Die Emigrantenliteratur (1872)

|121| 9.

Benjamin Constant ist in Frankreich nicht der Beschuldigung des Germanismus entgangen. In der Schweiz geboren, verbrachte er seine Jugend zuerst in England, später in Weimar, wo damals eine Plejade aller größten Geister Deutschlands strahlte. Er war mit Goethe bekannt und lebte in seinem Kreise. Er übersetzte Schiller's »Wallenstein« ins Französische und gab als Einleitung dazu Studien über das deutsche Theater, welche zeigen, in welchem Grade die deutsche Geistesrichtung auf ihn gewirkt hatte. Um so interessanter ist es zu sehen, in welchem Gegensatze seine eigene poetische Produktion zu der deutschen steht. Nehmen wir z. B. Goethe, in dessen Frauengestalten die deutsche Poesie wahrscheinlich für Jahrhunderte ihre höchste Vollendung erreicht hat, während gleichzeitig das eigenthümlich germanische Gemüthsleben in ihnen am reinsten ausgeprägt worden ist. Denken wir einen Augenblick an Gretchen und Klärchen. Es sind zwei Gegensätze, die Eine eine sanftere und frömmere Natur, die Andre eine keckere und enthusiastischere. Aber das Grundgepräge ihrer Seele ist dasselbe. Es sind zwei Kinder. Sie gehen Beide auf in einem einzigen Gefühl, ihr Wesen ist ohne jede Zusammensetzung, |122| völlig einfach, schlicht, naiv. Sie lieben Beide zum ersten Male und nur dies eine Mal. Sie geben sich Beide, und außerhalb der Ehe, mit vollständigem Vertrauen, ohne jede Widerstandskraft, ja ohne den geringsten Willen zum Widerstande, dem Geliebten hin, die Eine aus tiefer weiblicher Anhänglichkeit, die Andere aus hoher weiblicher Begeisterung. Sie fassen nicht, daß sie etwas Unrechtes thun, sie denken nicht. Ihr ganzes Wesen, ihr Wille und ihre Gedanken entströmen ihnen unwillkürlich, sie wissen selber nicht, wie. Ihre Herzen nehmen weich wie Wachs einen Eindruck an, aber, einmal aufgenommen, wird derselbe nicht wieder ausgelöscht und bleibt wie in Gold geprägt stehen. Nichts kommt der Unschuld, Reinheit und Redlichkeit ihrer Seelen gleich. Sie sind treu aus Instinkt, sie begreifen nicht, daß man anders sein könnte. Sie haben keine Moralität, aber sie haben alle Tugenden; denn man ist moralisch mit Bewußtsein, aber gut von Natur. Sie betrachten sich nicht als des Geliebten Gleichen. Sie blicken zu ihm empor; für sie ist es, als sei die alte Sage Wirklichkeit geworden, daß die Söhne der Götter zu den Töchtern der Wien schen herabstiegen. Man denke daran, wie erstaunt und verwirrt Gretchen über all das tiefe Wissen Faust´s ist, man erinnere sich Klärchens, die wie ein Kind vor Egmont kniet, als er in seiner vollen Pracht erscheint! Sie verlieren sich ganz in dem Geliebten, gehen in ihm auf und verschwinden in ihm.

