Die Emigrantenliteratur (1872)

|46| 2.

»Die neue Héloise« erschien 1761. Dreizehn Jahre später schrieb in einem anderen Lande, unter sehr verschiedenen Umgebungen, ein junges Genie, das Nichts mit Rousseau gemein hatte, von seinem Roman und seinen Ideen beeinflußt, ein kleines Buch, das alle Vorzüge der »Neuen Héloise« neben vielen anderen und keinen seiner Mängel besaß, ein Buch, das nicht Tausende, sondern Millionen von Gemüthern erregte, ganzen Generationen eine lebendige Begeisterung und eine leidenschaftliche Sehnsucht nach dem Tode einflößte, eine nicht geringe Anzahl Menschen zur Empfindsamkeit, zur Verzweiflung, zum träumerischen Müßiggang und zum Selbstmorde trieb, und das die Ehre hatte, von der landesväterlichen dänischen Regierung als irreligiös verboten zu werden. Dies Buch ist »Werther«. Saint-Preux wechselte sein Kostüm und kleidete sich in die berühmte Werthertracht, den blauen Rock und die gelbe Weste, und Rousseau’s »belle âme« ging als »die schöne Seele« in die deutsche Literatur über.

Im Jahre 1774 also erschien dies Buch, dessen Schlußblätter von keinem Dichter erfunden sind. Sie sind mit dem Rechte, das jeder schaffende Geist besitzt, |47| sein Eigenthum zu nehmen, wo er es findet, wörtlich aus einem Manuskripte abgeschrieben, welches das Ende des jungen Jerusalem behandelt. Das Manuskript ist in Kestner’s Buch über Goethe und Lotte abgedruckt. Nur ein einziges Wort hat Goethe als vulgär und übelklingend verändert. Im Manuskripte steht: »Barbiergesellen trugen ihn.« Das Buch schließt so: »Handwerker trugen ihn; kein Geistlicher hat ihn begleitet.« In seiner schneidenden Kürze spricht dieser Satz aus, daß ein Leben geendet ist, das im Kampfe mit sich selbst und der Gesellschaft, tödtlich verwundet in seinen Sympathien und Bestrebungen, unterlag. Handwerker trugen ihn; denn die bürgerliche Gesellschaft hielt sich pharisäisch zurück. Kein Geistlicher begleitete ihn; denn er war ein Selbstmörder und hatte jede kirchliche und religiöse Verpflichtung gebrochen. Aber er liebte den gemeinen Mann und verkehrte mit den Ungebildeten, darum folgten ihm Diese zum Grabe.

Was ist Werther? Definitionen erschöpfen nicht den unendlichen Reichthum eines dichterischen Meisterwerks, aber man kann mit ein Paar Worten sagen, dass diese Geschichte einer leidenschaftlichen und unglücklichen Liebe ihre Bedeutung darin hat, daß sie nicht blos die zufällige Leidenschaft und das zufällige Unglück eines einzelnen Individuums ausspricht, sondern so behandelt ist, daß die Leidenschaften, Sehnsuchten und Qualen einer ganzen Epoche ihren Ausdruck darin fanden. Dies Buch |48| schildert das Recht und das Unrecht des vollen Herzens gegenüber den trivialen und starren Regeln des verständig geordneten Alltagslebens, seinen Unendlichkeitsdrang, seinen Freiheitsdrang, der das Leben als einen Kerker und alle Scheidewände der Gesellschaft als Kerkermauern empfindet. Alles, was die Gesellschaft bietet, ist, wie Werther sagt, die Erlaubnis, sich die Wände, zwischen denen man gefangen sitzt, mit bunten Gestalten und lichten Aussichten zu bemalen. Aber die Wände selbst werden dadurch nicht zertrümmert. Darum dies Rennen mit der Stirn wider die Wand, dies lange Jammern, diese tiefe Verzweiflung, welche nur ein Pistolenschuß ins Herz lindern kann. Hier wird nicht, wie in der »Neuen Héloise«, der Sieg der Tugend und der deistischen Religiosität über den Naturtrieb und die Passion, sondern der Fatalismus der Leidenschaft dargestellt; mit fatalistischer Nothwendigkeit geht in dieser Herzenstragödie die regel- und zügellose Leidenschaft zu Grunde.

