Wer in der Literaturgeschichte den Typus eines bestimmten Zeitraums von einer Variation zur anderen begleitet, verfährt wie der Naturforscher, welcher die Umbildung einer und derselben Grundform, z. B. des Armes zum Beine, zur Pfote, zum Flügel, zur Flosse, durch verschiedene Arten im Thierreiche hindurch verfolgt. Die nächste Variation des Grundtypus, auf welche ich aufmerksam machen will, ist Benjamin Constant’s »Adolphe«. Adolphe ist weniger glänzend als René, weniger resignirt als Obermann, aber er schildert dasselbe unruhige, unentschlossene Geschlecht. Auch er ist ein Sproß der Werther-Familie, aber er ist ein Kind des Zeitalters der Enttäuschung, wie René.
»Adolphe« gehört, wie »René« und »Obermann«, der Emigrantenliteratur an. All’ diese Bücher, welche der Gefühlsrichtung nach in Rousseau’s Spuren gehn, stehen im schärfsten Gegensatze zu dem Regimente in Frankreich. Was in Paris herrscht, ist die Zahl und der Säbel, in der Literatur der klassische Odenstil und die exakte Wissenschastlichkeit. Hier dagegen Gefühle, Träume, Schwärmereien und Reflexionen.
|94| »Adolphe« gehört ferner bis zu einem gewissen Grade der Reaktionsliteratur an. Es läßt sich manche Parallele zwischen Chateaubriand und Constant ziehen. Jener ist blendend und Dieser fein geschliffen; aber es drängen sich viele Analogien auf. Constant’s Buch über den Geist der Religionen entspricht, obschon es ungleich freisinniger und aufgeklärter ist, ganz und gar dem Buche Chateaubriand’s über den Geist des Christenthums. Die ersten Abschnitte desselben, welche ganz in der Weise des achtzehnten Jahrhunderts geschrieben sind, entsprechen der Schrift Chateaubriand’s über die Revolutionen. Aber was in diesem Punkte allen Führern der reaktionären Richtung eigenthümlich ist, tritt auch bei Constant hervor.
Chateaubriand ruft jeden Augenblick aus: »Alles ist mir gleichgültig, ich glaube an Nichts«; meistens fügt er pflichtschuldigst hinzu: »ausgenommen in der Religion,« zuweilen vergißt er es. Die Form, unter welcher bei Constant die Religion empfohlen wird, ist gleichfalls eine solche, unter welcher die Religionslosigkeit hervorschimmert, und hinter derselben eine tiefe Melancholie. In »Adolphe« finden wir folgende Stelle: »Was mich überrascht, ist nicht, daß der Mensch einer Religion bedarf; was mich wundert, ist, daß er sich jemals stark genug, hinlänglich geschützt vor dem Unglück fühlt, um den Muth zu haben, irgend eine zu verwerfen: er müßte, dünkt mich, in seiner Schwäche geneigt sein, die |95| Hülfe aller anzurufen; denn giebt es in der dichten Finsternis, welche uns umhüllt, einen Lichtschimmer, den wir könnten zurückstoßen wollen? Giebt es inmitten des Wirbels, der uns mit sich fortreißt, einen Ast, an den uns fest zu klammern wir wagen sollten uns zu weigern?«
Man sieht, er ist sicherer davon überzeugt, daß der Wirbel, als daß der Ast vorhanden ist. Die Erklärung liegt nahe. Nach der Voltaire’schen Verstandesperiode war eine nothwendige Reaktion vorzunehmen, diejenige, welche Rousseau in ihrem Princip angegeben hatte, die Reaktion des zurückgedrängten, des nie befragten und stets überhörten Gefühls. Es galt, das harmonische Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Vermögen und Kräften der Menschenseele wieder herzustellen, welches durch die absolute Alleinherrschaft des kritischen Verstandes gestört worden war. Aber da die Revolution, und das heißt in diesem Falle die Aktion, kein Maaß gehalten hatte, wie ließ sich erwarten, daß die Reaktion Maaß halten oder sich auf Das beschränken würde, wofür sie mit vollkommener Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit kämpfen konnte! Voltaire war nicht blos kritisch gewesen, sondern war, durch die Ungunst der Zeiten genöthigt, polemisch geworden. Es galt für ihn; mit allen Waffen, selbst mit vergifteten, die