Die Emigrantenliteratur (1872)

|[31]| 1.

Betrachten wir zum Beispiel eins der Hauptwerke der reaktionären Literatur. Was das achtzehnte Jahrhundert hatte von Grund aus zerstören wollen, war mit Einem Worte das Mittelalter. Ihm war das Mittelalter nur ein anderes Wort für Barbarei und Fanatismus; als Beispiel des Schrecklichen diente ihm ein Autodafé, als Beispiel des Lächerlichen ein Kreuzzug. Daher kam es, daß man jetzt mit der ganzen Renégatenbegeisterung der Reaktion das Mittelalterliche überall wieder einführen wollte, im Staate, in der Kunst, in der Poesie und Religion. In demselben Jahre, inwelchem Napoleon das Konkordat mit dem Papste abschloß und den christlichen Kultus in Frankreich wieder einführte, veröffentlichte Chateaubriand sein großes Werk »Le génie du christianisme«, eins der ersten und reinsten Erzeugnisse der Reaktion, das, im Widerstreite mit der vom Verfasser früher, in seinem Buch über die Revolutionen, ausgesprochenen Ueberzeugung, die Wahrheit des Christenthums dadurch einleuchtend zu machen sucht, daß es die Schönheit und mittels dieser den Werth desselben für Poesie und Kunst nachweist. Chateaubriand stellt einen ausführlichen Vergleich zwischen den heidnischen |32| und den christlichen Schriftstellern an, setzt Tasso über Homer und Saint-Pierre über Theokrit, und demonstrirt, wie man spöttisch gesagt hat, auf überzeugende Weise die Verwendbarkeit der religiösen Ideen in Balletten und Pantomimen. Er ist eben so orthodox und bibelfest in der Naturlehre wie in der Aesthetik. Nichtsdestoweniger brach gerade in diesem Werke, in seinen berühmten und glänzenden Episoden »Atala« und »René,« das Neue hervor.

Bei »René« will ich verweilen und den Nachweis versuchen, daß dieser Haupttypus, welcher uns heutigen Tages auf so vielfache Weise die fremden Literaturen ins Gedächtnis ruft, französisch in seiner Abstammung und revolutionär durch seine Herkunft und seinen ganzen Charakter ist.

Das bedeutendste Werk, das Rousseau als Dichter erschaffen hat, ist »Die neue Héloise«. Es ist dies Buch, das übrigens einen entfernten Vorläufer in des Abbé Prévost trefflicher Erzählung »Manon Lescaut« und näher liegende Voraussetzungen in Richardsons englischen Romanen hat, dessen Ideen, wie vorn Winde getragene Samenkörner, sich nach Deutschland verpflanzen und »Werther« hervorruer. Die Werthergestalt wächst, erleidet eine Umbildung und wird zu »Faust«, und aufs Neue strömen jene Gedanken und Gefühle über die Grenze. Frankreichs zurück, und auf französischem Boden heißt die Fluth »René«.

|33| Was war das Neue in Rousseau’s »Héloise«? Seine Stichwörter waren Natur und Leidenschaft, Natur und Tugend. Darin liegt für uns nichts Neues. Der Stoff des Buches ist eine Liebesgeschichte, und deren hatte man in Frankreich schon viele geschrieben. Das Neue besteht zum Ersten darin, daß Rousseaus »Héloise« der Galanterie, und damit der Auffassung der Gefühle in der ganzen klassisch-oratorischen Periode, ein Ende macht. Diese Auffassung war die, daß alle edlen und zarten Gefühle, und vor Allem die Liebe, Civilisationsprodukte seien. Es liegt auf der Hand, daß eine gewisse Kultur erforderlich ist, ehe ein Gefühl wie Liebe entstehen kann. Ehe es weibliche Gewänder gab, gab es keine Frauen, sondern nur Wesen feminini generis, und ehe es Frauen gab, gab es keine Liebe. Von diesem, an sich richtigen Gedanken ausgehend, war jene Zeit, welche man das Zeitalter Ludwigs XIV. nennt, jetzt zu dem Resultate gelangt, daß Alles, was die nackte Leidenschaft verhülle, sie recht eigentlich adele und ihr Werth gebe. Je verschleierter und umschriebener, je sorglicher vorbereitet, je feiner angedeutet sie auftrat, desto minder erschien sie brutal. Die Sitten und die Literatur jener Zeit waren ja ein Produkt gesellschaftlicher Bildung, und diese Bildung erstreckte sich nur auf die höchsten Kreise.

