Wir kehren also zu »Adolphe« zurück, und zur besseren Würdigung dieses Buches werfen wir einen Blick auf seinen Verfasser.
Constant wurde 1767 zu Lausanne geboren. Er war von Kindheit an ganz ungewöhnlich begabt. Wenn man in »Adolphe« vielleicht die außerordentliche Anziehungskraft, welche der Held ausübt, nicht ganz versteht, so kommt es daher, weil Constant, der die Erinnerungen seines eigenen Lebens zur Abfassung des Buches benutzte, durch eine gewisse Scham abgehalten ward, Adolphe’s fesselnde Eigenschaften allzu stark hervorzuheben. Aber Adolphe ist in solchem Grade Constant selbst, daß man die Entstehung dieses Typus eigentlich erst recht begreift, wenn man die Jugendgeschichte des Verfassers studirt. Es geht mit Adolphe wie mit René, zu dessen Verständnis Chateaubriand’s eigene Aeußerungen über sich selbst uns den Schlüssel geben. Lieft man folgende Stelle eines Briefes, den Constant als Kind an seine Großmutter schreibt, so muß man erstaunen über die Anmuth, die Feinheit, die Reife, welche man bei ihm findet; er war damals zwölf Jahre alt.
»Ich hatte alle Hoffnung auf einen Brief verloren, |113| liebe Großmutter! ich glaubte, Du habest mich vergessen. Ich sagte mir selbst: meine Vettern, die bei Großmutter wohnen, haben mich aus ihrer Erinnerung verdrängt. Ohne Zweifel sind sie liebenswürdig, sind Oberste, sind Capitaine u. s. w., und ich bin noch Nichts. Aber ich liebe Dich doch und vergöttere Dich eben so sehr, wie sie. Du siehst, liebe Großmutter, welchen Kummer Dein Schweigen mir verursacht hat. Wenn Du Dich also für meine Fortschritte interessirst, wenn Du willst, daß auch ich liebenswürdig, gelehrt und verständig werden soll, so schreibe mir bisweilen, und vor Allem liebe mich trotz meiner Fehler. Mir fehlt Nichts, als die Beweise Deiner Freundschaft, alle anderen Hilfsquellen habe ich im Ueberslusse, und ich habe das Glück, daß man weder Mühe noch Geld spart, um meine Talente, wenn ich deren besitze, zu pflegen, oder den Mangel derselben durch Kenntnisse zu ersetzen. Ich möchte Dir sehr gern etwas Befriedigendes über mich erzählen können, aber ich fürchte, daß sich nichts Befriedigendes sagen läßt, ausgenommen über das Körperliche. Ich habe es gut, und ich wachse stark. Du wirst vielleicht sagen, wenn das Alles sei, verlohne es sich nicht zu leben. Das denke ich auch, aber mein Leichtsinn macht alle meine guten Vorsätze zu nichte. Ich möchte wünschen, man könnte mein Blut verhindern, so überaus schnell zu cirkulirens und ihm einen regelrechten Umlauf in bestimmterem Takte geben. Ich habe versucht, ob die Musik nicht diese Wirkung |114| auf mich üben könne; ich spiele Adagios, Largos, welche dreißig Kardinäle in Schlaf lullen könnten. Die ersten Takte gehen vortrefflich, aber ich weiß nicht, durch welche Magie die so langsamen Melodien zuletzt immer ins Prestissimo hinüber eilen. Es geht mir eben so mit dem Tanze, die Menuet endigt immer mit Bockssprüngen. Ich glaube, liebe Großmutter, daß das Böse unheilbar ist und daß es selbst der Vernunft widerstehen wird; ich müßte doch schon einen Funken von Vernunft haben, denn ich bin zwölf Jahr und einige Tage alt; aber ich spüre Nichts von ihrer Herrschaft. Wenn ihre Morgenröthe so schwach ist, wie stark wird sie dann bei fünfundzwanzig Jahren sein?