rein äußere, rein brutale Autorität zu vernichten, welche zu seiner Zeit den geistigen und materiellen Fortschritt hinderte, ja unmöglich machte. Jetzt waren all’ jene Autoritäten |96| gestürzt und das Geschlecht sehnte sich nach einer Autorität. Es giebt innere Autoritäten. Das Wahre, das Rechte, das Gute sind solche Autoritäten. Aber da die Menge nicht hoch genug entwickelt war, um sich mit dergleichen zu begnügen oder sich unter derlei freien äußeren Institutionen zufrieden zu fühlen, welche ohne Berufung auf eine der Vernunft nicht sichtbare Macht nur diese Ideale verwirklichen wollten; da man endlich erfahren hatte, welcher Mißbrauch sich mit all’ jenen reinen Vernunftsprincipien, wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, treiben ließ, so war es natürlich, daß nicht blos jeder Einzelne in der Masse sein Haupt hinstreckte, um jedes kraftvolle äußere Joch auf sich zu nehmen, welches zu gleicher Zeit die Anderen wie ihn selber in Zucht hielt, sondern daß auch die Begabtesten der Mehrzahl nach dahin gelangten, als Vorkämpfer für theils geistliche, theils weltliche Autoritäten aufzutreten, welche sie selbst nur des Princips halber unterstützten, aber mit halbem oder gar keinem Glauben und mit stets schwankender Zuversicht. Schwankend war die Zuversicht aus dem einfachen Grunde, weil es für sie als echte und wirklich hervorragende Söhne des jungen neunzehnten Jahrhunderts unmöglich war, sich mit aufrichtigem Glauben an einen Stamm zu stützen, den ihre Väter zersägt hatten. Daher kommt es, daß Chateaubriand’s Glaube an die Legitimität eben so locker ist, wie Constant’s Glaube an die Religion im Allgemeinen. Man |97| fühlte sich unbehaglich zu Muthe. Das alte Haus war abgebrannt. Man hatte noch nicht begonnen, das neue zu errichten. Der Fehler war, daß man, statt dies kühn zu versuchen, sich in die Ruinen des alten Gebäudes flüchtete und dessen schlechtes, halb verbranntes Material zusammen zu flicken und wieder aufzumauern begann. Bei diesem Unternehmen fühlte man sich nun unaufhörlich zu Einsällen verlockt, die ganz außerhalb des Planes lagen; denn bald wurde man verlockt, zu völlig neuem Material zu greifen, das man mit dem alten vermengte, um dem Bau Festigkeit zu geben, bald stand man im Begriffe, die undankbare Arbeit, welche man vorhatte, gänzlich aufzugeben, und versetzte dann in der Verzweiflung den wieder errichteten zerbrechlichen Mauern einen Stoß, daß die Steine durch einander polterten. Keine Gruppe konservativer Schriftsteller hat wohl jemals eine leidenschaftlichere Polemik wider die Gesellschaft geführt, wie sie auf Grund der Ueberlieferung geordnet war, als eben die Schriftstellergruppe der Emigrantenliteratur. Der Kampf gegen die Gesellschaft ist denn auch das eigentliche Lebensprincip in Benjamin Constant’s Roman »Adolphe«.
»Adolphe« ist eine Liebesgeschichte. Aber er zeichnet nicht, wie andere Liebesgeschichten, die Liebe nur in ihrem ersten Erwachen im Morgenrothe der Illusionen, sondern er giebt, so zu sagen, ihre ganze Biographie, er schildert ihr Wachsthum, ihr Hinwelken, ihren Tod, ja, er ver|98|folgt sie bis jenseits des Grabes und zeigt, in welcherlei Gefühle sie sich verwandelt.
So ist »Adolphe«, mehr noch als »René«, die Poesie der Enttäuschungen und des Selbstbetrugs. Es ist die Blüthe des Lebens selbst, welche hier ihrer Blätter, eines nach dem andern, beraubt und auf das Sorgfältigste botanisirt wird. In dieser Hinsicht bildet das Buch den schärfsten Kontrast zu »Werther«. Im Vergleich mit demselben erscheint »Werther« durchaus naiv. Die Blume, deren Duft für Werther ein tödtliches Gift wird, zupft Adolphe kaltblütig auseinander.
Das Kostüm ist noch ein Mal gewechselt; der blaue Rock und die gelbe Weste verschwinden vor unsrer trübseligen, farblosen schwarzen Tracht und ihrem Leichenbitteraussehen.
