Die Emigrantenliteratur (1872)

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Im schärfsten Gegensatze zu dem selbst in der Verzweiflung und dem Ekel vor dem Leben so stolzen und gebieterischen René steht die nächste beachtenswerthe Variation des zeitalterlichen Typus, Obermann.

»Obermann«, ein Werk, das im selben Jahre wie René geschrieben ward, ist, ebenso wie dieses Buch, in der Verbannung, fast während eines Eremitenlebens, von einem leidenschaftlichen Atheisten, einem tief fühlenden Stoiker, Etienne de Senancour, verfaßt. Man könnte »Obermann« den französischen »Werther« nennen, er hat, was die Selbstmordsepidemie betrifft, in Frankreich eine ähnliche Rolle wie »Werther« in Deutschland gespielt; aber der Ausdruck ist irreleitend, denn »Obermann« enthält keine Liebesgeschichte. War René der Auserwählte, so ist Obermann der Uebergangene. Sein Geist ist eben so vielseitig, sein Gefühl eben so tief wie René’s, aber der Engel, welcher diesen berief, ist an ihm vorbei gegangen. In René erkennen die Herrschernaturen des Jahrhunderts sich selbst wieder, Obermann aber ist die Geschichte der Mehrzahl, d. h. nicht der vulgären, sondern der tiefbewegten und begabten Menge, welche gleichsam den Chor der auserwählten Geister bildet. Das |78| Buch beginnt mit den Worten: »Man wird in diesen Briefen Aeußerungen eines Geistes finden, welcher fühlt, nicht eines Geistes, welcher arbeitet.« Hierin liegt Alles. Warum arbeitet er nicht? Das ist schwer zu erklären. Am kürzesten lautet die Antwort: Weil er unglücklich ist.

Dies Buch ist für Unglückliche geschrieben. Wer Etwas erlebt und erfahren hat, wird eine große Anzahl jener Menschen gekannt haben, welche für die Schattenseite des Lebens geschaffen zu sein scheinen und nie dazu gelangen, in seinem Sonnenlichte zu wohnen. Das Glück geht an ihnen vorbei, und der vergeßlichen Fama, deren Gedächtnis mit Namen so überfüllt ist, fällt es immer so schwer, ihre Namen auszusprechen, daß sie todt scheinen, während sie noch leben. Meistens gelangen sie auch gar nicht auf den Schauplatz der Oeffentlichkeit. Es ist, wie Hamlet sagt, neben den vielen vortrefflichen Eigenschaften ein eigenthümlicher Fehler in ihrer Natur, welcher das Zusammenspiel der Theile hemmt. In der so fein komplicirten Uhr bricht jetzt eine kleine Feder, jetzt ein kleines Rad, und die Maschinerie steht für lange Zeit still. Wer ein noch so kleines Werk zur Welt befördert hat und seine Erinnerung zurück schweisen läßt, der weiß, welch eine fastunglaubliche Menge günstiger Umstände eintreten, welche Unglaubliche Zahl kleiner und großer Hindernisse er überwinden, wie genau er auf den Zeitpunkt achten, wie eifrig er die Gelegenheit und den Augenblick erfassen mußte, wie häufig er im Begriffe |79| stand, das Ganze aufzugeben, wie viele Anfälle von Hoffnungslosigkeit und Entmuthigung er besiegt hat, nur um dies geringe Ziel zu erreichen; das kleinste lebende, ans Licht geborene Werk zeugt von tausend Triumphen. Und welche Kombination von Umständen ist erforderlich, damit es dann nicht gleich nach der Geburt stirbt! Eine eben so große Zahl wie für einen lebenden Organismus. Das Werk muß gleichsam eine offene Stelle, eine Lücke finden, in welche es hinein paßt, das Interesse dafür darf nicht von anderen stärkeren Interessen durchkreuzt werden, die Strömung darf nicht nach entgegengesetzter Richtung gehen, das Talent nicht durch ein größeres überstrahlt werden. Es darf an nichts Früheres erinnern, es darf nicht zusälligerweise einem Andern ähnlich sein, und es muß doch in der einen oder anderen Art sich an ein schon Bekanntes anknüpfen und einem schon gebahnten Wege folgen. Es muß endlich in die rechte Beleuchtung kommen. Es giebt Werke, die, ohne weichlich zu sein, in der Beleuchtung, welche ein gleichzeiting Ereignis oder ein gleichzeitiges Literaturprodukt ihnen giebt, weichlich erscheinen. Es giebt Werke, welche sich altmodisch, welche sich dürftig und gleichsam verblaßt ausnehmen.