|123| Es sind nicht zwei ebenbürtige Persönlichkeiten, welche einander die Hand geben und sich einander verpflichten, es ist, ein verwirrtes und bewunderndes Kind, das sich an einen Mann klammert. Er ist ihr Leben, aber in seinem Leben ist sie nur eine Episode. Sein Blick umspannt und überschaut ihr ganzes Wesen; aber sie vermag ihn in keiner Richtung zu überschauen, also noch minder ihn zu durchschauen und zu beurtheilen. Sie vermag weder seine Schranken noch seine Mängel zu erblicken. Wohin sie schaut, sieht sie ihn als etwas Kolossales und Gigantisches, das ihr von allen Seiten entgegen rückt. Daher in dieser Liebe keine Kritik, keine Befreiung für den Geist, kein Gebrauch des Verstandes. Er ist der Große, der Herrliche im Allgemeinen, wie Faust, der von Allem zu reden weiß und eine Antwort auf alle Fragen hat, wie Egmont, dessen Name als Held und Befreier auf Aller Lippen ist, und den die ganze Stadt kennt. Hier ist, sage ich, keine Befreiung für den Geist; denn dies junge Mädchen hat keinen Geist in der Bedeutung von Verstand, sie ist lauter Seele. Wenn sie Handlungen vollbringt, die eine Willenskraft oder eine gewisse männliche Entschlossenheit verlangen, wenn z. B. Klärchen — erstaunt und entrüstet darüber, daß die Brüsseler Bürger so kalt und feig ihren eigenen Helden Egmont ins Gefängnis und vielleicht zum Tode schleppen sehen — wenn sie auf den Marktplatz tritt und diese trägen Seelen vergebens mit |124| Flammenworten aufzureizen sucht, so bildet den Hintergrund dieser Handlung der naive Glaube des jungen Mädchens, das Leben ihres Geliebten müsse für die Andern eben so wichtig wie für sie selber sein; da sie nur ihn in der Welt erblickt, begreift sie kaum, daß die Andern an Anderes denken können. Diese jungen Mädchen treten als echte Produkte ihrer Race in dieselbe große Familie, zu welcher Ophelia und Desdemona gehören.

In entschiedenem Gegensatz zu ihnen steht nun das neue Frauengeschlecht. Hier war der Kern des Wesens Innigkeit, Gemüth, Natur. Man sieht sie, wie Ophelia und Desdemona, in den Naturumgebungen, welche ihrem Wesen entsprechen, wie Desdemona sich der Phantasie unter dem Weidenbaume zeigt, von welchem sie singt, und Ophelia mit den Blumen im Haare. Bei dem anderen Frauentypus ist Alles Bewußtsein, Geist, Leidenschaft und Wille, aktiver Charakter.

Eleonore ist in dem Augenblick, da Adolphe sie kennen lernt, kein junges und unerfahrenes Mädchen, das von einer ersten Liebe ergriffen wird. Sie ist ein Weib, bei dem jedes aufkeimende Gefühl sich auf einem Hintergrunde der Erfahrung, ernster und schmerzlicher Erfahrung, abzeichnet, welche nach allen Richtungen die Seele durchpflügt hat. Dieser Fond von Erfahrung ist der erste neue Zug; denn Erfahrung setzt Geistesentwickelung und Verstand voraus. Es gehört mehr dazu, Etwas |125| erfahren zu haben, als schlichthin Etwas erlebt zu haben. Eleonore hat auf alle Güter und Freuden des umfriedeten und geschützten Lebens Verzicht geleistet. Von vornehmer Herkunft und im Reichthum geboren, hat sie Familie und Heimat verlassen, um Dem, welchem sie den Vorzug gab, als seine Geliebte zu folgen. Sie hat zwischen der ganzen Welt und ihm gewählt. Sie hat sich völlig isolirt, um sich unbedingt für ihn opfern zu können, und sie hat damit begonnen, ihm durch Rettung seines ganzen Vermögens die größten Dienste zu erweisen. Sie hat bald alle Welt auf sie hindeuten sehen als auf einen Gegenstand des Hohns und der Verachtung, bei jedem Schritte, den sie that, hat sie sich von beleidigenden, unverschämten Blicken verletzt gesehen, die eine Frau hat sie der andern mit dem Finger gewiesen. Jeder, selbst der Nichtswürdigste, hat sich berechtigt gewußt, mit einem Blick oder Wort das Brandmal der Schande auf ihre Stirn zu prägen. Das eine Haus nach dem andern hat sich an dem fremden Orte, den sie bewohnt, vor ihr verschlossen; bald hat sie sich fast ausschließlich auf den Umgang mit Männern, Freunden ihres Geliebten, beschränkt gesehen, und der Ton Dieser ist ihr gegenüber, wiewohl ehrerbietig, bisweilen zweifelhaft gewesen. Aber sie, welche ein für alle Mal ihr Leben auf eine einzige Karte gesetzt, hat vom ersten Tage an alle Kraft ihrer Seele zum Widerstande gesammelt; sie hat zu sich selbst gesagt: »Habe ich gefehlt |126| dadurch, daß ich mich so an diesen Mann gebunden, so will ich mich erheben und den Fehler durch die strengste Treue büßen. Sollte eine glühende Begeisterung, eine Hingabe, deren Aufopferung keine Grenze kennt, nicht genug an sich selbst haben und Den aufrecht erhalten können, welcher unter der Mißbilligung und Verachtung der Welt zusammenbrechen zu müssen scheint? Mögen sie höhnen und auf mich hinweisen, daß die Röthe mir ins Gesicht steigt, ich will meinen Nacken nicht beugen und meine Augen nicht niederschlagen. Möge ich Alles entbehren, ihre Gastlichkeit und ihre Feste, ihre Achtung und die gegenseitige Schmeichelei, mit Hilfe deren die Gesellschaft sich zusammenkittet, mein Leben hat in einem einzigen Gefühl einen größeren Reichthum, als das ihre in all seinem erlogenen Glanze.« Dies Element des Willens ist der zweite neue Zug.