Aber der Enthusiasmus, welcher den Mann verläßt, bleibt bei der Frau. »Adolphe« ist der »Werther« der Frauen. Die Krankheit des Jahrhunderts hat hier einen neuen Schritt gemacht. Sie hat sich vom Manne auf die Frau ausgebreitet. In »Werther« war der Mann krank, traurig, verzweifelt. Aber Charlotte steht gesund, fest und unangefochten da, andererseits freilich ein bischen kalt und unbedeutend. Jetzt ist die Reihe an sie gekommen, jetzt ist sie es, welche liebt und verzweifelt.
Das Geschlecht junger Männer ist erstanden, welches den Wahlspruch im Munde führt: »Laßt die Greise |99| lieben! Wir Jungen, wir, die auf den Galeeren des Ehrgeizes rudern, haben keine Zeit, keine Lust, keine Gemüthsruhe dazu.« Derselbe Kampf, den Werther im Namen seiner Liebe gegen die Gesellschaft führt, wird hier in »Adolphe« von Eleonore gekämpft. Und das Resultat ist eben so tragisch. So wird dieser Roman das erste Vorbild für eine ganze nachfolgende Literatur, für die psychologischen Studien. Neu ist hier die Behandlungsart des Erotischen. Weit in der Ferne liegt die Zeit, da Amor, wie in Voltaire’s Dichtungen, in Gestalt des liebenswürdigen Kindes dargestellt wurde, das wir Alle aus Thorwaldsen’s Basreliefs kennen. Für Voltaire war Amor der Gott des Vergnügens, »1es ris, les jeux et les plaisirs« waren seine Begleiter. Für Rousseau war er der Gott der Leidenschaft. Bei Goethe wird er noch viel minder als ein wohlthuender Dämon geschildert; man versteht, wenn man Goethe liest, recht gut, was Schopenhauer meinte, als er schrieb, daß Amor, überall seinem eigenen Willen folgend, keine Rücksicht auf das Unglück des Individuums nimmt. In »Faust«, dem hervorragendsten Gedichte der neuen Zeit, ist Amor aus einem schalkhaften Kinde in einen großen Verbrecher verwandelt. Faust und Margarete lieben einander, das will sagen: Faust verführt Margarete und verläßt sie, und Gretchens Liebesaffaire bringt ihrer Mutter, ihrem Bruder, ihrem Kinde und ihr selber den Tod. Denn sie, das schuldlose und liebenswürdige |100| Mädchen, tödtet ihre Mutter durch den Schlaftrunk, den sie ihr eingiebt, damit Faust sie Nachts besuchen kann; Faust und Mephistopheles im Verein stoßen ihren Bruder nieder, als er die Ehre der Schwester rächen will. Aus Furcht vor der Schande tödtet Gretchen ihr neugeborenes Kind, dann wird sie ins Gefängnis geworfen und hingerichtet. Goethe’s Leidenschaft für das Wahre hat ihn hier dahin geführt, ein anderes Bild von Amor zu geben, als das, auf welchem man ihn als Knaben im Rosenfranze der Grazien erblickt. Und nicht blos in ihren Folgen, sondern in ihrem Wesen ist die Liebe bei Goethe unheilschwanger und schicksalbestimmt. In den »Wählverwandtschasten« hat er die geheimnisvollen und unwiderstehlichen Sympathien und Antipathien studirt, von welchen die gegenseitige Anziehung der Seelen bestimmt wird, wie die der Stoffe in der Chemie. Dies Buch enthält eine Art naturphilosophischer Betrachtung der Leidenschaft; Goethe weist ihr Entstehen, ihre magische Gewalt als dunkle Naturkräft, ihren Grund in den unbewußten Tiefen unserer Seele nach. Goethe hatte also den Versuch gemacht, die Sympathie als Liebe zu verstehen, indem dieselbe mit der Sympathie, wie wir sie außerha1b der Menschenwelt vorfinden, parallelisirt wurde; aber es war noch ein Schritt zu thun. Man hatte die Liebe in eine große Synthese eingeschlossen; der nächste Schritt war, daß man sich daran machte, sie selbst zu