Wie in der körperlichen Welt zu gewissen Zeiten bisher unbekannte Krankheiten entstehen, so auch im geistigen Leben. Was ich hier zu schildern versuche, ist der zugleich kräftige und ungesunde Geisteszustand, der eigenthümliche Aufschwung und die eigenthümliche Gemüthskrankheit, welche den Anfang unsres Jahrhunderts bezeichnen. Der Grundzug dieses Seelenzustandes war mit der großen Revolution des Menschengeistes gegeben. Alle Gemüthskrankheiten, welche in Folge davon ausbrechen, lassen sich als Symptome von zweigroßen Ereignissen auffassen: von der Emancipation des Individuums und von der Befreiung des Gedankens.
Das Individuum wird emancipirt. Nicht mehr zufrieden damit, auf der Stätte zu bleiben, die ihm angewiesen oder wo er geboren ist, sich nicht mehr bescheidend, das Feld seines Vaters zu pflügen, fühlt der Mann beim Anfange der Demokratie zum ersten Mal in der buchstäblichen Bedeutung des Wortes die Welt offen vor sich liegen. Welcher Fortschritt im Vergleich mit allen früheren Zeiten! Es scheint mit Einem Male, als sei Alles möglich geworden und als habe das Wort Unmöglichkeit seinen Sinn verloren, als könne z. B. der |75| Trommelstock in der Hand des Soldaten durch eine Reihe schneller Metamorphosen sich in einen Marschallsstab oder in ein Scepter verwandeln. Aber zur selben Zeit, wo die Möglichkeit solchergestalt zugenommen hat, ist die Kraft keineswegs im selben Maße gewachsen, am allerwenigsten die Kraft der Selbstbeherrschung. Daher das unbändige Verlangen und die unbändige Melancholie. Und zur selben Zeit, wo Alles möglich geworden ist, scheint auch Alles erlaubt worden zu sein. Alle Macht, deren sich das Individuum früher entäußert, die es freiwillig seinen Göttern und seinen Königen übertragen hatte, nimmt es jetzt zurück. Wie es nicht mehr den Hut vor dem vergoldeten Wagen zieht, dessen Vergoldung es selbst bezahlt hat, so beugt es sich auch vor keinem Verbote mehr, dessen rein menschlichen Ursprung es durchschauen kann. Auf jedes Verbot hat es eine Antwort bereit, eine Antwort, die eine Frage ist, eine furchtbare Frage, der Anfang aller menschlichen Kenntnis und aller menschlichen Freiheit, die Frage: »Warum?« Und so sind schließlich selbst jene Verirrungen der Phantasie, von welchen vorhin die Rede war, das häufige Verweilen bei dem Verbrechen, auch wo es unnatürlich ist, nur ein Zug, nur eine Verirrung jenes so gewaltigen und so bedeutungsvollen Eintretens des Individuums in sein Recht.
Und der Gedanke wird befreit. Zum ersten Mal empfindet das einzelne emancipirte Individuum sich nicht |76| als Glied oder Theil eines größeren Ganzen, sondern als Mikrokosmos, d. h. als ein Wesen, das, wiewohl einzeln, eine kleine Welt in sich begreift, welche in verjüngtem Maßstabe die ganze große abspiegelt. So viele Individuen, eben so viele Spiegel, die das Weltall auffangen. Aber zur selben Zeit, wo der Gedanke solchergestalt den Muth gefaßt hat, nicht stückweis, sondern auf eine Alles umfassende Art zu erkennen, ist das Vermögen nicht mit dem Muthe gewachsen, und jetzt wie früher tappt die Menschheit in unendlichem Dunkel und begreift Nichts von dem Geheimnisse ihres Daseins. Wozu werden wir geboren, weshalb leben wir, was ist das Ziel des Ganzen? Man ist der Antwort auf diese Fragen nicht näher gerückt. Nur das Gefühl des Verlustes, nur die Ungeduld über die Mangelhaftigkeit unseres Wissens ist gewachsen. So fühlt man die Wahrheit eines Bildes, das Alfred de Musset gebraucht: »Die Ewigkeit gleicht einem Adlerhorste, aus welchem alle Jahrhunderte wie junge Adler herausfliegen, um jedes nach der Reihe das Universum zu durcheilen. Jetzt ist das unsrige an den Rand des Nestes gekommen; es blickt hinaus, aber man hat ihm seine Flügel beschnitten, und es erwartet den Tod, hinabstarrend in den unendlichen Raum, in welchen es sich nicht hinauszuschwingen vermag.«
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