Jedermann weiß, welchen Schwall empfindsamer Schriften dies Buch erzeugte, wie viele thränenreiche Romane von demselben abstammen, wie seine Gefühlsweichheit bald, wie bei Clauren, bei Lafontaine oder unserem Rahbek, zur plumpsten Sentimentalität verdickt, bald zur subtilsten platonischen Schwärmerei verdünnt wurde, wie in Ingemann’s frühesten Dramen und Romanen — man vergleiche besonders die direkte Nachahmung Werther’s in »Warner’s Wanderungen«. Allein |49| »Werther« selbst ist daran unschuldig; denn die Versunkenheit in Gefühlsschwelgerei ist nur die eine Seite des Buches. Aus derselben, inmitten derselben sprudelt ein so gesundes Natur- und Lebensgefühl hervor, ein so kraftvoller und revolutionärer Zorn über die Gesellschaftskonvenienz, die aristokratischen Vorurtheile und die Pedanterie des Geschäftslebens, daß der Haupteindruck des Buches der Drang nach Ursprünglichkeit und Poesie ist, den sie schildert, weckt und befriedigt.

Welcher Fortschritt ist hier seit der »Neuen Héloise« gemacht! Nur unsicher wird in Rousseau’s Roman die weibliche Hauptfigur gezeichnet. Es fehlt dort, wie fast überall in der französischen Poesie, die Naivetät der Weiblichkeit Julie ist eine klassische Vorläuferin der Heldinnen in Balzacs Romanen. Wie unendlich steht sie an wahrer und echter Leidenschaft ihrer Namensverwandten, der wirklichen Héloise, nach! Wie tief empfunden ist jedes Wort bei Dieser, die Liebesergüsse eben so wohl wie die Ergüsse der Religiosität, und wie kalt sind Juliens gedrechselte Perioden! Jeden Augenblick verfällt sie in Deklamationen über die Tugend und über das höchste Wesen, das sie philosophisch den Urquell des Lebens nennt. Sie ergeht sich in Sätzen, wie folgendem: »In dem Grade sind alle menschlichen Angelegenheiten ein Nichts, daß es, mit Ausnahme des Wesens, das durch sich selbst existirt, nichts Schönes giebt, außer Dem, was nicht ist« — sie meint unsere |50| Chimären Julie raisonnirt und deklamirt. Wie naiv und natürlich erscheint im Gegensatze zu ihr die kräftige Charlotte, z. B. in jener ersten Situation, wo sie Brot für ihre kleinen Geschwister schneidet. Wenn bei ihr Etwas über die Linie des Natürlichen hinausgeht, so sündigt sie nicht durch stelzenhafte Deklamation, sondern durch einen Anflug sentimentaler Schwärmerei, wie in der Scene, wo ihre und Werthers Gedanken sich begegnen, indem sie schweigend das Wort »Klopstock« mit ihrem Finger an die bethaute Fensterscheibe schreibt. Im Uebrigen ist in diesem Buche ein noch reineres, tieferes, genialeres Gefühl für die Naturumgebung und die Landschaft als bei Rousseau; der Unterschied in der Naturauffassung ist dadurch bedingt, daß ein großes literarisches Ereigniß in die Zwischenzeit fällt, die Herausgabe Ossian’s, welche einen so ungeheuren Eindruck machte. Es ist bekannt, wie der schottische Barde selbst das harte Herz Napoleon’s schmolz, sodaß derselbe ihn hoch über Homer stellte. Damals glaubte man noch an Ossians Echtheit, und die Zeit war noch nicht gekommen, wo man sich von diesen Dichtungen mit demselben Aerger und Widerwillen abwandte, den eine Gesellschaft empfindet, wenn sie sich in einem Garten durch die Töne einer Nachtigall zur Schwärmerei verlocken ließ und dann plötzlich im Strauchwerk einen nichtsnutzigen Jungen entdeckt, welcher die Nachtigall spielte. Der arme Macpherson war dieser Betrüger. Er hatte den Homer verdrängt. So wird |51| auch im »Werther« die gesunde homerische Naturanschauung, welche