analysiren. Diese Aufgabe fiel jenem reflektirenden, un|101|ruhigen, nach allen Seiten umherspähenden Geschlechte zu. Wie verschieden man auch bisher die Liebe, ihre Ursachen und ihre Folgen aufgefaßt hatte, in Einem war man einig gewesen, nämlich darin, die Liebe als etwas Gegebenes, Etwas, das man kannte, d. h. als etwas Einfaches anzusehen. Erst jetzt begann man, sie als etwas Zusammengesetztes zu betrachten und den Versuch zu machen, sie in ihre Elemente aufzulösen. In »Adolphe« und in der ganzen Literatur, welche sich an dies Buch anschließt, wird genau darauf gemerkt, wie viel’ Theile, wie viele Gran Freundschaft, Hingebung, Eitelkeit, Ehrgeiz, Bewunderung, Achtung, sinnlicher Anziehung, Illusion, Einbildung, Täuschung, Haß, Ueberdruß, Enthusiasmus, verständiger Berechnung u. s. w. bei jedem der beiden Betreffenden in dem mixtum compositum, das sie ihre Liebe nennen, enthalten sind. Durch eine solche Analyse verlor sie ihren übernatürlichen Charakter und hörte auf, vergöttert zu werden. Statt ihrer Poesie erhielt man ihre Psychologie. Es ging, wie, wenn man das Fernrohr auf einen Stern richtet, seine Strahlen verschwinden, man sieht nur den astronomischen Körper; aber wo man früher im Mondenlichte nur eine helle und glänzende Scheibe mit stets unveränderter Fläche sah, dort gewahrt man jetzt eine Mannigfaltigkeit von Bergen und Thälern. In dem Momente, wo man wirklich das Gefühl erkennen wollte, richtete sich die Aufmerksamkeit nothwendiger Weise viel |102| minder aus sein erstes Erwachen, das alle Dichter der Erde von Alters her besungen und verherrlicht hatten, als aus Das, was später geschah, seine Dauer, sein Aufhören. In den Tragödien, welche bei den verschiedenen Völkern gleichsam die Hymnen dieser Völker aus die Liebe sind, folgt der Tod der Liebenden rasch auf das erste Erblühen der Liebe. Romeo erblickt Julien, sie beten einander an, und nachdem sie einige Tage und Nächte im siebenten Himmel verbracht haben, liegen sie Beide als Leichen da. Die Frage der Treue für die Dauer bleibt noch ganz aus dem Spiele. In unsrer dänischen Liebes-Tragödie »Axel und Walburg« scheint freilich von nichts Anderem als Treue die Rede zu sein. Das Stück hat ja die lange Verlobung der Liebenden zur Voraussetzung, und ist eben dadurch so national. Aber »Axel und Walburg« behandelt die Treue während der Trennung, nicht die Treue im Beisammenleben. Die Treue ist hier die äußere, das Festhalten des liebenden Herzens an seinem Gegenstande, und nach der inneren, nach dem Festhalten des Herzens an seiner Liebe, wird gar nicht gefragt. Die erste ist dem Herzen natürlich, ja nothwendig, die andere vermag das Herz nicht durch einen Beschluß zu bewahren; sie wird unfreiwillig bewahrt und aufgegeben. Das Problem von den Bedingungen der Treue taucht jetzt in der Literatur auf. Unter welchen Bedingungen ist die Leidenschaft von Dauer, unter welchen nicht? Constant hat einen Roman |103| über dies Thema geschrieben, welcher Kierkegaards Beifall gefunden haben würde. Hier sind nur zwei Personen und nicht der geringste Aufwand an Scenerie. Alles vollzieht sich nach inneren Gesetzen, und der Leser beobachtet den Verlauf der doppelten Seelengeschichte bis zu ihrem Ende aus dieselbe Art, wie der Zuschauer bei einem naturwissenschaftlichen Experimente die Gährung der im Gefäß eingeschlossenen Stoffe und die Resultate dieser Gährung wahrnimmt.
Wer sind nun diese beiden Personen?
