte deutsche Aesthetiker Franz Horn hat eine Selbstbiographie geschrieben, in welcher er erzählt, daß er »schon im dritten oder vierten Lebensjahre des poetischen Leidens, der Ahnung eines verhüllten Lebens in dem scheinbar Todten fähig war, und daß ihn »unter den weltlichen Liedern zuerst, und zwar mit unwiderstehlichem Zauber, ein kindlichmystischer Volksvers anzog.« Welcher war Das? Kein anderer, als der tiefsinnige alte Ammenreim:

Maikäfer, flieg!
Dein Vater ist im Krieg,
Deine Mutter ist in Pommerland,
Und Pommerland ist abgebrannt;
Maikäfer, flieg!

Die anderen Kinder waren hartherzig genug, über dies Gedicht zu lachen. Ihm aber erschien es so rührend: |299| »Der arme Maikäfer war eine Art von Waise, oder doch ein verirrtes und halb verlorenes Kind. Der Vater war ja im Kriege, und wo mochte ihn der hinführen? Und die Mutter? über sie lauteten die Nachrichten schon etwas bestimmter. Sie war ja im Pommerlande. Doch ach! dieses Pommerland war abgebrannt!« Welcher Spielraum für die Phantasie, und dabei der arme Maikäfer, der, von seiner Sehnsucht beflügelt, in der weiten, weiten Welt, nach den Eltern suchend, umher flog! Fürwahr, man wird selbst wieder ein Kind. Aber halten wir die Idee der Sache fest.

Die Sehnsucht des Individuums nach dem unendlichen Glücke beruht, wie ich sagte, auf dem Glauben, dies unendliche Glück müsse für das Individuum zu finden sein. Aber dieser Glaube an das Glück beruht abermals auf der romantischen Ueberzeugung des Individuums von seiner eigenen unendlichen Wichtigkeit. Selbst die Unsterblichkeit ist ja nur eine Folge der kosmischen Wichtigkeit dieses Individuums. Und dieser Glaube an die unendliche Bedeutung des Individuums ist echt mittelalterlich. Ganze Wissenschaften, wie die Astrologie, waren damals auf demselben begründet. Selbst die Sterne des Himmels standen im Verhältnis zu dem Schicksal des einzelnen Individuums, beschäftigten sich gleichsam mit ihm. Himmel und Erde nebst Allem, was sich darin befand, drehten sich um das Individuum. Deshalb vermissen die Romantiker die Astro|300|logie und wünschen sie zurück. Die blaue Blume ist in der Astrologie der Stern des Individuums, wie in der Alchymie der Stein der Weisen. (Vgl. Hauch’s Roman »Der Goldmacher«.) In seinen, 1802 zu Berlin gehaltenen Vorlesungen »Ueber Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters« sagt A. W. Schlegel: »In dem Sinne, wie man Kepleru den letzten großen Astrologen nennen kann, muß die Astronomie wieder zur Astrologie werden. . . . Die Astrologie ist durch anmaßende Wissenschaftlichkeit in Verachtung gerathen; allein durch die Art der Ausübung kann die Idee derselben nicht herabgewürdigt werden, welcher unvergängliche Wahrheiten zu Grunde liegen. Die dynamische Einwirkung der Gestirne, daß sie von Intelligenzen beseelt seien und gleichsam als Untergottheiten über die ihnen unterworfenen Sphären Schöpferkraft ausüben, Dies sind unstreitig weit höhere Vorstellungsarten, als wenn man sie sich wie todte, mechanisch regierte Massen denkt.« So sagt auch Heiberg in seinem Briefe an Buntzen: »Man muß einräumen, daß das Mittelalter mit seinem alchymistischen und astrologischen Aberglauben, welcher doch aus dem Glauben an die Einheit der Natur und die Einheit des Geistes begründet war, . . . an wahrem wissenschaftlichem Geiste hoch über der gegenwärtigen Zeit stand mit ihrem nüchternen Verzichten aus das Einzige, woran es in letzter Instanz ankommt.« Und ganz auf dieselbe Weise rühmt er in |301| seiner Abhandlung über Hveen die Astrologie als »auf der tiefsinnigen Mystik des Mittelalters begründet«. Wenn selbst Heiberg die astrologischen Vorurtheile bei Tycho Brahe rühmen konnte, erscheint es freilich nicht mehr verwunderlich, daß Grundtvig ihm Recht darin gab, die Erde als Weltcentrum anzunehmen. Romantik hier, Romantik da!