in der ersten Hälfte des Buches herrscht, allmählich von den unruhigen ossianischen Nebelbildern verdrängt, welche der steigenden Kränklichkeit, der Unruhe und Phantasterei der Leidenschaft entsprechen. Vielleicht erkennt man bereits, welchen neuen Charakterzug die Hauptfigur dadurch gewonnen hat, daß sie über den Rhein ging. Saint-Preux war noch, wie der Name schon andeutet, das ritterliche Ideal. Goethe, der Dichter der modernen Zeit, macht dem ritterlichen Ideal ein Ende. Es sei hier nur darauf hingewiesen, wie in seinen Helden alle Eigenschaften der Ritterzeit, zuerst und zuvörderst der körperliche Muth, dessen Darstellung niemals ihre Wirkung auf naive Leser verfehlt, völlig bei Seite geschoben sind. So im »Werther«, im »Wilhelm Meister«, im »Faust.« Werther ist kein Ritter, sondern ein Grübler, ein Poet, ein Phantast. Verweilen wir noch einen Augenblick bei dieser Gestalt. Werther ist ein Kranker; was fehlt ihm denn eigentlich? Er ist unruhig und fieberhaft, aber verstehen wir’s recht, seine Unruhe ist die der Ahnung, der Ungewißheit, der schlecht begrenzten und schrankenlos en Sehnsucht, aber nicht der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Er gehört einer Zeit an, welche ahnt und verkündigt, nicht einer Zeit, welche resignirt und verzweifelt. Wir werden ein Gegenstück zu ihm in Chateaubriand's René erblicken. Die Grundquelle von Werther’s Unglück ist das Mißverhältnis zwischen der |52| Unendlichkeit des Herzens und den Schranken der Gesellschaft. Zuerst waren die Helden der Literatur Fürsten und Könige, ihre Verhältnisse standen in Uebereinstimmung mit ihrer geistigen Hoheit. Der Kontrast zwischen Innerem und Aeußerem, zwischen Verlangen und Macht war unbekannt. Und selbst als die Literatur den Kreis ihrer Günstlinge erweiterte, hielt sie sich an Diejenigen, welche durch aristokratische Geburt und Reichthum hoch über die niederen Mühen und Beschwerden des Lebens gestellt waren. Goethe hat in »Wilhelm Meister« die Ursache angegeben: »Dreimal glücklich,« sagt er, »sind Diejenigen zu preisen, die ihre Geburt sogleich über die unteren Stufen der Menschheit hinaushebt, die durch jene Verhältnisse, in welchen sich manche gute Menschen die ganze Zeit ihres Lebens abängstigen, nicht durchzugehen, auch nicht einmal als Gäste darin zu verweilen brauchen. Sie sind von Geburt an gleichsam in ein Schiff gesetzt, um bei der Ueberfahrt, die wir Alle machen müssen, sich des günstigen Windes zu bedienen und den widrigen abzuwarten, anstatt daß Andere nur für ihre Person schwimmend sich abarbeiten, vom günstigen Winde wenig Vortheil genießen, und im Sturme mit bald erschöpften Kräften untergehen.« Mit beredten Worten wird hier ein einzelner Lebensvortheil, der Reichthum, gepriesen; Goethe, der oftmals in seinen Werken, so vor Allem in »Wilhelm Meister«, lediglich aus Liebe zum Schönen seine Zuflucht zu den höchsten Gesellschaftskreisen nahm, |53| hat mit Schmerz gefühlt, daß das Leben des Plebejers ein Krieg, und der traurigste von allen, ein Krieg für die Existenzmittel, ist, daß er aus Gelderwerb sinnen, beständig sich der Sparsamkeit befleißigen, und daß seine Frau seine gute Haushälterin sein muß, selbst wenn sie sonst eine Muse ist. Deshalb spricht Goethe so ungezwungen von den Vortheilen des Reichthums. Und was von diesem, von dem vulgärsten der äußerlichen Lebensgüter gilt, das gilt mit noch größerem Gewicht von allen andern äußeren Formen des Glücks und der Macht.