Die Männer aus der Zeit Ludwigs XIII. waren im Eisenharnisch auf gepanzerten Rossen in Regen und Schnee auf durchweichten Berg- und Flußpfaden umher|34|getrabt. Deshalb zogen sie und ihre Söhne als sie ihre alten, abseits gelegenen Ritter- und Räuberburgen verließen, um sich nach Versailles zu begeben, einen regelmäßigen Garten dem wilden Walde, eine ausgesuchte Etikette der Sprache des Soldatenlebens, und in der Tragödie, im Roman und in der lyrischen Poesie eine geschliffene Form und civilisirte Gefühle der Natur und Leidenschaft vor. Man erreichte in diesem Bestreben einen in der Geschichte des Geistes noch nicht dagewesenen Höhepunkt. Will man ein Beispiel, so lese man einen Roman wie »Die Prinzessin von Cleve«. Es ist unmöglich, einen größeren Zartsinn und ein reineres Gefühl für den Adel der Menschennatur und die Formen, zu welchen dieser Adel verpflichtet, zu finden. Oder man nehme, um einen vollkommenen Gegensatz zur »Neuen Héloise« zu haben, Marivaux’ Theater. Während man bei dem jüngeren Crébillon die geniale und dummdreiste Frivolität jener Gesellschaft ungenirt abgemalt findet, giebt uns Marivaux ihre allerfeinste Blüthe, ihre manierirte Grazie a la Parmegianino, ihre ganze Hildung und ihren ganzen Geist so vollständig und so typisch, daß man den Charakter sofort wieder erkennt, als Alfred de Musset viele Jahre nachher in seinen kleinen Lustspielen die Schilderung wieder aufnimmt. Die Liebenden bei Marivaux sind zwei Wesen von gleicher Erziehung und, wohlgemerkt, von gleichem Stande. Wir begegnen hier nicht, wie in |35| den Lustspielen und Romanen unseres Jahrhunderts, jenen Patricierinnen, die einen Plebejer lieben, oder Gestalten wie der Lakai Ruy Blas, welcher sich der Gunst einer Königin erfreut. Verkleiden sich bei Marivaux gelegentlich einmal der Herr als Diener und das Fräulein als Kamnierkätzchen, so entdecken sie einander gleich unter der Verkleidung. Diese zwei Wesen sind ferner halb natürlich, halb künstlich; sie gleichen, wie Paul de Saint-Victor sagt, jenen Blumen, deren Säfte aus dem Schooße der Natur emporsteigen, aber deren Kelchblätter die Kunst des Gärtners durch Kreuzung mit willkürlichen Mustern verziert hat. Sie tragen keine Paradedegen, aber ihr Haar ist gepudert. Sie tragen Paradedegen, aber sie verstehen sie nicht zu gebrauchen. Ihr Gespräch ist ein beständiges Suchen und Fliehen, Avanciren und Zietiriren, lauter Anspielungen und Halbheiten, tausend Umwege, maskirte Geständnisse und unterdrückte Seufzer: ein Styl von Silber und Seide. Das Geständnis schwebt auf den Lippen dieser jungen Mädchen und Wittwen, aber es wird zurückgehalten im Augenblick, da es entschlüpfen will. Das Sehnsuchtsverlangen des Liebhabers verliert sich in ein so tiefes Respektsgefühl, daß er jeden Augenblick stockt, verlegen wird und schweigt. Die feine Dame bei Marivaux bedarf auch gar keiner ausgesprochenen Erklärung wie sie selbst sich beherrscht und sich wie eine Schauspielerin hütet, ihre Leidenschaft preiszugeben, so versteht sie ein halbes |36| Wort, ein Zittern der Stimme und wendet sich von den Superlativen der Leidenschaft, von ihrem Aufschrei und ihrer Selbstvergessenheit ab, wie von einem widerwärtigen und blutigen Schauspiel. Das Stück rückt daher halbe und ganze Stunden lang nicht von der Stelle. Diese Naturen sind für uns allzu zart und empfindsam. Sie bedünken uns wunderlich und absurd, wir sehen sie als Kuriositäten an, wie man die Mimosen unter den Pflanzen ansieht; aber die Mimosen sind nicht unnatürlich, nur eigenartig, und jene Personen sind zwar manierirt, aber nicht assektirt, denn ihr Wesen ist ihnen natürlich, und sie würden affektirt sein, wenn sie blindlings losplatzten. Das französische Wort Marivaudage beweist, daß die Manier Marivaux’ eine große Originalität besitzt. Nicht jedem manierirten Künstler gelingt es, die Sprache mit einem Wort zu bereichern, indem er ihm seinen Namen hinterläßt.