Man kann sagen, daß das Geheimnis des literarischen Erfolgs gewissen Naturen wie eine Art Zauber eigen ist.

Man blicke z. B. auf zwei gleich begabte Naturen; |80| wahre Silbernaturen könnte man sie nennen, und Jeder von ihnen hat außerdem als Zugabe sein kleines Goldkorn. Aber der Eine verbirgt sein Goldkorn als unscheinbares Pünktchen in der Silberbarre, der Andere überzieht die ganze Silberkugel damit, denn Ein Goldkorn reicht dazu aus; es zu benutzen verstehen, heißt Talent, und Talent ist ein anderes Wort für Glück.

Oder man trifft auf zwei Naturen von fast gleich edlem Metalle. Die eine gehört, so scheint es, zu den Auserwählten in den Augen der Welt, die andere zur Menge, und sieht man genauer zu, dann entdeckt man sogar mit Verwunderung, daß die reinste, die edelste dieser beiden Naturen diejenige ist, welche im Schatten stehen muß und bei Seite gedrängt wird. Aber bei näherem Studium begreift man, daß ein bischen unedles Metall, ein bischen Kupfer oder Erz, weit entfernt, der reinen Silbermünze zu schaden oder ihren Glanz zu schwächen, ihr Halt und Festigkeit giebt und ihren Umlauf ermöglicht. Das reine Silber wird eben is durch seine Reinheit uud Weichheit unbrauchbar.

Man wird also leicht begreifen, daß die angedeuteten Variationen der Menschennatur — bald ein allzu zarter und zusammengesetzter Charakter, bald ein allzu einförmiger, bald einer, der sich selbst zerbricht, bald einer, der von der ihn umgebenden Welt zerbrochen wird — eine Gruppe für sich allein bilden. Bald sind es ihre Mängel, bald sind es ihre Vorzüge, die ihnen |81| verderblich werden. Kann man sich etwas Unseligeres denken? Und doch kann man in Wahrheit sagen, daß selbst diese Hintangesetzten ihr Glück haben.

Sie fahren fort, mit sich allein, sie selbst zu sein, und in dieser Einsamkeit ihr ganzes Interesse zu bewahren. Kein Weihrauch steigt ihnen betäubend zu Kopfe, kein Ruhm entnervt sie; fehlen ihrer Blüthezeit die kräftigen, die glühenden Farben, welche nur der schmeichelnde Strahl des Sonnenlichtes hervorruft, so behält der Stamm länger seine Frische und seine Säfte. Die rauhe Strenge des Lebens stärkt ihre Natur. Sie genießen das Glück, unbekannt zu leben. Sie haben die Beruhigung, nie überschätzt, albern vergöttert und dann gleich nachher, wie es immer zu gehen pflegt, verlassen, ja verhöhnt zu werden. Denn so rächt sich das Menschengeschlecht an Dem, der einen Augenblick der Welt Bewunderung abgenöthigt hat. Sie brauchen nie zu den Komplimenten eines Dummkopfes zu lächeln, sich nie von dem Geifer eines Buben bespritzen zu lassen, wie Diejenigen, welche immer als Zielscheiben der Anerkennung und des Hasses dastehen. Es bleibt ihnen sogar das Recht, sich den Vorgezogenen überlegen zu fühlen, sich des Mißverhältnisses zwischen ihrem Werthe und der Anerkennung, welche sie ernten, mit Stolz bewußt zu sein. Ein schönes Loos ist ihnen beschieden, wenn sie es verstehen, aus ihrer Lage und ihren Verhältnissen Nutzen zu ziehen und Das, was sie nieder|82|zuschlagen droht, in einen Anker der Kraft und Ermuthigung zu verwandeln. Verkennung ist ein bitterer, aber stärkender Trank. Auf der andern Seite freilich liegt hier auch der erste Keim all’ jener Zerrformen der Verkennung, die uns Allen bekannt sind, — die ganze Kohorte von Jammergesellen und Neidern, der große Trosz der Narren aus unbefriedigter Eitelkeit, eben fo unausstehlich wie Die, welche in gefättigter Eitelkeit schwimmen.

