Will man diese Krankheit des Jahrhunderts verstehen, so muß man zuerst beachten, daß dasselbe in dem großen Manne, welcher als die Hauptgröße des Jahrhunderts bezeichnet werden kann, und in welchem es sich von Anfang an inkarnirt, in Bonaparte nämlich, gleichsam seine ganze Thatkraft entlädt und nach dieser ungeheuren Kraftanstrengung wie gelähmt am Willen zurücksinkt. So tritt nun jene große Schaar unruhiger und müßiger Geister aus den Schauplatz, und eine und dieselbe Grundform wird endlos variirt. Die erste, die hervorragendste dieser Gestalten ist Reue. Ihm selbst unsichtbar, ist der Herrscherstempel ihm aus die Stirne geprägt worden.
In ihm keimt all jener Egoismus, welcher das erste hervortretende neue Element der Melancholie ist, all jenes stolze Ueberlegenheitsgefühl, die Selbstvergötterung, all die Launen und Unarten, ja selbst jener Hoheitswahnsinn, durch welchen so viele der großen Männer des Jahrhunderts ihr Zeitalter verblüfft und verletzt haben. Aber, wird man fragen, was hat Reue damit zu schaffen? Auf den paar Dutzend Blättern, aus welchen das Buch besteht, kommt ja fast Nichts anders vor, als die bittersten |64| Selbstanklagen. Allein René schildert nur das erste Stadium der Krankheit, und das Buch ist fortgesetzt und entwickelt worden, zuerst in jenem Briefe von Reue, den man in den »Natchez« findet, und dann, so zu sagen, in der Phantasie der ganzen Lesewelt Reue bezeichnet jenes erste Stadium, das der Unruhe und Auserwählung, Reue ist der Augenblick, in welchem die auserwählte Natur in derselben Weise, wie die Propheten der jüdischen Vorzeit, zum ersten Mal die Stimme vernimmt, die ihn beruft, und sich angstvoll zurückzieht, sich verzweiflungsvoll windet und nach einem Auswege zur Flucht späht, antwortend gleich dem Propheten: »Herr, nimm nicht mich, sondern einen Andern, meinen Bruder; ich bin zu gering, ich bin ein Mann, welcher nicht seine Worte zu setzen, weiß.« Der Auserwählte zögert und hofft, einen Andern dem Rufe folgen zu sehen, er schaut sich um, aber Keiner ersteht, und die Stimme fährt fort zu ihm zu reden. Ueberall sieht er Das siegen, was er verabscheut und verachtet, und Das unterliegen, wofür er Alles opfern möchte, wenn nur ein Anderer ihn zum Opfer hinführen wollte; aber mit Staunen und Grausen sieht er, daß kein Anderer so wie er empfindet, er schweift umher, um seinen Meister zu finden, denn wie St. Christoph will er nur dem Stärksten dienen, aber er findet ihn nicht, und da erfaßt ihn der Gedanke: wenn kein Anderer erstehe, wenn er keine Stütze und keinen Führer finde, so müsse wohl er selber der Mann und |65| geeignet zum Führer und zur Stütze für andere schwächere Geister sein. Jetzt folgt er dem Rufe, er sieht, daß die Zeit des Träumens und Zweifelns vorüber und die Zeit des Handelns gekommen ist. Hinter ihm liegen die langen Stunden des Zweifels und Selbstmißtrauens, mit Einem Schlage ist er verwandelt. Der Sonnenstrahl hat ihn getroffen, der für immer sein Antlitz bräunt, in welchem keine Röthe mehr aufsteigt oder schwindet. Er überwindet die Krise, nicht wie Werther durch einen Selbstmord, sondern durch einen Entschluß und mit einem erhöhten Selbstgefühl. Er zögert und schwankt nicht mehr, er gebietet und er will. In diesem Augenblicke ist sein Seelenzustand schön und wahr; aber das Mißverhältnis zwischen Dem, was er erstrebt, und Dem, was er vermag, stört sofort die kurz dauernde Harmonie seiner Seele. Er weiß, daß der Gott mit ihm und in ihm ist, und er kann kaum mehr zwischen sich selbst und dem Gotte unterscheiden. Er betet sich selbst an, indem er den Gott anbetet. Er weiß ja, daß seine Gedanken und seine Rede inspirirt sind, und wo ist die Grenze zwischen Dem, was von ihm, und Dem, was nicht