Man hat vielerlei verschiedene Anschuldigungen wider die Kunst und Poesie jenes Zeitalters gerichtet. Man hat gesagt, sie sei unvolksthümlich, folglich sei sie unmoralisch; denn in unseren Tagen ist man geneigt, diese beiden Begriffe mit einander zu verschmelzen. Aber man darf nicht vergessen, daß bisher jede ausgezeichnete Kunst in der Welt aristokratischen Ursprungs war, die, welche in Athen entstand, nicht minder als die, welche in Florenz entstand, während die großen demokratischen Gesellschaften, wie in Nordamerika, noch keinerlei Kunst hervorgebracht |37| haben. Man darf nicht in die Pedanterie verfallen, all’ diejenige Poesie zu mißachten, deren Gegensatz nothwendigerweise den Menschen unserer Zeit und unserer Gesellschaft gefallen muß. Eine andere Einwendung gegen die Kunst zur Zeit Ludwigs XV. ist die, daß sie konventionell sei. Aber deshalb ist sie nicht gering zu schätzen. Alle Kunst in der Welt ist konventionell; wenn das Konventionelle uns nicht verletzt, kommt das nur daher, weil es uns alle nahe steht, um uns zu verletzen. Das Konventionelle bei Marivaux erstreckt sich über fein ganzes Zeitalter.

Jener Zeitgeist drückt einem ganzen Jahrhundert seinen Stempel auf. Wir treffen ihn bei Mozart in einer Figur wie Zerline, die keineswegs eine Bauerndirne in Holzschuhen oder von der Art wie die Gestalten unserer norwegischen Dorfgeschichten ist, sondern kokett und allerliebst, mit hohen Schuhen und rothen Absätzen, den Schäferhut am Arme und ein leichtes Puderwölkchen um ihr Haupt. Wir treffen ihn nicht minder in Watteau’s vorzüglichen Bildern. Der Maler der ländlichen Feste, wie er genannt wurde, hat mit vollendeter Genialität die tändelnde Erotik jener Zeit verherrlicht und verewigt. Aber kehren wir, nachdem wir Zerlinens Duett gehört, nachdem wir ein Bild von Watteau betrachtet oder ein Stück von Marivaux gesehen haben, in unser Zimmer zurück und schlagen »Die neue Héloise« auf, so werden wir eine Veränderung der Sphäre empfinden.

