Die Emigrantenliteratur (1872)

|56| 3.

Zu diesem Zeitpunkte beginnt die Melancholie und die Misanthropie ein poetisches Element zu werden. Um zu erklären, was ich hiemit meine, muß ich jedoch etwas weiter in der Geschichte der Poesie zurückgehen. Die Literatur hat unzweifelhaft früher schon Misanthropen geschildert. Ich will vergleichsweise einige Gestalten Molière’s und Shakspeare’s heranziehen. Der Unterschied zwischen diesen und denen der modernen Zeit wird dann klar werden.

Eine von Molières interessantesten Figuren, und, wie ich bekenne, derjenige von all seinen Charakteren, welcher für mich persönlich den größten Reiz besitzt, ist Alcest, der Misanthrop. Der Gegenstand von Alcest’s Unwillen und Bitterkeit ist jenes ganze System von Rücksichten, von Zugeständnissen, von großen und kleinen Lügen, woran der sogenannte gesellschaftliche Umgang beruht. Er hat darin gewiß Unrecht. Ohne die Fiktion, welche die konventionelle Höflichkeit erzeugt, würde das Leben noch unschöner sein, als es ohnehin ist. Ein feinsinniger und liebenswürdiger Philosoph hat gesagt: »Da die Schönheit nicht existirt, so erfand man die Kunst, und da die Güte und Herzlichkeit nicht existiren, |57| so erfand man die Höflichkeit.« Und giebt es, ernstlich gesprochen, nicht Gründe genug, ein wenig die Maske zu tragen? Wie Mancher möchte nicht lieber ganz ungekannt als ganz gekannt sein, und giebt es nicht Viele, welche zu demaskiren schon aus ästhetischen Ursachen Sünd und Schande wäre, da ihre Maske so viel schöner ist, als ihr wirkliches Gesicht? Aber ich rede selbst wie Philint im Stücke, und ich darf nicht die glänzenden und beredten Antworten vergessen, welche Alcest giebt. Alcest haßt die Menschen, weil er sie in zwei Klassen theilt; die eine bilden die Gemeinen und Boshaften, die andere besteht aus Denjenigen, welche artig und aufmerksam gegen jene Boshaften und Gemeinen sind, und dadurch ihr Treiben ermöglichen. Er stellt die feige Rücksichtsnahme, die aus der Furcht entsprungene Falschheit auf gleiche Linie mit den schlimmsten und verrufensten Lastern. Er ist so empört über die Feigheit, die das Verächtliche nicht sehen will, wo es sich findet, daß er die zweite große Weltmacht, die Dummheit, welche es wirklich nicht sieht, wo es sich findet, durchaus vergißt. Er schäumt vor Wuth darüber, den Schurken, mit welchem er in Proceß liegt, und dessen Nichtswürdigkeit alle Welt kennt, überall respektvoll begrüßt, wohl ausgenommen, ja beschützt zu sehen. Er sagt Oront ins Gesicht, daß seine Werke schlecht sind. Um den Charakter ins richtige Relief zu stellen, läßt der Dichter nun Alcest sterblich verliebt sein in eine junge Kokette von der feinsten und durch ihre Liebens|58|würdigkeit gefährlichsten Art. Sie spielt mit ihm wie mit einem Kinde, soppt ihn und trotzt ihm auf alle Weise, lockt ihn an und reizt ihn aufs Aeußerste; jedes Wort von ihr ist ein Dorn, der ihn sticht, und jede ihrer Handlungen schneidet ihm ins Herz. Es ist sein Fluch, daß er zugleich sie lieben und über sie verzweifeln muss. Kann man sich ein schlimmeres Loos für einen Misanthropen denken, als das, ein solches Weib anzubeten und der Spielball all’ ihrer Launen zu sein! Man sollte es meinen; aber könnte man nicht auch vielleicht die ganze Anschauung umkehren?

Ein Mann, der sich besser als irgend ein Anderer auf Schauspiel und Theater versteht, Herr Edmond Thierry, Direktor des Théâtre francais, sagte mir am Tage nach einer Ausführung des »Misanthrope« in Erwiderung einer Bemerkung, die ich über einen Schauspieler machte, welcher nach meiner Ansicht die Rolle allzu geschlissen gespielt hatte: »Finden Sie, aufrichtig gesprochen, daß Alcest misanthropisch ist und daß der Name paßt? Ich für mein Theil glaube: wenn Celimène nicht kokett wäre, so würde Alcest nicht misanthropischer als ich sein.« Das war ein Scherz, aber er verbirgt eine Wahrheit. Es sind Umstände und Verhältnisse, die Stellung inmitten eines verderbten Hofes, ein reizbarer und ehrliebender Sinn, ein wahrheitsliebender Charakter, welche im Verein mit zufälligen persönlichen Unglücksfällen Alcest’s Misanthropie als Resultat erzeugen. |59| Er ist Misanthrop durch Raisonnement, nicht von Temperament. Eben hiedurch ist er ein so echt französisches Erzeugnis. Bei einem deutschen Melancholiker würde die Grundlage das Gemüth sein, bei einem englischen Melancholiker der Humor; bei einem französischen Melancholiker ist die Grundlage Raisonnement, d. h. der analysirende Verstand. Alcest ist ein Produkt jener klassischoratorischen Zeit in Frankreich, über welche man erst am Schlusse des achtzehnten Jahrhunderts hinaus kam. Er steht Boileau viel näher, als es den Anschein haben mag. Hier sehen wir ein Beispiel der überwältigenden Macht des Zeitgeistes und des Volksgeistes über das Individuum. Wenn man vom Zeitalter Boileau’s und der Verstandestragödie in Frankreich spricht, so könnte es wohl auf den ersten Blick ein Widerspruch scheinen, daß Molière, Boileau’s Gegenpol, Racine’s Antipode, derselben Zeit angehört. Man könnte wenigstens meinen, daß seine tiefsten und trefflichsten Gestalten, die naive Agnes in der »Schule der Frauen« und der melancholische Alcest im »Misanthropen«, eine Ausnahme bildeten. Aber es giebt Geistesgesetze, welche eben so unverbrüchlich wie die Naturgesetze sind. Ich habe an einer anderen Stelle*)*