von ihm stammt? Er liebt sogar mehr die Irrthümer, als die Wahrheiten, welche er ausspricht; denn jene gehören ihm selbst eigenthümlicher an und er fühlt sich in höherem Grade als ihren Erzeuger. Der Weihrauch der Menge betäubt ihm den Sinn. Seine Feinde sind nicht die seinen, sondern die Feinde der |66| Sache, des Guten, und alle Mittel sind ihnen gegenüber gut und recht. Für sich selbst fordert er Alles, die Gunst des Volkes, die Liebe der Frauen, alle Lorbern und Rosen des Lebens, und es fällt ihm nicht ein, daß er seinerseits dafür Etwas zu leisten verpflichtet wäre. Er läßt sich lieben, ohne wieder zu lieben. Ist er nicht eine privilegirte Natur, ein Apostel, der wie ein Flüchtling durchs Leben eilt, ein aufloderndes Feuer, das erhellt, verzehrt und entschwindet? Er sagt, wie Chateaubriand in einem Briefe an eine seiner Liebhaberinnen: »Mein Leben ist nur ein Zufall; nehmen Sie von diesem Zufall die Leidenschaft, den Wirbel und das Unglück, ich werde Ihnen an Einem Tage mehr davon geben, als Andere in langen Jahren.« So sprach der erste René noch, als er vierundsechzig Jahre alt war. Und wohlgemerkt, der Mann, welcher so spricht, ist in aller Aufrichtigkeit und ohne Heuchelei derselbe, der als Ritter des Glaubens und begeisterter Vertheidiger des Christenthums auftritt; denn ihm ist Alles erlaubt; er ist der Auserwählte und, wie die pythische Priesterin, halb wahnwitzig im Gefühl seines Berufes.
Ihm wohnt zugleich etwas Göttliches und etwas Satanisches, eine eigenthümliche Zerstörungslust inne.*)*
Die Form, unter welcher er liebt, ist die, zu verwirren und zu verzehren. Er verführt gleichsam durch übernatürliche, durch |67| giftige Mittel, er legt Runen, flößt Zaubertränke ein. Die berückende Macht des jungen, offenen Herzens, der jungen und frischen Liebe ist es nicht, womit er bethört. René schreibt Worte wie diese an seine indianische Gattin: »Ja, Celuta, wenn Du mich verlierst, wirst Du als Wittwe leben; denn wer könnte Dich mit der Flamme umgeben, die ich ausstrahle, selbst wenn ich nicht liebe?« und an einer anderen Stelle: »Diesem Herzen entströmen Flammen, welchen es an Nahrung gebricht, welche die Schöpfung verzehren könnten, ohne gesättigt zu werden, und welche Dich selbst verzehren könnten.« Ich mache Chateaubriand nicht verantwortlich für die Worte, welche er René in den Mund legt, aber man blicke zurück, und man wird jenen Lucifer des vorigen Jahrhunderts, Voltaire, in Vergleich hiemit unschuldig wie ein Kind finden. Welche rührende Zärtlichkeit bewies er nicht seinen Geliebten, eine Zärtlichkeit, die sich selbst in den Fällen, wo er schändlich verrathen ward, nicht im Mindesten verlor. Man blicke vorwärts, und man wird in Tiecks »William Lovell« oder in Kierkegaar’s »Verführer« nur eine breitere Ausführung Dessen finden, was hier im Umrisse gegeben ist. Füge man nun zu der Zerstörungsluft des Egoismus die Gleichgültigkeit wider Alles hinzu, was außerhalb des Helden vorgeht, den tiefen Ekel an dem Leben und den unvermeidlichen Ekel an dem eigenen Ich, welchen auch die aufrichtigste Selbstbewunderung nicht fernhalten kann, so hat man |68| die Grundzüge des Typus. Erkennt ihr das Bild, gleicht es dem Original? Oder giebt es Jemanden, der nicht einer der unzähligen Kopien desselben begegnet wäre? Bei dem Einen tritt ein Zug, bei dem Anderen ein anderer mehr hervor. Der Eine erhebt sich in übermenschlichem Stolze, wie jener englische Lord, welcher der Welt ihr Spiegelbild in »Kain« und »Manfred« gab; der Andere gewinnt aus seinen philosophischen Studien nur das Resultat, daß er ein Gott ist, wie der deutsche Dichter, welcher das »Buch der Lieder« schrieb, so oftmals gestanden hat. Der Dritte verlegt sich auf die Rolle, der