Zuerst und zuvörderst, wer ist er? Wir kennen schon einigermaßen den Helden. Er ist noch sehr jung, in den ersten Jünglingsjahren, aber wie Reue und Obermann ist er frühzeitig gealtert. Es lastet auf ihm eine Unzufriedenheit, die er wie eine Kugel am Beine nachschleppt. Wie die Anderen gehört er zu der Generation jener Söhne, denen ihre Väter keine That zu vollbringen hinterlassen haben. Obschon er niemals geistig gesättigt worden, ist er doch nicht hungrig; obschon er Nichts erlebt hat, ist er über Alles hinaus.*)*
Das Zukünftige hat kein Interesse für ihn, denn er hat in seiner Phantasie Allem vorgegriffen, und das Vergangene hat ihn alt gemacht, denn «er hat in seinen Gedanken mehrere Jahrhunderte gelebt. Er hat alles Mögliche begehrt, aber er hat Nichts ernstlich gewollt; je ohnmächtiger er |104| sich fühlt, desto größere Dimensionen nimmt seine Eitelkeit an; denn Eitelkeit ist überall das Material, womit die Kraft- und Willenslosen vergebens die Lücken ihres Willens oder ihres Talents auszufüllen suchen. Er wünscht zu lieben und geliebt zu werden, denn er will die Liebe als einen Stärkungstrank für sein Selbstgefühl benutzen. Er will eine kräftigere Empfindung seines Werthes erzielen. Er will steigen in seinen eigenen und in den Augen der Andern. Er erstrebt nicht ein verborgenes oder umfriedetes Glück; er sehnt sich, eine Eroberung zu machen, der Glückliche genannt zu werden, Aussehen und Neid zu erregen durch einen in die Augen fallenden Triumph und Skandal. So erhält er zum ersten Male Verwendung für seine Kräfte, und das Glück der Liebe wird für ihn das Glück, endlich einmal seinen Willen zu fühlen, indem er einen anderen Willen unter den seinigen beugt.Und wer ist nun sie? Ein ganz neuer weiblicher Typus tritt hier in der Literatur auf, ein Typus, welchen der große Romanschriststeller Balzac später sich aneignet und mit einem solchen Bewußtsein von dem typischen Charakter desselben und mit solcher Genialität variirt, daß er als sein Schöpfer gelten kann, — ein Typus, der von ihm her in die dramatische Poesie übergeht und das ganze moderne französische Theater beherrscht, der aber am besten mit dem Namen benannt wird, den er bei Balzac empfangen hat: die Frau von dreißig Jahren.
|105| Das kraftvolle prometheische Geschlecht, dem Goethe angehörte, hatte seinen kräftigen Typus in »Faust« hervorgebracht, dem entwickelten Manne, dem hochbegabten Geiste, der, nachdem er alle Studien erschöpft, alle Wissenschaften durchforscht hat, auf der Höhe des Mannesalters eine Leere in seinem Herzen, einen Durst nach Jugend, Frische und Naivetät empfindet, sich ins Leben hinausstürzt und sich in ein Kind verliebt. Es ist ihre Einfalt und Unschuld, die ihn besiegt und berauscht, und die er an sich reißen will.
Das unglückliche Geschlecht von Verirrten und Verbannten, von Heimatslosen und Emigranten, dem Constant angehört, verkörpert seine ideale Persönlichkeit in einem Typus wie Adolphe, welcher, alt von der Wiege an, kalten und trockenen Herzens, bei all seinem Mißmuthe begehrlich und ehrgeizig, aber ein reines Kind an Alter und Erfahrung, in der Liebe starke sinnliche Aufregungen und erschütternde Eindrücke, Kenntnis des Lebens, der Leidenschaften und des weiblichen Herzens, Kämpfe und Gefahren, kurz Ueberlegenheit beim Weibe sucht. Eine solche Ueberlegenheit findet man nicht bei dem ganz jungen Mädchen, das unter den Augen ihrer Mutter in einem bürgerlichen Hause herangewachsen ist. Der Triumph, sie zu besiegen, gewährt keine Befriedigung. Aber mit dieser Ueberlegenheit des Weibes an Alter und Erfahrung ändert sich der Charakter des ganzen Gefühls und des ganzen Verhältnisses; denn die herkömmliche |106| Schilderung setzte ja immer voraus, daß die Frau einige Jahre jünger als der Mann war. Die kindliche und unschuldige Auffassung war die, daß die Liebe zwei Wesen vereinte, welche im Voraus so für einander bestimmt waren, daß er nur Liebe empfand, wenn er sie erblickte, und sie nur, wenn sie ihn erblickte. Erschien dieser