*) Aesthetische Studien von G. Brandes, S. 310 ff.
nachgewiesen, bis zu welchem Grade Agnes’ Naivetät eine vom Dichter durch Raisonnement erklügelte ist; dasselbe läßt sich von Alcest’s Melancholie beweisen. Nehmen |60| wir als Gegensatz einen von Shakspeare’s Misanthropen, z. B. Jacques in »Wie es euch gefällt.« Da haben wir den Misanthropen von Temperament. Jacques ist eine Poetennatur, schwermüthig und weich. Hören wir, wie er geschildert wird:

Heut schlichen wir, Lord Amiens und ich selbst,
Uns hinter ihn, wie er der Länge nach
Im Schatten einer Eiche lag, die mit
Den Wurzeln in den Waldbach niederhängt·
An diese Stelle kam ein scheuer Hirsch,
Der von des Jägers Pfeil getroffen worden,
Um zu verenden; und fürwahr, mein Fürst,
Das arme Thier stieß solche Seufzer aus,
Daß sie beinah sein ledern Fell zersprengten.
Die dicken, runden Thränen träufelten
Ihm einzeln über das behaarte Maul.
So stand der arme Narr, genau betrachtet
Bom melanchol'schen Jacques, am Brink des Baches,
Mit Thränen ihn vermehrend. Aber Jacques?
Wie zog er die Moral von diesem Bild?
In tausend Gleichnissen. Dieweil der Hirsch
Ins Wasser überflüssig weinte, sprach er:
»Du armes Thier, du machst dein Testament,
Gleich manchem Weltkind, denen Geld erwerbend,
Die schon zu viel besitzen. Weil das Wild
Verlassen war von seinen sammtnen Freunden,
Rief Jacques: »So ist es recht; das Unglück scheucht
Ja stets die Menge fort.« Dann brach ein Rudel,
Frisch von der Weide, ohne Halt und Gruß,
Am kranken Hirsch vorbei. »Nur zu!« sprach Jacques,
»Ihr Spießer und Spießbürger; fette, feiste;
Das gleicht wohl eurer Art. Warum auch schauen
Auf den gefallnen Bankrottirer hier?«
Mit solchen Stachelreden traf er Alles,
Das Land, die Stadt, den Hof, auch unser Leben;
|61| Er schwor, wir sei’n Tyrannen, Räuber und
Was Schlimmres noch, weil wir das Wild verjagten
Aus seinem eignen Sitz, und ganz vertilgten.
So klagt' er mit dem schluchzenden Geschöpf.

Wir sehen ihn zu Thränen gerührt über die Leiden des verwundeten Thieres. Nicht durch Raisonnement, nicht durch eine Verstandesreflexion wird er empört über die Schlechtigkeit und grausame Rohheit der Menschen, sondern er fühlt unmittelbar, daß seine Seele von derselben Natur wie die des Hirsches sei. Der Hirsch ist ihm ein Kind derselben Mutter wie er selbst. Er ist in seinem Gefühl Pantheist. Welcher Abstand von der Anschauung jener klassischen Zeit in Frankreich, wo selbst Cartesius das Thier für eine Maschine ansah und seinen Schmerzensschrei für eine rein mechanische Wirkung des Schlages hielt, wie die Schreipuppe beim Drucke des Fingers quiekt!

Im Gegensatze hier antecipirt Jacques die Naturbetrachtung der feinfühligsten modernen Poeten, z. B. Shelley’s. Man erinnert sich, daß Shelley als Jüngling einen Verein junger Männer stiftete, welche, von der Ansicht ausgehend, daß es eine unerlaubte und verbrecherische Barbarei der Menschen sei, Thiere zu essen, sich verpflichteten, ausschsließlich von Pflanzennahrung zu leben.

Nichtsdestoweniger ist Jacques so wenig wie Alcest ein Typus der modernen Melancholie. Jeder von ihnen verkörpert nur einen allgemeinen menschlichen Mißmuth |62| in der Form, welche ihnen nach ihrer verschiedenen Nationalität natürlich ist. Die mit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts entstehende Art von Melancholie trägt nicht den Charakter einer rein persönlichen Krankheit, sie ist auch nicht blos national; es ist eine kosmopolitische Epidemie, in ihrem Wesen verwandt mit den religiösen Krankheitsformen, die sich im Mittelalter so oft über Europa verbreiteten.

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