Auf diesem Punkte hat sie sich Jahre lang unerschütterlich gehalten, so fest hat sie an die Liebe und an ihn geglaubt. Da erfaßt sie der erste Zweifel an seiner Beständigkeit, und ihr ganzes Gebäude stürzt zusammen. Würdigt er immer noch so viel Hingabe, versteht er, was sie leidet, und wird er sie dafür schadlos halten? liebt er sie oder handelt er nur wie ein Mann von Ehre? ist er treu oder ist er nur zu stolz und wohlerzogen, um sich undankbar und gleichgültig zu bezeigen?

Nicht ohne Thränen stellt sie sich diese Fragen, nicht ohne des tiefste Weh giebt sie sich selbst die Ant|127|wort. Von jetzt an ist es aus mit ihr, ist sie zermalmt und vernichtet; denn der Glaube an die Liebe, der ihre einzige Stütze war, ist in alle Winde verweht, und die Treue, in welche sie ihre Ehre setzte, ist ein inhaltloses Wort geworden. Wenn sie nicht, derweil sie noch jung ist, gealtert und welk ins Grab sinken soll, muß sie das Leben zurück gewinnen, indem sie ihren Glauben an die Allmacht der Liebe zurückgewinnt, auf daß nicht die allgemeine Weltklugheit und die schmutzige Selbstsucht, die sich als Tugend und Religion herausstaffiren, die stärksten seien und Recht behalten. In diesem Augenblicke begegnet ihr Adolphe. Er nähert sich ihr mit einem Verlangen, in welchem der ganze Durst nach dem Leben und seinem Inhalte koncentrirt ist, er wird zu ihr hingezogen als zu einem Wesen, in dem, wie er geheimnisvoll sühlt, Schätze von Leidenschaft, von Zärtlichkeit und Begeisterung, von Geist und Erfahrung aufgespeichert und gleichsam begraben sind.

Wir sehen, wie die Partie gleich von Anbeginn steht; seine Sehnsucht und ihr Bedürfniß, seine Eitelkeit und ihre Verzweiflung, seine Jugend und ihre Enttäuschungen greifen in einander ein, wie zwei Räder in einem und demselben Uhrwerk.

Wir ahnen leicht den Enthusiasmus, mit welchem die Leidenschaft im ersten Augenblicke empor lodern, den vollen und mächtigen Akkord, der erklingen, die jubelnde Symphonie, welche erschallen wird, als sei Rettung und |128| Sieg auf immer für Beide gewonnen. Analysiren wir Eleonorens Gefühl, so finden wir in demselben eine neue und ganz eigenthümliche Mischung, eine Begeisterung, die fast fanatisch ist, denn sie muß in jedem Augenblick die stets von Neuem hervor brechende, rückwärts schauende Eifersucht tödten können, — einen Glauben, der fast krampshaft ist, weil er nicht auf dem gesunden, natürlichen Vertrauen, sondern auf dem Willen basirt, glauben zu wollen, trotz Allem, trotz dem Bewußtsein, schon einmal betrogen worden zu sein, — eine Treue, die unter der Nothwendigkeit ächzt, beständig ihr Vorhandensein beweisen zu müssen, weil sie aus der Untreue gegen eine Vergangenheit hervorgegangen ist, — und endlich in der Liebe selbst das Eintretens eines Elementes der Frauennatur, das wir früher niemals in dies Gefühl aufgenommen sahen, Etwas von der Zärtlichkeit einer älteren Schwester oder einer Mutter. Dies Element fand sich nicht bei Gretchen und Klärchen. Diese ganze potenzirte Leidenschaftlichkeit ist der dritte neue Zug.