Augenblick, dann liebten sie einander glücklich und ungestört für das ganze Leben. Und es verstand sich von selbst, daß die Vorsehung, welche sie für einander ausschließlich geschaffen und dafür gesorgt hatte, daß sie einander zur rechten Stunde begegneten, auch dafür sorgte, daß all’ die verschönernden kleinen Nebenumstände ästhetisch in Ordnung waren, wie z. B. daß das Altersverhältnis gut und harmonisch, die Braut ein paar Jahre jünger als der Bräutigam, kurz Alles ganz nach der Vorschrift war. Von dem Augenblicke an, wo einer der Haupttypen in der Literatur eine Liebhaberin wird, die um mehrere Jahre älter als ihr Liebhaber ist, tritt in der Auffassung des Gefühls eine Revolution ein. Wir finden den großen Abstand überall wieder: in Balzac’s Romanen, z. B. in »La femme de trente ans« in »La femme abandonnée«, in »Le message«, bei George Sand in so verschiedenartigen Werken wie »Francois le Champi« und »Lucretia Floriani«, und das Altersverhältnis war von derselben Art bei den zwei berühmtesten Schriftstellerpaaren in der neueren französischen Literatur, bei Frau von Staël und Benjamin |107| Constant, bei George Sand und Alfred de Musset. Der Unterschied des Alters stürzt die Auffassung der Liebe als Gesellschaftsmacht um. Die Leidenschaft scheint, indem sie zwei einander so ungleiche Wesen verknüpft, etwas minder Geordnetes, minder Regelrechtes und minder Glückliches, aber mehr Vorübergehendes zu sein. Sie läßt sich nicht mehr mit dem Vorspiel zu einer bürgerlichen Hochzeit verwechseln. Sie scheint unter gewissen Bedingungen zu entstehen, wenn die Bahnen zweier Wesen von einer gewissen Beschaffenheit einander kreuzen oder schneiden, und sie scheint kein Bild einer großen Harmonie des Seins zu gewähren.
Da jedoch von jetzt an die Frau im Kampfe mit der bestehenden Gesellschaft geschildert zu werden beginnt, und da sie diesen Kampf nicht in ganz jungen Jahren führen kann, so wird, wie gesagt, das junge Mädchen als Heldin von der entwickelten Frau abgelöst. Mit vollem Ernste bemächtigt sich die Literatur dieses weiblichen Typus freilich erst bei Balzac. Es mußten drei große Ereignisse vorhergehen: der Saint-Simonismus mit seinen humanistischen Tendenzen, die Julirevolution, welche eine gewisse Etikette in der Lage und Stellung der Frauen nachhaltig erschütterte, und George Sand’s Auftreten; denn die geschichtliche Rolle George Sand’s besteht darin, daß sie auf eigene Hand denselben Freiheitskampf für die Frau zu führen bestrebt war, zu welchem die Revolution von 1789 für den Mann allein den |108| Anstoß gegeben hatte. Die Revolution führte zu einem Gesetzbuche, dessen erster Paragraph lautet: »Alle Franzosen sind gleich vor dem Gesetze«, aber dieser Paragraph vergißt ganz die Französinnen. Die Sache der Frauen kam zur Sprache in der Literatur. Man hat die dreißigjährige Frau Balzac’s Erfindung genannt; aber mit Unrecht er that nur einen Fund. Sie hatte lange unter ihrer zurückgesetzten und verlassenen Stellung geseufzt; im Alter der Leidenschaften hatte man ihr die Resignation anbefohlen, sie hatte lange auf ihren Maler oder ihren Dichter gewartet; als sie und Balzac jetzt einander fanden, war ihre Begegnung wie ein elektrischer Stoß. Er entdeckte eine bisher unbekannte Welt, in welcher alle Gefühle, Leidenschaften und Gedanken einen kräftigeren Charakter hatten, als in dem ganz jungen Herzen. Und gleichzeitig bildeten seine Heldinnen ihm ein Publikum, ein auserwähltes Publikum trotz ihrer leichten Runzeln, ein dankbares Publikum, das sich freute, nicht mehr übersehen zu werden, und das wieder dadurch auflebte, daß es ein neues Interesse gewann, ein Publikum endlich, das ernstlich den Ruhm seines Dichters kolportirte. Weshalb? Ganz einfach, weil es unendlich viel mehr Frauen von dreißig als von zwanzig Jahren giebt, welche lesen. Diese Frauen usurpirten jetzt den Roman und den Schauplatz der Bühne in solchem Maasse, daß der Typus sich sogar in Scribe’s Theater eindrängte. Wir haben ihn bei uns in dem »Damenkampfe« gesehen.