Aber wer kann, trotz all’ dieser Karrikaturen, ohne Rührung jene Schaar edler Geister betrachten, die abseits der Welt gelebt und niemals geglänzt haben, liebender Herzen, die niemals wieder geliebt wurden, jene Elite, welche von den Göttinnen der Gelegenheit, des Glücks und des Ruhmes niemals besucht ward!

»Obermann«, ein schwerfälliges, breitspuriges, ernsthaftes, schlecht geschriebenes Buch, zeigt, daß sein Verfasser eine Natur von ähnlicher Art wie sein Held war. Aber es ist gleichwohl interessant als ein gutes und werthvolles Dokument der Zeit. Hören wir einige Aeußerungen des Helden: »Ach, wie groß ist der Mensch, so lange er unerfahren ist, wie reich und fruchtbar würde er sein, wenn nicht der kalte Blick des Nächsten und der trockene Wind der Ungerechtigkeit unser Herz ausdörrten! Ich bedurfte des Glückes. Ich war geboren, um zu leiden. Wer kennt nicht jene dunklen Tage um die kälteste Jahreszeit, wo selbst der Morgen |83| eine Verdichtung der Nebel bringt und nur durch ein paar dunkle Streifen von brennender Farbe aus den zusammengeballten Wolken Licht zu verbreiten beginnt? Denkt an jenen Nebelschleier, an jene orkanartigen Windstöße, jenen bleichen Schimmer, an das Pfeier in den Bäumen, welche zitternd sich beugen, an jenes schrille Geheul, dessen schneidender Laut furchtbaren Klagen gleicht; das war meines Lebens Morgen. Zur Mittagszeit kältere und anhaltendere Stürme, gegen Abend dichteres Dunkel, und des Menschen Tag ist zu Ende.«

Für eine Natur von solcher Melancholie ist das ganze geordnete Leben unerträglich. Ueber jenen schwierigsten und peinlichsten Zeitpunkt, wo der junge Mann seinen Lebensstand wählen soll, wird er nie hinweg kommen. Denn die Wahl einer Lebensstellung heißt Verzichtleistung auf die unendliche Freiheit, auf die eigentliche Menschheit, und Einpferchung in einen Stall nach Art des Thieres. Das Standesgepräge ist eine Beschränktheit, eine Endlichkeit, eine Lächerlichkeit. Dem Freisein von jedem Standesgepräge verdanken die Frauen einen Theil ihrer Schönheit und der Poesie ihres Geschlechtes. Wie sollte also eine Natur, gleich der Obermann’s, einen Stand wählen können! Gleichzeitig zu tief und zu schwach für die Wirklichkeit, haßt er Nichts mehr, als die Abhängigkeit. Den Inbegriff alles irdischen Leids verkörpert ihm die Uhr. Seine Stimmungen nach dem Glockenschlage zerreißen sollen, wie der Ar|84|beiter, der Geschäftsmann, der Beamte es muß, das heißt sich des einzigen Gutes, das uns das Leben bei all seiner Widerwärtigkeit bietet: der Unabhängigkeit, der Freiheit, berauben.

Obermann kann daher nicht einsam genug leben. Er wohnt allein, er vermeidet sowohl Stadt wie Dorf. Ganz er selbst ist er nur, wenn er von dem Schweizerthale, in welchem er wohnt, zu den höchsten Bergen in der ödesten Einöde, zu den »Firnen«, allein und ohne Führer emporsteigt und Menschen und Zeit vergißt.