|38| Für Rousseau ist die Galanterie lächerlich. Wie er in Allem den Naturzustand vorzieht, so auch im Erotischen, und Liebe im Naturzustande ist ihm eine unwiderstehliche, gewaltsame Leidenschaft. Wie weit sind wir hier von jenen zarten Seelenstimmnngen und zierlichen Gesten Marivaux’ entfernt, von jenen Scenen, in welchen das Knieende selbst beim Kniefall nicht eine untadelige Haltung vergaß, während er die Spitze eines Handschuhs an seine Lippen drückte! Saint-Preux, so ritterlich und so sittsam er sich beträgt, ist dagegen eine mit Leidenschaft geladene Elektrisirmaschine, eine Beute der Passion, deklamirend, gewaltsam, selbstvergessen, und jener erste Kuß im Boskette von Clarens ruft ein wahres Delirium hervor, ein Erbeben, einen Flammenzustand, als sei der Blitz herabgeschlagen, und wie Julie sich zu Saint-Preux hinbeugt und ihn küßt, schwindelt ihr auf der Stelle und sie fällt in eine Ohnmacht, die nicht wie in der Perrückenzeit eine Koketterie ist, sondern eine Folge der allüberwältigenden Macht der Leidenschaft bei dem jungen gesunden Naturkinde

Der zweite neue Zugs bei Rousseau ist der, daß Saint-Preux und Julie nicht von gleichem Stande sind. Sie ist die Tochter eines vornehmen Mannes, er ein armer Hauslehrer, ein Plebejer. Wie in »Werther’s Leiden«, ist hier mit der Liebespassion der Wille des demokratischen Plebejers gepaart, sich empor zu arbeiten. Man sieht, wie viel Recht und Unrecht Napo|39|leon hatte, als er bei seiner Begegnung mit Goethe ihm einen Vorwurf daraus machte, daß er im »Werther« die Liebesgeschichte mit dem Groll kombinirt habe, von der aristokratischen Gesellschaft ausgestoßen zu sein. Man fühlt den sichern Blick des Taktikers in diesem Tadel, aber man wird aus dem Angeführten erkennen, in wie naher Verbindung gleich von Anfang an das Auftreten der Passion in der Literatur mit dem des demokratischen Elementes gestanden hat. Mit Einem Worte, die Passion selbst ist demokratisch, die aristokratische Erotik entwickelt sich sofort zur Galanterie. Der dritte bedeutungsvolle Zug in diesem Buche ist der, daß, wie die Leidenschaft an die Stelle der Galanterie und der Standesunterschied an die Stelle der aristokratischen Kastengleichheit tritt, so auch das moralische Gefühl, ein aus sittlicher Ueberzeugung entsprungenes Hochhalten der Ehe an die Stelle jener Ehrbarkeit tritt, deren einzige Ursache ein aristokratischer Stolz, eine gewisse Selbstachtung war, die in der aristokratischen Literatur die Rolle der Tugend spielte, wenn dort sonst keine Tugend zu finden war. Dies Wort hatte bisher keinen Kurs gehabt. Es ward eine Losung für Rousseau und seine Schule, eine Losung, die mit dem andern Feldrufe »Natur« durchaus nicht in Widerspruch steht, da die Tugend eben für Rousseau ein Naturzustand ist. Man hat gesagt, in Frankreich sei der Ehebruch unter Ludwig XIII. ein Zeitvertreib, unter Ludwig XIV. eine Regel gewesen, und |40| unter der Regentschaft eine Pflicht geworden. Rousseau bot also dem Zeitgeist die Spitze, als er ein Buch zur Verherrlichung der Ehe schrieb. Freilich ist er sosehr vom Geiste seiner Zeit angesteckt, daß die Heldin des Buches zu Falle kommt; im Uebrigen aber hat das Buch die Aehnlichkeit mit »Werther«, daß auch hier der eigentliche Liebhaber des Mädchens verlustig geht, indem die Heldin mit einem »Albert« verbunden wird, der eben so untadelig wie uninteressant ist. Es ist lehrreich, einen Typus wie Wolmar aus der einen Literatur in eine andere umgebildet zu sehen, ohne daß er sein Gepräge verliert; nachdem er Albert’s Rolle im »Werther« gespielt hat, taucht er in unserer eigenen Literatur als »Edvard« im »Tagebuch des Verführers« auf.