Jetzt beim Wechsel des Jahrhunderts stoßen wir zum ersten Mal auf diesen Widerspruch: ein Individuum, das in der Welt des Geistes wie ein Gott und ein König dasteht, das mit Allem sympathisch empfindet und durch das Gefühl das ganze Leben des Alls in sich ausnimmt, das nach der Wahrheit verlangt, aber sie nicht erreichen könnte, ohne zugleich Allwissenheit zu erreichen, in dessen Herzensforderungen der Anspruch auf Allmacht liegt, denn allmächtig müßte er sein, um die kalte, harte Welt zu einer Welt nach seinem Herzen umbilden zu können, und der zugleich — was? ist, der z. B. wie Werther ein Legationssekretair ist mit ein Paar hundert Thalern jährlichen Gehaltes, die Hälfte des Tages in seinem Komptoir, d. h. in seiner kleinen Gesellschaftsrubrik, eingesperrt, ausgeschlossen sogar von der höheren Gesellschaft, und die ganze Seligkeit seines Lebens in den Besitz eines einzigen Mädchens setzend, das ihm dann der erste, |54| beste Philister vor der Nase wegschnappt, und zwar auf solche Art, daß er selbst im Namen des Rechtes, der Moral, der Vernunft die Berechtigung dieses Philisters einräumen, ja vielleicht sogar zugeben muß, daß dieser Andere ein besserer Ehemann werden und Lotte glücklicher machen wird, als er. Was ist doch das? Paßt denn die Liebe nicht für die Che, das Individuum nicht für die Gesellschaft, das Herz nicht zum Kopfe? Herrscht ein schreckvolles Mißverhältnis in der großen Maschinerie des Seins, und ist sie im Begriff, aus den Fugen zu gehen? Bald hörte man sie krachen und bersten, als jene Zeit kam, da alle Mauern niedergebrochen und alle Formen zersprengt wurden, da alles Bestehende über den Haufen gestürzt ward, da alle Standesunterschiede mit Einem Schlage verschwanden, da die Luft mit Pulverdamps erfüllt wurde und die ersten Töne der Marseillaise erklangen, da die hundertjährigen Grenzen der Reiche verrückt und abermals verrückt, da Könige geköpft und abgesetzt, eine tausend Jahr alte Religion abgeschafft, Throne und Altäre zersplittert wurden, da ein korsikanischer Artillerie-Lieutenant sich selbst als den Erben der Revolution proklamirte, alle Bahnen dem Talente geöffnet erklärte, und da man den Sohn eines französischen Schänkwirths den Thron Neapels besteigen und einen ehemaligen Grenadier das Scepter Schwedens ergreifen und sich Norwegens bemächtigen sah.

Wie gesagt, Werther wird vom Verlangen der Ahnung und der unklaren Unruhe getrieben Ungeheure |55| Umwälzungen liegen zwischen ihm und dem nächsten modernen Typus, René. In René ist die Poesie der Ahnung von der Poesie der Enttäuschung abgelöst. An die Stelle der Unzufriedenheit vor den großen Katastrophen tritt die Unzufriedenheit nach denselben. Nach dem Ausschwunge die Niedergeschlagenheit. All’ jene gigantischen Umwälzungen haben nicht vermocht, das Verlangen des Menschenherzens und die äußeren Verhältnisse in Harmonie mit einander zu bringen. Als jene schönen Träume von Freiheit und Gleichheit waren in einer Sündfluth von Blut und Schrecken sortgeschwemmt. Der Kampf für das Menschenrecht des Individuums hatte zur brutalsten Weltdespotie geführt. So begegnen wir denn wieder dem jungen Mann des Jahrhunderts, aber wie ist er verändert! Er ist bleich, seine Stirn ist gefurcht, sein Leben ist müßig, seine Faust geballt. Ausgestoßen aus einer Gesellschaft, die er verwünscht, weil er in ihr nicht seinen Platz finden kann, sehen wir ihn allein in der neuen Welt, in den Urwäldern unter wilden Indianerstämmen umherschweisen. Ein neues Element ist in seine Seele eingezogen, das in der Werther’s nicht zu finden war: die Melancholie Werther war krank, aber nicht melancholisch; René ist verloren in eine müßige Pein, deren er nicht Herr zu werden vermag, er haßt die Menschen und sich selbst.

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