Wollen wir ihn in dieser Umgebung sehen? »Der Tag war heiß, der Horizont neblig, die Thaler von Dunst umraucht. Das Funkeln der Gletscher erfüllte die niedere Atmosphäre mit leuchtendem Wieder schein, aber eine unbekannte Reinheit schien der Luft eigen, welche ich einathmete. In dieser Höhe störte oder unterbrach keine Ausdünstung von niederen Stätten, kein irdischer Lichtpunkt die unendliche und dunkle Tiefe des Himmels. Seine anscheinende Farbe war nicht mehr das blasse und helle Blau, das sanfte Kuppeldach der Ebene, nein, der Aether gestattete dem Blick, sich in eine Unendlichkeit ohne Grenze zu verlieren und inmitten des Glanzes der Sonne und der Gletscher andere Welten und andere Sonnen zu suchen, wie in der Nacht. Unmerklich stiegen die Dünste der Gletscher auf und bildeten Wolken zu meinen Füßen. Der Glanz des Schnees blendete nicht mehr meine Augen, und der Himmel ward |85| dunkler und tiefer. Die Schneekuppe des Montblanc erhob ihre unbewegliche Masse über diesem grauen und reglosen Meere, über diesen zusammengeballten Nebeln, in welche der Wind sich hinein bohrte, und welche er in unförmlichen Wellen empor trug. Ein schwarzer Punkt zeigte sich in diesen Abgründen; er stieg schnell hinan und kam gerade auf mich zu. Es war der mächtige Adler der Alpen. Seine Schwingen waren feucht und seine Augen wild; er suchte eine Beute, aber beim Anblick eines Menschen entfloh er mit einem unheimlichen Schrei und stürzte sich in die Wolken. Dieser Schrei wiederholte sich zwanzigmal, aber mit trockenem Laut ohne Nachhall; es klang wie ein eben so ost wiederholter isolirter Schrei in der allgemeinen Stille. Dann versank wieder Alles in absolutes Schweigen, als hätte der Laut selbst aufgehört zu existiren, und als wäre die Eigenthümlichkeit der Körper, zu tönen und zu klingen, aus dem Universum vertilgt worden. Nie kennt man die Stille in den lärmenden Thälern; nur aus den kalten Höhen herrscht die Reglosigkeit, jenes andauernde feierliche Schweigen, das keine Zunge auszudrücken, keine Phantasie sich vorzustellen vermag. Ohne die Erinnerungen, welche der Mensch aus den Ebenen mitbringt, würde er hier oben nicht glauben können, daß es außen um ihn her irgend eine Bewegung in der Natur gäbe; selbst die Bewegung der Wolken scheint ihm unerklärlich; sogar die Veränderungen der Dünste scheinen ihm in|86|mitten der Veränderung selbst stabil zu sein. Da jeder gegenwärtige Augenblick sich ihm fixirt, hat er nur die Gewißheit, aber durchaus nicht die Empfindung, daß alle Dinge auf einander folgen; Alles scheint ihm ewig erstarrt. Ich wünschte, ich hätte sicherere Spuren meiner sinnlichen Wahrnehmungen in jenen stummen Regionen bewahrt; die Einbildungskraft kann sich im täglichen Leben kaum einen Gedankengang zurückrufen, welchen alle Umgebungen zu verneinen und abzuweisen scheinen. Aber in solchen energischen Augenblicken ist man nicht im Stande, sich mit der künftigen Zeit oder mit anderen Menschen zu beschäftigen, und Notizen für jene und für diese aufzuzeichnen. Man denkt dann nicht im Hinblick auf eine künstliche Konvenienz an die Ehre, welche man für seine Gedanken ernten wird, ja nicht einmal im Hinblick auf das allgemeine Wohl. Man ist natürlicher, man denkt nicht einmal daran, den gegenwärtigen Augenblick zu benutzen, man kommandirt nicht seine Ideen, man verlangt nicht von seinem Geiste, daß er sich in einen Stoff vertiefen, verborgene Dinge enträthseln, Etwas sagen solle, das bisher nicht gesagt worden ist. Der Gedanke ist nicht mehr aktiv und an Regeln gebunden, sondern passiv und frei. Man träumt, man giebt sich hin, man ist tief ohne Witz, groß ohne Begeisterung, energisch ohne Willen.«

So sitzt er, dieser Lehrling von Jean Jacques, dieser »Energische ohne Willen«, denn das Wort paßt |87| auf Obermann, einsam in Jean Jacques’ Natur. »René« hatte den Kreis der Natureindrücke erweitert. Statt eines Sees in den Schweizeralpen, einiger Bosketts und Waldblumensträuße, womit wir in der »Neuen Héloise« begannen, gaben »René« und »Atala« uns die ungeheuren Urwälder, den Riesenstrom Mississippi und seine Nebenflüsse, die tropische Natur in ihrer ganzen leuchtenden und grellen Farbenpracht, ihrer ganzen blendenden und dustenden Ueppigkeit. Diese Natur stimmt zu einer Gestalt wie René. In dieser Natur war Chateaubriand als Verbannter umhergestreift, und ihr Gepräge nahm er mit sich. In der öden, lautlosen Stille der Bergnatur ist Obermann an seinem Platze.

Außerhalb des Lebens, da wo das Leben aufhört, fühlt er sich heimisch. Kann er denn das Leben ertragen? Oder wird es ihm wie Werther ergehen, daß er es eines Tages von sich wirft?