Und dann noch ein Zug, der letzte. Die Losung »Natur« ist ganz buchstäblich aufzufassen. Zum ersten Mal tritt auf dem Festlande das eigentliche Naturgefühl im Romane auf und löst die Liebhaberei für Salons und Gärten ab. Welcher Abstand von der Scenerie bei Marivaux und Watteau!

In welche Umgebungen stellt zur Zeit Ludwigs XV. die Poesie und Malerei ihre Personen?*)*

*) Vgl. H. Hettner’s Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts.
Was man unter Ludwig XIV. in der Baukunst erstrebt hatte, war das Imponirende. Man opferte sogar jede Rücksicht auf |41| Behagen und Bequemlichkeit der kalten Prunksucht und der steifen Etikette auf. Wer das Schlafzimmer Ludwigs XIV. in Versailles gesehen hat, wird einräumen, daß ihm selten ein unleidlicher gelegenes Schlafgemach vor Augen kam. Jetzt werden die unbewohnbaren und majestätischen Säle von den »petites maisons« abgelöst, wie damals jeder Mann von Wert sie besaß, und in welchen die tändernde Konversation und der üppige Leichtsinn sich eben so gut befanden. Daher verschwinden in der Architektur die großen, einfachen Verhältnisse, die reinen und klaren Massenwirkungen. Die Härte und Schwere des Steins wird verleugnet, die Strenge der Linien gebrochen, Alles wird rund und schwellend, alle Linien werden ausschweifend und übermüthig. Der Barockstyl erreicht sowohl in der Baukunst wie in der Bildhauerkunst seinen Gipfel. Ueberall stößt man auf unendlich wiederholte Amoretten und Grazien, ganz wie aus den Kupferstichen zu Voltaire’s »Poésies fugitives«. In den Gärten umarmt der bocksfüßige Pan schlanke, weiße Nymphen am künstlichen Wasserfalle. In der Malerkunst entstehen jene ländlichen Bilder, deren entferntes Vorbild Rubens’ Liebesgarten ist, die aber statt seiner breiten Lebensluft und schweren Figuren gleichsam hingehauchte und feine Gestalten in koketten Trachten, und statt Rubens’ derber Sinnlichkeit ein erotisches Spiel, ein Liebeln Und Flüstern aufweisen, einen Hintergrund schattiger Gänge mit stillen Verstecken, mit üppigen Statuen und frischen Rasenteppichen.

|42| Unter Ludwig XIV war die ganze Tracht steif gewesen; man trug große Ueberschläge und Kragen, selbst die Rock- und Westenschöße waren gesteift, Halsfragen und Manschetten gestärkt, so daß nicht eine Falte sich verändern konnte; die unbequeme Allongeperrücke machte eine gravitätische Haltung zur Nothwendigkeit. Unter der Regentschaft war Alles auf Zwanglosigkeit und Leichtigkeit gerichtet. Das steife Futter der Schöße verschwand, an die Stelle der großen Allongeperrücke trat das gepuderte Haar, steif frisirt, so daß keine noch so hastige Bewegung es in Unordnung bringen konnte; überall in Tracht und Benehmen überließ man sich einer gewissen Nachlässigkeit. Man verweilte in Boudoirs. Wie Thee und Kaffee aus dem Orient eingeführt wurden, so auch das orientalische Sopha, welches dem jüngeren Crebillon den Titel für seine bekannteste und berüchtigtste Erzählung giebt. Der weiche Lehnsessel verdrängt den hohen, unbequemen Armstuhl mit schnurgerader Rückwand. Das Zimmergeräth besteht aus schweren Seidengardinen, welche wollüstig das Licht dämpen, aus großen Spiegeln in Goldrahmen, aus reich verzierten Pendeluhren, aus üppigen Malereien und schnörkelhaften Möbeln. Das ganze Zimmer duftet von einem wollüstigen Parfüm.