|109| Ich pflege bei jedem Typus zugleich seine Karikatur zu schildern. Ich erwähnte die Zerrform der Selbstvergötterung bei »René«, die der Empfindelei bei »Werther«, die der Verkennung bei »Obermann«. Die Karikatur der Frau von dreißig Jahren bei Balzac ist die Frau von vierzig Jahren bei seinen Nachahmern. Es kam ein Tag, wo die Kritik sich bitter darüber beklagte, Jugend und Schönheit in der poetischen Literatur entthront zu sehen. Jules Janin formulirte in seiner leichten Art diese Klage in Gestalt einer Anklage wider Balzac, den er beschuldigt, die Ursache an all’ jenen Liebschaften zu sein, auf welche die Frauen nach ihrem dreißigsten Jahre verfallen. Er nennt ihn den Christoph Columbus der vierzigjährigen Frau. »Die Frau von dreißig bis vierzig Jahren,« sagt er, »war früher ein Territorium, das als verloren für die Passion, d. h. für den Roman und das Drama, galt; aber heut zu Tage, Dank der Entdeckung jener lachenden Gefilde, herrscht die vierzigjährige Frau allein in Drama und Roman. Diesmal hat die neue Welt ganz die alte Welt unterdrückt, und die Frau von vierzig Jahren besiegt das junge Mädchen von sechzehn.
»Wer klopft? ruft das Drama mit seiner tiefen Stimme. Wer ist da? schreit der Roman mit seiner hohen Fistel. Ich bin es, antwortet zitternd das sechzehnte Jahr mit seinen Perlenzähnen, feinem Busen von Schnee, mit seinen weichen Linien, seinem frischen |110| Lächeln, seinem sanften Blick. Ich bin es. Ich stehe in dem Alter wie Junie bei Racine, Desdemona bei Shakspeare, Agnes bei Molière, Zaire bei Voltaire, Manon Leseaut beim Abbé Prévost, Virginie bei Saint-Pierre. Ich bin es, ich habe dasselbe liebliche, flüchtige, bezaubernde Alter, wie alle jungen Mädchen bei Ariost, bei Lesage, bei Byron und Walter Scott. Ich bin es, ich bin die Jugend, welche hofft, welche unschuldig ist, welche ohne Furcht einen Blick, schön wie der Himmel, in die Zukunft wirst. Ich habe das Alter aller keuschen Neigungen, aller edlen Instinkte, das Alter des Stolzes und der Unschuld. Weist mir meinen Platz an, lieber Herr! So spricht das liebliche Alter von sechzehn Jahren zu den Romanschriftstellern und Dramendichtern; aber sofort antworten Romanschriftsteller und Dramendichter: Wir sind mit Deiner Mutter beschäftigt, Kind; komm nach zwanzig Jahren wieder, und wir wollen sehen, ob wir Etwas aus Dir machen können.
»Es giebt jetzt in Drama und Roman Nichts anders, als die Frau von dreißig Jahren, welche morgen vierzig Jahre alt werden wird. Sie allein kann lieben, sie allein kann leiden. Sie ist um so dramatischer, als sie keine Zeit mehr hat, zu warten. Was sollten wir mit einem kleinen Mädchen anfangen, das Nichts als weinen, lieben, seufzen, lächeln, hoffen und beben kann? Die Frau von dreißig Jahren weint nicht, sie schluchzt, sie seufzt nicht, sie wimmert, sie liebt nicht, |111| sie verzehrt, sie lächelt nicht, sie kreischt, sie träumt nicht, sie handelt! Das ist das Drama, das ist der Roman, das ist das Leben. So sprechen, handeln und antworten unsre großen Dramatiker und unsre berühmten Novellisten.«
Eine der begabtesten und geistvollsten Frauen der Neuzeit, Madame Emile de Girardin, vertheidigte Balzac und sagte sehr richtig: »Ist es Balzacs Schuld, daß das Alter von dreißig Jahren heut zu Tage das Alter der Liebe ist? Balzac ist genöthigt, die Leidenschaft zu malen, wo er sie findet, und heut zu Tage findet man sie nicht in einem sechzehnjährigen Herzen.« Wir sehen indeß, wie viel älter dieser weibliche Typus ist, als man später in Frankreich annahm, und um ihn ohne alle Verzerrung in seiner Reinheit und in seiner wahren Bedeutung zu verstehen, wollen wir ihn in seiner ersten Form studiren.
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