Er thut das nicht, er sucht seine Stärke in einem großen Entschlusse, ein für alle Mal verzichtet er auf Genuß und Glück. »Laßt uns,« sagt er, »alles Das als bedeutungslos betrachten, was verschwindet und vergeht, laßt uns im großen Spiele der Welt ein besseres Loos suchen. Von unsren kräftigen Entschlüssen allein wird vielleicht die eine oder andere Wirkung fortdauern.« Er will also leben, aber wenn er beschließt, nicht trotzig Hand an sich selbst zu legen, so geschieht es nicht aus Demuth, sondern kraft eines noch höheren Trotzes. »Der |88| Mensch,« sagt er, »ist vergänglich, das mag sein, aber laßt uns im Widerstande zu Grunde gehen, und wenn das große Nichts uns vorbehalten ist, dann laßt uns nicht so handeln, daß dies als eine Gerechtigkeit erscheinen kann.«

Wie lange währt es jedoch, bis Obermann zu dieser Ruhe gelangt! Wie viele leidenschaftliche Plaidoyers bringt er zu Gunsten der Berechtigung des Selbstmordes vor, und man darf sich darüber nicht wundern, denn die Selbstmords-Epidemie in der Literatur gehört ebenfalls noch zu den vorhin erwähnten Symptomen der Emancipation des Individuums. Es ist eine der Formen, die negativste und radikalste, für die Befreiung und Losreißung des Individuums von der ganzen Gesellschaftsordnung, in welche dasselbe von Geburt an hineingestellt ist. Wie hätten auch jene Zeiten, in welchen Napoleon seinem Ehrgeize jährlich Hekatomben von Blutopfern schlachtete, Achtung vor dem Menschenleben erwecken können? »Ich höre überall,« sagt Obermann, »es sei ein Verbrechen, aus dem Leben zu scheiden; aber dieselben Sophisten, welche mir den Tod verbieten, setzen mich demselben aus oder schicken mich in ihn hinein. Es ist eine Ehre, auf das Leben zu verzichten, wenn das Leben schön ist, es ist recht und erlaubt, Den zu tödten, welcher leben möchte; und denselben Tod, den zu suchen Pflicht ist, wenn man ihn fürchtet, sich selbst zuzufügen, wenn man ihn wünscht, sollte ein Verbrechen |89| sein! Unter tausend, bald spitzsindigen, bald lächerlichen Vorwänden spielt ihr mit meiner Existenz, und ich allein sollte kein Recht über mich haben! Wenn ich das Leben liebe, soll ich es verachten, wenn ich glücklich bin, schickt ihr mich in den Tod, und wenn ich sterben will, verbietet ihr es mir und bürdet mir ein Leben auf, das ich verabscheue. Wenn ich mich nicht des Lebens berauben darf, so darf ich mich auch nicht einem wahrscheinlichen Tode aussetzen, und all’ eure Helden sind dann nur Verbrecher. Der Befehl, den ihr ihnen ertheilt, rechtfertigt sie nicht. Ihr habt kein Recht, sie in den Tod zu senden, wenn sie kein Recht gehabt haben, ihre Einwilligung dazu zu geben. Habe ich dieses Recht zum Tode nicht über mich selbst, wer hat es dann der Gesellschaft verliehen? Habe ich abgetreten, was ich nicht besaß? Welches wahnwitzige Gesellschaftsprincip habt ihr erfunden, laut dessen ich zu meiner Unterdrückung ein Recht abgetreten habe, das ich nicht besaß, um mich der Unterdrückung zu entziehen?«