Werfen wir hienach einen Blick auf die Scenerie in der »Neuen Héloise«.

Das Standbild Rousseau’s steht heut zu Tage auf |43| einer kleinen Insel im Genfersee, dessen Südspitze sich hier in den Kanton Genf hineinbohrt. Diese Gegend ist eine der schönsten in der Welt. Geht man ein wenig jenseits der Insel über noch eine Brücke, so sieht man deutlich den Rhonefluß brausend und schäumend wie einen Trollhättafall aus dem See herausstürzen. Einige Schritt weiter, und man sieht seinen weißen Strom mit dem, grauen Schneewasser der Arve zusammentreffen. Beide Flüsse laufen neben einander hin, jeder seine Farbe bewahrend. Weit entfernt sieht man die weiße Schneekuppe des Montblanc zwischen zwei mächtigen Alpenrücken empor ragen. Gegen Abend werden diese Bergrücken dunkel, und über ihnen schimmert der Schnee des Montblanc wie bleiche Rosen. Es ist, als hätte die Natur hier all’ ihre Gegensätze vereinigt. Selbst in der mildesten Jahreszeit spürt man, wenn man sich den brausenden weißgrauen Bergströmen nähert, eine eisige Kälte. Auf einem einzigen Spaziergange fühlt man an geschützter Stelle den heißen Sommer, wenige Schritt weiter den rauhen Herbst mit schneidendem Winde. Man macht sich keine Vorstellung von der kalten und kräftigen Frische der Luft an diesem Orte. An den Süden erinnert die Sonne und das helle Blinken der Sterne in der Nacht. Es sieht aus, als schwebten sie flirrend in der Luft. Und die Luft selber erregt das Gefühl, als sei es ein schwerer, starker Körper, den man einathmet.

Fahren wir nun den See hinauf nach Vevay! |44| Hinter Vevay die Alpenhänge mit den südlich frischen Bäumen und Weingarten Diesseit des Sees die dunkelblauen riesigen Felswände, welche die Aussicht auch nach den Seeusern versperren, ernst, drohend, indeß die Sonne mit Licht und Schatten an den Bergkanten hinunter spielt. Kein See ist so blau wie der Genfersee. Fährt man an einem schönen Sommertage über denselben hin, so gleicht er blauem Atlas, welcher in Gold changirt. Dies Land ist ein Feenland, ein Traumland, wo mächtige Berge ihre schwarzblauen Schatten in ein himmelblaues Wasser werfen, von dem funkelnden Glanz einer Sonne überstrahlt, welche die Lust mit ihren Farben sättigt. Fahren wir dann den See weiter hinan bis Montreux! Das Felsennest Chillon, jener Kerker, in welchem die barbarische Grausamkeit des Mittelalters all’ ihre Marterwerkzeuge gesammelt hat, liegt draußen im Wasser. Dieser Zeuge wilder, gewaltsamer, furchtbarer Leidenschaften liegt hier in einer Natur, die man eine verzauberte nennen kann. Hier ist der See offen, der Anblick minder apart, das Klima südländischer, als bei Vevay. Man sieht gleichsam ein geheimnisvolles blaues Licht, in welchem der Himmel, die Alpen und der See zusammenschmilzen. Noch ein paar Schritte weiter nach Clarens, und wir treten in jenen Kastanienhain, welcher bis aus den heutigen Tag »das Boskett Juliens« heißt. Er liegt hoch oben auf einem Vorsprunge; von hier aus sehen wir Montreux geschützt und |45| versteckt drinnen in der Bucht liegen. Werfen wir einen Blick um uns her, und wir werden begreifen, daß von dieser Stelle aus das Naturgesühl sich über Europa verbreitete. Denn hier stehen wir in Rousseau’s Geburtsland und auf dem Schauplatz seiner »Neuen Héloise«. Es war diese Scenerie, welche die der Regentschastszeit verdrängte.

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