Wir begreifen schließlich ohne Mühe, daß die Harmonie hier keine endgültige sein kann, wenn sie vielleicht auch lange währen mag, daß ein Zeitpunkt kommen wird, wo diese zwei so ungleichartigen Naturen, die so wenig einander verstehen, mit Schaudern die Unnatur ihrer Vereinigung entdecken und die furchtbare Macht der Umgebungen empfinden werden. Sie werden die Entdeckung aufs äußerste vor einander verhehlen, sie werden |129| aus Schonung für einander, aus Stolz gegen die Welt Alles aufbieten, um die Wahrheit hinweg zu bannen, aber sie werden nur zur Qual für sich selber eine Unwahrheit fortsetzen können, an welche keins von ihnen aus vollem Herzen mehr glaubt.

Dieser Auflösungsproceß der Liebe ist der eigentliche Gegenstand des Romans.

»Adolphe« hat ungeheure Anerkennung gewonnen, und sein typischer Charakter ist um so mehr gewürdigt worden, als jeder junge Mann eine gewisse Befriedigung darin fand, die Geschichte Adolphe’s für ein treues Bild seiner eigenen zu erklären; denn selbst Junker Andreas Bleichwang sagt ja bei Shakspeare: »Ich bin auch einmal angebetet worden.« Mancher hat dies Buch mit Gewissensqualen gelesen, von welchem man, wie Constant mit gewöhnlicher Feinheit in der Vorrede bemerkt, wohl mit Grund annehmen darf, daß sein Gewissen ihn in Ruhe gelassen hätte, wenn seine Eitelkeit minder unruhig gewesen wäre. Dem ungeachtet läßt sich nicht leugnen, daß Adolphe ein Typus ist. Aber weit bedeutungsvoller, als er, ist doch die weibliche Hauptfigur Eleonore, besonders wie sie in ihrem zweiten Stadium hervor tritt. Denn in ihr hat die zugleich kräftige und krankhafte Literatur der neuen Zeit ihre Königin gefunden, wie sie ihren König in »René« fand.

Lange vor Balzac, lange vor George Sand tritt also hier der Kampf des Weibes in der Literatur auf, |130| ihr Kampf mit dem Bestehenden und mit der Gesellschaft, und Eleonore repräsentirt diesen Kampf, weil sie nach der mächtigsten Frauengestalt des Jahrhunderts geformt ist, nach der Frau welche den größten Kampf kämpfte, den jemals in der Weltgeschichte eine Frau mit rein geistigen Waffen gekämpft hat, mit einem Worte nach Frau von Staël. Denn die Liebesgeschichte, welche in »Adolphe« erzählt wird, ist die, welche sich wirklich zwischen Benjamin Constant und Germaine de Staël zutrug. Ganz gewiß waren die äußeren Umstände derselben andere, als bei Eleonore; aber es ist diese große und seltene Frauf deren persönlicher Lebenskampf ein Kampf mit dem damaligen Weltbeherrscher war, und die Napoleon mit kleinlichem Haß und unedler Furcht verfolgte, verbannte, der Censur und allen Quälereien unterwarf, denen eine brutale Despotie das geniale Individuum aussetzen kann, — diese Frau ist es, welche Constant den neuen weiblichen Typus giebt.

Denn das Auftreten der Frau in der Literatur als Geist, als Bewußtsein, ist nur der erste Schritt zu ihrem Auftreten als Genie. Schon sieht man den Turban der Frau von Staël am Horizonte schimmern. Dieselbe Frau, welche zuerst der Leidenschaften und Kämpfe des Mannes theilhaftig wird, wird bald seines Genius und seiner Ehre theilhaftig. Eine kurze Weile noch, und dem Kampfe folgt der Triumph, und jenes selbe Weib, das als Eleonore unterliegt, wird als Corinna auf dem Kapitol gekrönt.

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