Ich habe vor Jahren in einer Abhandlung über das tragische Schicksal*)*

*) Dieselbe ward 1862 als Einleitung zu einer, mit der goldenen Medaille der Kopenhagener Universität gekrönten Abhandlung über die Schicksalsidee in der antiken Tragödie geschrieben und ist in den »Aesthetischen Studien von G. Brandes« abgedruckt. Anm. des Uebersetzers
dem Selbstmörder ähnliche Worte in den Mund gelegt: »Der, welcher unter den Leiden |90| des Daseins seufzt, kann sich anklagend wider sein Schicksal erheben und sagen: warum ward ich geboren, mit welchem Rechte, weshalb werden wir nicht gefragt? Wäre ich gefragt worden, und hätte ich gewußt, was es sei, zu leben, so hätte ich nie meine Einwilligung dazu gegeben. Wir sind Alle wie Männer, die wider ihren Willen zu Matrosen gepreßt werden; aber der Matrose, welcher gepreßt und ohne seine Einwilligung auf das Schiff geschleppt worden ist, hält sich nicht für verpflichtet, auf demselben zu bleiben; wenn er die Gelegenheit wahrnehmen kann, wird er desertiren. Wendet man ein, daß ich das Gute des Hebens genossen hätte, und deshalb jetzt das Schlimme ertragen müsse, so antworte ich: die Güter des Lebens, das Kindheitsglück z. B., welche ich genoß, und durch deren Annahme ich meine Zustimmung dazu gegeben haben soll, zu leben, diese Güter empfing ich, ohne die leiseste Ahnung davon zu haben, daß sie ein Handgeld wären, darum bindet dies Handgeld mich nicht. Ich will die Mannszucht des Schiffes nicht verletzen, meine Kameraden nicht ermorden oder dergleichen, ich will nur das Eine, worauf ich Recht habe, die Freiheit, da ich mich nie verpflichtet habe, zu bleiben.« «

Man wird begreifen, daß ich nicht die Absicht habe, mich hier auf die Realität der Frage einzulassen. Obschon ich nicht glaube, daß man Anderes gegen die Berechtigung zum Selbstmorde anführen kann, als die |91| Pflichten gegen andere Menschen, so bezweifle ich für meinen Theil durchaus nicht, daß dies Argument völlig hinreichend und befriedigend ist. Im Uebrigen überlasse ich ganz den Moralisten die Beantwortung dieser Frage. Ich schildere hier nur rein historisch und naturwissenschaftlich einen Seelenzustand, der sich geschichtlich gezeigt und in der Literatur seine Dokumente niedergelegt hat. Denn »Obermann« und »Werther« sind nicht die einzigen Bücher aus jener Zeit, in welchen der Selbstmord gerechtfertigt wird. Auch René schreibt an seine Gattin: »Celuta, es giebt Versuchungen, die so hart sind, daß sie die Vorsehung anzuklagen und uns von der Manie, existiren zu wollen, heilen zu müssen scheinen.« Sainte-Beuve bemerkt hiezu: »Man achte darauf, daß dieser unglaubliche Ausdruck: »die Manie, leben zu wollen,« gebraucht wird, um die Liebe bis ins tiefste Herz zu beleidigen. Das so instinktmäßige und so universelle Gefühl, welches bewirkt, daß für jeden Sterblichen, selbst wenn er unglücklich ist, das Leben lieb und werth genannt werden darf, welches jedes Wesen, das einmal geboren ist, dazu veranlaßt, »das süße Licht des Tages« zu lieben und sich nach demselben zu sehnen, dies Gefühl nennt er eine Manie.« — Auf dieselbe Art erklärte später Arthur Schopenhauer es für die höchste Tugend, zu überwinden, was er »den Willen zum Leben« nennt.

Um zu schließen: der Verfasser des »Obermann« bildete seinen Typus nach sich selbst und seinem Talente, |92| sein Held endet mit dem Entschlusse, Schriftsteller werden zu wollen. »Welche Aussicht auf Erfolg werde ich haben?« sagt er. »Wenn es nicht genug ist, etwas Wahres auszusprechen und bemüht zu sein, dasselbe auf eine Überzeugende Art auszusprechen, so werde ich keinen Erfolg haben, das ist gewiß.« »Geht nur erst,« ruft er aus, »ihr, die ihr den Ruhm des Augenblicks, den Ruhm des Gesellschaftssaales verlangt, geht erst, ihr Alle, die ihr reich an Ideen seid, welche einen Tag lang dauern, an Büchern, welche einer Partei dienen, an Kunstgriffen und Mitteln, welche Effekt machen. Geht erst, ihr verführerischen und verführten Menschen, denn es kümmert mich Nichts, ihr eilt schnell vorüber, und es ist gut, daß ihr eure Zeit habt. Ich für mein Theil glaube nicht, daß es nothwendig ist, bei Lebzeiten anerkannt zu werden.«

Diese letzten Worte kennzeichnen jene ganze Race von Geistern, welche, außer Stande, zu glänzen, jeden glänzenden Schimmer haßt, mit ihrem Einsamkeitsgefühl, ihrer Bitterkeit gegen die Vorgezogenen und die Mitwelt, und mit ihrem Glauben, dereinst von einer gerechten und unbestochenen Nachwelt gewürdigt zu werden.

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