Die Romantiker wollten eine Lebensanschauung und eine Poesie auf der Entbehrung, d. h. auf der Sehnsucht begründen, – eine Poesie, welche auf der Vorstellung von der unendlichen Wichtigkeit des Individuums beruhte. Wer seine Lebensanschauung auf der Entbehrung begründen will, ist zwar immer noch verständiger, als Der, welcher sie auf der Freude begründen will, sei es nun die gegenwärtige oder die Wollust und Seligkeit einer künftigen Zeit. Denn alle Freude, welche wir kennen, ist Unterhöhlt von Trauer und Verlust, und so ist es doch besser und sicherer, auf der Entbehrung zu bauen. Aber die Romantiker bauen nicht auf der Entbehrung allein, sondern auf ihrer Befriedigung, sie schmachten, sie schweifen umher in Sehnsucht nach der blauen Blume, die ihnen in der Ferne winkt.

Sehnsucht aber ist Unthätigkeit, und wird durch Unthätigkeit genährt und gefördert. Wer die romantische Lebensanschauung überwunden hat, Der wird weder sein Leben noch seine Dichtung hierauf gründen. Es |302| ist wahr, wir müssen auf etwas Sicherem bauen. Allein unter all der Ungewißheit und Unsicherheit und den Zweifeln, von denen wir umgeben sind, ist Eines gewiß und nicht wegzudisputiren: der Schmerz. Und wie der Schmerz gewiß ist, so ist auch das Gute der Linderung und der Befreiung gewiß. Es ist gewiß, daß es höchst unangenehm ist, leidend, gefesselt oder gefangen zu sein, es ist gewiß, daß es eine große Erquickung ist, geheilt zu werden, seine Bande gelöst und die Thüren seines Kerkers weit geöffnet zu sehen. Hic Rhodus, hie salta! Hier ist eine Freiheitsthat zu vollbringen, hier ist die Möglichkeit für eine befreiende Dichtung. Man kann mit einem Haupte voll Schwankens und Zweifelns umher gehen und nicht aus noch ein wissen, was man glauben oder was man thun soll: in dem Augenblick aber, wo man auf seinem Wege bemerkt, daß Jemandem die Finger eingeklemmt worden sind, daß eine schwere Thür diesem oder jenem unserer Mitmenschen auf die Hand gefallen ist, giebt es keinen Zweifel mehr, was man zu thun hat – man muß suchen, die Thür aufzureißen und die Hand heraus zu ziehen.

Und nun trifft es sich so glücklich oder so unglücklich, daß es immer genug Solcher giebt, deren Hände festgeklemmt worden sind, genug, welche leiden, genug, welche in allerlei Gefängnissen, in den Kerkern der Unwissenheit, der Abhängigkeit, der Dummheit und der |303| Knechtschaft sitzen. Diese müssen wir befreien, und hierauf muß sowohl unser Leben wie unsere Poesie gerichtet sein. Der Romantiker jagt egoistisch seinem persönlichen Glücke nach und wähnt, daß er selber von unendlicher Wichtigkeit sei. Der Sohn der neuen Zeit wird nicht zum Himmel hinaus nach seinem Sterne, noch zum Horizonte hinaus nach der blauen Blume spähen. Sehnsucht ist Unthätigkeit. Er aber wird handeln. Er wird verstehen, was Goethe damit meinte, daß er Wilhelm Meister als Arzt enden läßt. Es giebt keine andere Wahl: wir Alle müssen Aerzte werden, der Dichter mit.

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