Prophet der Gottheit zu sein, läßt sich wie einen Papst verehren, und läßt noch als Greis junge Frauen zu sich kommen, um ihm die zitternden Hände zu küssen. Für einen Vierten wird die Schwermuth das absolut Bestimmende, das Pfand seines Berufes, der Quell seiner Lebensführung und seiner ganzen Schriftstellerthätigkeit. Und diese Schwermuth beraubt ihn jedes praktischen Blickes in der Beurtheilung der Wirklichkeit. Das geringste Ereignis, welches ihm begegnet, schwillt zu etwas Bedeutungsvollem, zu etwas Entscheidendem und gleichsam Vorherbestimmtem an, woraus er immer und immer wieder zurückkommt, während es für eine weniger melancholische Anschauung zu einem puren Bagatell einschrumpfen würde. Man kennt all' diese nahen und entfernten, echten und entarteten Brüder und Söhne Renés. Der Typus umfaßt eine kurze |5| Spanne von Jahren, und man wolle ihn vor Allem nicht mit einem andern Typus verwechseln, welcher ihm folgt und welcher uns Allen vertraut ist. René personificirt ein Geschlecht, das zu sich selbst sagte: Vor meinem fünfundzwanzigsten Jahre will ich im Besitz dieses Mädchens, will ich ein großer Dichter, ein großer Künstler sein oder sterben. Beim nächsten Geschlecht lautet dieser Satz: Vor meinem fünfundzwanzigsten Jahre will ich ein Amt haben, vor meinem dreißigsten will ich Minister sein. Die Sehnsucht nach einem gesicherten Einkommen und einem gesicherten Einflusse ist an die Stelle all’ jener unbestimmten und idealen Sehnsucht getreten bei einem Geschlechte, in welchem das Individuum sich ohne Schwärmen und ohne Zweifeln sein beschränktes Ziel setzt und dasselbe erreicht. Wenn Jene hart und kalt erschienen, so war das in einem zweiten Stadium, nachdem sie den Zweifler und den Träumer in ihrem Herzen erstickt hatten; Diese waren es von Geburt an und hatten keine Krise überstanden.Nach all dem Gesagten klingt es schier wunderlich, wenn man betont, daß René dem »Geist des Christenthums« in rein reaktionärem und katholischem Interesse eingefügt worden ist, um zu beweisen, wie nothwendig der Trost der christlichen Religion für gewisse Leiden und wie nöthig es sei, die Nonnenklöster wieder zu errichten, da nur das Kloster Rettung und Schutz vor gewissen Verirrungen biete. Renés Hauptunglück ist |70| nämlich das, leidenschaftlich von seiner Schwester geliebt zu werden, die, um ihre Passion zu überwinden, den Schleier nimmt und im Kloster stirbt. Wie hübsch klingt das! Aber fühlt man nicht das Raffinement? So verführerisch, so unwiderstehlich ist jener René, daß er sogar nicht ruht, oder vielmehr daß der Dichter nicht ruht, bis er René's eigener Schwester eine unnatürliche Liebe zu ihrem Bruder eingeflößt hat. Wieder zeigt sich hier, wie die reaktionäre Tendenz in den Maalstrom der revolutionären Bewegung hineingewirbelt wird. Denn wenn es Etwas giebt, woraus die sogenannte satanische Schule später ein herkömmliches Recht zu haben schien, so war es das, nachdem sie die Passion als Natur verherrlicht hatte, dieselbe mit Sympathie zu schildern, auch wo sie der Natur zuwiderläuft. Ich will aus ein paar analoge Züge hinweisen. Bei der jungen revolutionären Schule war es ein beliebtes Thema, daß der Abscheu vor der Blutschande nur auf Vorurtheil beruhe. Dies war ein Lieblingssatz Mérimée's in seiner Jugendzeit. Man berief sich außerdem auf die Autorität der Bibel, da das Menschengeschlecht sich nach der biblischen Tradition ja von Anbeginn durch Blutschande vermehrt habe. Byron's Kain ist mit seiner Schwester vermählt. Außerdem war es ja durchaus in der Mode, sich ein wenig als Teufel zu schildern. Chateaubriand, der sich in René selbst dargestellt hat und dessen Verhältnis zu seiner Schwester in äußerer Hinsicht demjenigen René’s entspricht, wurde |71| in der Wirklichkeit keineswegs von ihr anders, denn als Bruder, geliebt, und es dürfte mehr als wahrscheinlich sein, daß hier der Schlüssel zum Verständnisse eines der unheimlichsten und peinlichsten literarischen Ereignisse der jüngsten Zeit liegt. Alle erinnern sich noch der empörenden Anklage, durch welche Mrs. Beecher-Stowe vor einigen Jahren das Andenken Byron’s beschimpfte. Ein verbrecherisches Verhältnis zwischen ihm und seiner Stiefschwester sollte den Anlaß zu der Scheidung von seiner Frau gegeben haben. Die Wahrheit in dieser Sache zu ermitteln, ist unmöglich; Thomas Moore hat ja Byron’s Aufzeichnungen verbrannt. Aber selbst wenn man mit vollkommener Ruhe Frau Stowe anhört und, was schon ein großes Zugeständnis ist, annimmt, daß sowohl sie wie Lady Byron die reine Wahrheit reden, was liegt dann vor? Eine Aeußerung von Byron gegen seine Frau, daß ein solches Verhältnis bestanden habe. Nun war Lady Byron, wie männiglich bekannt, eine in höchstem Grade tugendhafte und einfältige Puritanerin, die ihren Mann Alles hatte verüben sehen, was nach ihrer Ansicht das Empörendste auf Erden war. Sie wußte, daß er trank und an Zechgelagen theilnahm, daß er ganze Nächte außerhalb des Hauses verbrachte, daß er weder Rücksicht auf seinen Namen noch auf seinen Rang nahm, daß er allein hatte ins Parlament gehen müssen, weil er keinen einzigen seiner Standesgenossen hatte bewegen können, ihn dort einzuführen, daß er in seinen Schriften |72| die eine heilige anglikanische Kirche verhöhnte und die schwärzesten Verbrechen in der schönsten Beleuchtung darstellte; ja, so arg hatte ihr Gemahl es getrieben, daß dreimal eine Pfändung bei dem jungen Paare vorgenommen und sogar ihr eigenes Ehebett mit Beschlag belegt worden war. Was Wunder also, daß sie ihren Mann beim Worte nahm, als er eines Tages, vermuthlich mehr als gewöhnlich durch ihre Einfalt und ihre Predigten geärgert, sie anschnauzte: Ja, ich bin der Teufel — puh! — mein Klumpfuß ist wirklich ein Pferdefuß und ich lebe im schändlichsten Verhältnis mit meiner eigenen Schwester!
Wir sehen, daß Chateaubriand Byron in »René« das Beispiel gegeben hat. Wir sehen, wie dies Produkt der Revolutionspoesie aus dem reaktionären Werke entsprießt, in welchem es sich befindet, und wie in diesem beide großen Strömungen vermischt sind. Aber, wohl zu merken, der Unterstrom ist eher alles Andere, als christlich, eher alles Andere, als religiös. Das Grundgefühl ist überall ein seltsamer wilder Egoismus, eine Art Genußsucht der unheimlichsten Art, welche darin besteht, den Gedanken an Tod und Vernichtung, eine gewisse satanische Wuth mit dem sonst so sanften und so natürlichen Gefühle der Lust und des Glückes zu verbinden. René schreibt an Celuta: »Ich habe Dich mitten in der Einöde an mein Herz gedrückt, ich hätte Dich in jenem Augenblicke gern mit einem Dolche durchbohrt, um das Glück |73| in Deinem Busen zu befestigen und um mich selbst dafür zu strafen, daß ich Dir solches Glück geschenkt.«
Und Atala, die sanfte, fromme Atala, dies anmuthvolle junge christliche Indianermädchen, das unter so großen Versuchungen das Verlangen ihres stürmischen, heidnischen Liebhabers im Zaume hält und, ihrem heiligen Gelübde treu, als Jungfrau in unbefleckter Reinheit stirbt, sie ruft in ihrer Todesstunde aus: »Es gab Augenblicke, wo ich gewünscht hätte, mit Dir allein das einzige lebende Wesen auf Erden zu sein, und andere, wo ich, wenn ich eine Gottheit mein entsetzliches Verlangen hemmen fühlte, dieser Gottheit Vernichtung gewünscht hätte, wenn ich dann nur, an Deine Brust gepreßt, mit Dir hätte von Abgrund zu Abgrund rollen können unter den Trümmern Gottes und der Welt.«
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