»Weißt Du, liebe Großmutter, daß ich zweimal wöchentlich in Gesellschaft gehe? Ich habe einen schönen Rock an, den Degen an der Seite, den Hut unterm Arm, die eine Hand auf der Brust, die andere an der Hüfte. Ich halte mich gerade und spiele den großen Jungen, so gut ich es vermag. Ich sehe, ich höre, aber bis jetzt kann ich nicht sagen, daß ich die Erwachsenen um ihre Vergnügungen beneide. Sie sehen Alle aus, als hielten sie just nicht allzu viel von einander. Indessen — das Spiel und das Gold, welches ich rollen sehe, verursacht mir einige Gemüthsbewegung. Ich möchte gewinnen aus tausend Ursachen, welche die Anderen Launen und Grillen nennen.«
Was soll man sagen zu dieser Grazie ohne Wärme, |115| zu diesem schmeichelnden Verstande, zu dieser Blasirtheit von der Geburt an, welcher nur das rollende Gold einige Gemüthsbewegung verursacht? Man ahnt den künftigen Spieler. Man fragt sich selbst, ob dieser Mann nicht mit einem gewissen Rechte wird von sich sagen können, was Andere mit weniger Recht von sich gesagt haben, nämlich daß er niemals ein Kind gewesen sei. Man fühlt, wie alt er geboren ist, wie sehr er zu jeder Zeit über alle Gemüthsbewegungen hinaus sein, und wie starker Gemüthserschütterungen er bedürfen wird; man ahnt jene merkwürdige Mischung von Sensibilität und Egoismus in seinem Charakter, jenes Vermögen, sich seiner selbst zu entäuszern, sich zu verdoppeln und sich selbst zu verspotten.
Es ist derselbe Charakter, der bei dem Jüngling zu Ausbrüchen wie diesem führen wird: »Ich amüsire mich über all’ diese Verlegenheiten, in denen ich mich befinde, als wären es die eines Andern,« oder zu Constant’s Lieblingsphrase, wenn er in Zorn gerieth: »Ich bin wüthend, ich verliere den Verstand vor Wuth, aber im Grunde ist mir das Ganze höchst gleichgültig.
Es ist derselbe Mann, der, als er eine Bittschrift an Ludwig XVIII gerichtet hatte, worin er seinen Abfall zur Sache Napoleon’s in den hundert Tagen entschuldigte und den König seiner stets unveränderten Loyalität gegen die Bourbonen versicherte, Abends in einer Gesellschaft dem, welcher ihm die Nachricht brachte, daß man ihm |116| verziehen und daß seine Bittschrift den König überzeugt habe, die goldenen Worte zur Antwort gab: »Das glaub’ ich, sie hätte mich fast selbst überzeugt.«
In erotischen Dingen beginnt er als ein wahrer Cherubin, und er beginnt frühe. Mit zwanzig Jahren sagte er: »In meiner Jugend, als ich sechzehn Jahre alt war.« Und er flattert von einer Frau zur andern. Zuerst verläßt er Madame de Charriere, um sich zuverheirathen, dann wird er von seiner Gattin geschieden, dann lernt er Frau von Staël kennen, dann verheirathet er sich wieder — mit einer Andern.
Die Damen gaben ihm den Namen »L’inconstant«. Die Rolle, welche die Frauen in seiner politischen Laufbahn gespielt haben, ist außerordentlich. Sie haben ihn veranlaßt, all’ seine Fehler zu begehen. Es war eine Frau, Frau von Staël, die ihn bewog, jene seine ersten Aufsätze während der Revolution zu schreiben, welche als royalistisch ausgelegt wurden, und welche er bitter bereute. Es war eine andere Frau, Madame Recamier, die ihn bewog, gleich nach der Rückkehr Napoleons mit einer Heftigkeit gegen denselben aufzutreten, welche seinem Anschlusse an den Kaiser den Charakter eines Verrathes gab. Sein erstes bekannteres Verhältnis ist das zu Madame de Charrière, einer vorzüglichen Schriftstellerin; sie war, beiläufig bemerkt, fünfundzwanzig Jahre älter, als er. Im Umgange mit ihr begann er, an demselben Tische sitzend, an welchem sie schrieb, sein großes Werk |117| über die Religion, welches den religiösen Geist wieder in Frankreich einführen sollte. Dreißig Jahre später beendigte er es in der Zeit, welche die Rednerbühne in der Kammer und die Spielhäuser in Paris ihm für Arbeiten anderer Art übrig ließen. Aber jetzt, in seinem zwanzigsten Jahre, ward es begonnen. Und symbolisch und charakteristisch genug: den ersten Abschnitt schrieb er auf der Rückseite eines Kartenspiels, und so oft er eine Karte vollgeschrieben hatte, schob er sie Madame de Charriere hin.
Wie der Haupteindruck von »Adolphe« der Herzensseufzer ist: »Könnte ich doch lieben!«, so ist der Eindruck des Werkes über die Religionen der: »Könnte ich doch glauben!«
Man studire ihn in seiner Jugend, während er noch den Menschen offenbart, noch nicht seine Rolle spielt, und man wird sein religiöses Gefühl in seiner ursprünglichen und echten Form erfassen können. Er schreibt als junger Mensch in einem Briefe an eine Freundin:
»Ich fühle mehr, als jemals, die Richtigkeit aller Dinge, wie Alles verspricht und Nichts hält, ich fühle, wie sehr unsre Kräfte über unsern Verhältnissen stehen, und wie unglücklich dies Mißverhältnis uns machen muss. Sollte nicht Gott, der Urheber unserer selbst und unsrer Umgebungen, gestorben sein, ehe er sein Werk beendet hat, so daß die Welt eigentlich ein opus posthumum ist? Er hatte die schönsten und größten Weltprojekte |118| und die größten Mittel, sie auszuführen. Er hatte schon mehrere dieser Mittel in Bewegung gesetzt, wie man Gerüste errichtet, um zu bauen, und mitten in dieser Arbeit ist er gestorben. Jetzt ist solchermaßen Alles mit Rücksicht auf einen Zweck ausgeführt, der nicht mehr existirt, und wir insbesondere, wir fühlen uns zu Etwas bestimmt, wovon wir uns keine Idee machen können. Wir sind wie Uhren, denen das Zifferblatt oder der Zeiger fehlt, und deren Räder, denen es nicht an Intelligenz gebricht, sich drehen, bis sie ausgeschlissen sind, ohne zu wissen weshalb, und stets murmelnd: Ich drehe mich, also habe ich einen Zweck. — Leben Sie wohl, liebes und geistreiches Rad, welches dass Unglück hat, so hoch über dem Uhrwerk zu stehen, von dem Sie ein Theil find, und das Sie stören! Ohne Eigenlob: Das ist auch mein Fall.«
An einer anderen Stelle sagt er: »O wie die Fürsten edelmüthig und hochherzig sind! Da haben sie nun wieder eine Amnestie erlassen, von welcher Niemand ausgeschlossen ist, als alle Die, welche sich des Ausruhrs schuldig gemacht haben. Das erinnert mich an einen Psalm, welcher die Thaten des jüdischen Gottes verherrlicht. Er hat Die und Die erschlagen, denn seine Güte währet ewiglich; er hat Pharao und sein ganzes Heer ersäuft, denn seine Güte währet ewiglich; er hat alle Erstgeburt der Aegypter mit dem Tode gestraft, denn seine Güte u. s. w., u. s. w.«
»Sie scheinen mir nicht demokratisch zu sein. Ich |119| glaube, wie Sie, daß aus dem Grunde der Seele der Revolutionsmänner Arglist und Raserei lauert. Aber ich liebe mehr die Arglist und Raserei, welche Festungen schleift und Titel und andere dergleichen Dummheiten abschasst, und welche all’ die religiösen Träumereien aus gleichen Fuß mit einander stellt, als die Art Arglist und Raserei, welche jene elende Mißgeburt der barbarischen Stupidität der Juden, die auf die barbarische Unwissenheit der Vandalen gepfropft ist, erhalten und kanonisiren will.«
»Je mehr man darüber nachdenkt, desto mehr giebt man es auf, ein »cui bono?« in dieser Dummheit, welche man die Welt nennt, zu begreifen. Ich verstehe weder den Zweck, noch den Architekten, noch den Maler, noch die Figuren in dieser laterna magica, von welcher ich einen Theil zu bilden die Ehre habe. Werde ich’s besser verstehen, wenn ich von dieser engen und finsteren Kugel verschwunden bin, aus der, ich weiß nicht, welche unsichtbare Macht sich den Spaß macht, mich mit oder gegen meinen Willen tanzen zu lassen? Das weiß ich nicht. Aber ich fürchte, es verhält sich mit diesem Geheimnisse wie mit dem der Freimauerei, das nur in den Augen der Uneingeweihten einen Werth hat.«
Wir ahnen, welcher Hintergrund von Skepsis hinter allem Enthusiasmus Constant's liegt.
Diese Worte passen gut zu demselben Manne, der in einem seiner Briefe über Deutschland sagt: »Ich |120| schenke Ihnen alle komischen und lyrischen Dichter Deutschlands; denn ich kümmere mich nicht um Poesie, weder in dieser Sprache noch in irgend einer andern.«
Aber es ist auch derselbe Mann, der, als er 1830 von einem seiner Freunde einen Brief erhielt, in welchem geschrieben stand: »Hier spielt man ein fürchterliches Spiel, unsere Köpfe sind in Gefahr, kommen Sie und bringen Sie uns den Ihren!« augenblicklich kam.
Constant pflegte zusagen, er meine, daß keine Wahrheit vollständig sei, so lange man nicht ihren Gegensatz in sie aufnehme. Das gelang ihm nur allzu sehr, deshalb war er, trotz all’ seiner edlen Triebfedern und alles hochherzigen Aufschwungs, tiefst innen eine Ruine. Er hat die traurige Ehre, denvollständigsten Typus jener Art widerspruchsvoller Naturen darzustellen: er ist zugleich aufrichtig und verlogen, beredt und trocken, warm und ausgebrannt, romantisch und antipoetisch, nicht festzuhalten.
Jetzt lese man »Adolphe« und die Aphorismen in Kierkegaards »Entweder - Oder«!
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