Man könnte »Corinna« ein Gedicht über Nationalvorurtheile nennen. Oswald repräsentirt alle diejenigen Englands, der Graf d’Erfeuil alle diejenigen Frankreichs, und gegen die Vorurtheile dieser beiden, zu jener Zeit stärksten und selbstbegnügtesten Nationen Europas kämpft Corinna mit ihrer ganzen Seele und mit aller Begeisternng ihres poetischen Gemüthes. Dieser Kampf ist kein kaltblütiger, denn Corinna’s ganzes Glück hängt davon ab, in wie fern es ihr gelingen wird, Oswald zum Aufgeben seiner angeborenen Vorurtheile so weit zu veranlassen, daß er mit einem Weibe gleich ihr glücklich werden kann, deren Leben nach jeder Richtung mit Dem in Fehde steht, was man in England als das einzig Schickliche für eine Frau betrachtet. Aber indem Corinua solchermaßen den Blick Oswald’s zu erweitern und seinen starren, beständig in die gewohnten Fugen zurückspringenden Geist geschmeidig zu machen sucht, bewerkstelligt sie zugleich die Erziehung des Lesers. Auf dem Gebiet der Gefühle setzt sie dieselbe Arbeit fort, welche wir sie auf dem Gebiet der Ideen vollbringen sahen. Sie skizzirt den ersten Grundriß zu einer Racenpsychologie, sogar in Betreff der intimsten Gefühle. Ihre |210| Landsleute versuchten damals, in der eitlen Ueberzeugung, daß sie allein die Civilisation repräsentirten, die Nationalfarbe aller anderen Länder zu verwischen. Es ist ihr daher tiefst innerlich daran gelegen, ihnen zu zeigen, daß ihre Art und Weise der Gefühlsauffassung nur eine unter vielen gleich berechtigten und zuweilen mehr berechtigten sei.
Graf d’Erfeuil ist ein meisterlich ausgeführter Typus aller französischen Tugenden im Verein mit der ganzen nationalen Leichtfertigfeit und Hohlheit. Aber da Frau von Staël selbst Protestantin ist, und da die protestanfische Geistesrichtung überhaupt fast zu allen Zeiten sich noch weit hoffährtiger und unverträglicher als die der katholischen Länder gezeigt hat, da endlich der Held des Buches ein starrer hochkirchlicher Engländer ist, so wendet der eigentliche Stachel des Buches sich gegen die ganze schwerfällige protestantische Bornirtheit.
Nehmen wir ein einzelnes Gefühl, z. B. die Liebe. Die nordische Auffassung derselben wird in Oswald’s Person geschildert. Nichts gleicht seiner ersten Verdutztheit, als er Corinna, ohne die geringste Rücksicht auf ihr Geschlecht, in Italien als Genie geliebt und bewundert werden sieht. Diese Art öffentlicher Existenz erscheint ihm für eine Frau im höchsten Grade anstößig (shocking). Er ist gewohnt, das Weib wie eine Art Hausthier zu betrachten, und vermag sich Anfangs gar nicht mit dem Gedanken zu versöhnen, daß man einer Frau das Ver|211|brechen, Genie zu besitzen, verzeihen könnte. Er fühlt sich dadurch gleichsam gedemüthigt und verletzt, sein Hochmuth begreift, daß man die eigentliche absolute Anbetung des Mannes, welche für einen rechten Englander als höchste Tugend der Gattin gilt, und welche die eheliche Sorglosigkeit sichert, von einem so freien Geiste schwerlich erwarten kann. Und als sie ihn endlich liebt und mit einer Leidenschaft liebt, im Vergleich zu welcher Alles erblaßt, was er jemals gesehen und gehört hat, und welche so uneigennützig ist, daß sie sie Alles um seinetwillen aufs Spiel setzen läßt, ohne das Mindeste zu fordern, da vergißt er sie, ihr Genie, ihren Seelenadel und ihre geistige Größe, so bald er wieder auf englischem Boden steht, von Neuem englische Nebel und Vorurtheile einathmet und ein junges unschuldiges Kind von sechzehn Jahren trifft, das wie zu einer Gattin nach englischem Recepte geschaffen ist, zugeknöpft, unwissend, unschuldig, schweigsam, die inkarnirte Familienpflicht mit blauen Augen und blondem Haar.
An einer anderen Stelle versetzt sie der französischen Auffassung der Liebe einen Hieb. Sie weist nach, wie alle zärtlichen Gefühle in Frankreich von einer krankhaften Schwäche inficirt werden, von der aus Eitelkeit entsprungenen Furcht vor dem Urtheile der Gesellschaft. Die französische Liebe ist, meint sie, fast lauter Eitelkeit. Alle Gefühle und das ganze Leben werden vom Witze, von der Lust, sich auszuzeichnen, und von |212| der Furcht regiert, welche sich durch die Frage kennzeichnen läßt: »Was wird man dazu sagen?« In diesem Punkte stimmt Frau von Staël vollständig mit einem ihr bald nachfolgenden Schriftsteller, dem scharfsinnigen und originellen Henri Beyle, überein, welcher die Franzosen als die Lebhaft-Eitlen (les vainvifs) zu bezeichnen pflegt, und welcher behauptet, all’ ihre Handlungen würden durch die Erwägung des »Qu’en dira-t-on?«, d. h. durch die Furcht vor der Lächerlichkeit, bestimmt.
Das französische Volk ist, wie das dänische, gewohnt, sehr stolz auf seinen ausgebildeten Sinn für das römische zu ssein, so stolz, daß namentlich kraft dessen die Franzosen sich bescheidentlich selbst als das geistreichste Volk der Welt bezeichnen. Corinna behauptet, es sei dieser Sinn und die entsprechende Furcht vor der Lächerlichkeit, was in Frankreich alle Originalität in Sitten, Trachten und Sprache ertödte, was die Phantasie jeder Freiheit und das Gefühl jeder natürlichen Kundgebung beraube. Alles angeborene Gefühl, aller angeborene Geist verwandle sich in Epigramme, statt in Poesie, in den Ländern, wo die Furcht, ein Gegenstand des Witzes oder Spottes zu werden, Jeden veranlasse, selbst zuerst nach dieser Waffe zu greifen. »Soll man,« wendet sie d’Erfeuil gegenüber ein, »denn beständig für Das leben, was die Gesellschaft über Einen sagt? Soll Das, was man denkt, und Das, was man fühlt, Einem denn nie |213| der Leitstern sein? Wäre es so, sollten wir immer und ewig einander gegenseitig nachahmen, weshalb ist denn Jedem eine’ Seele und ein Geist zu Theil geworden? Die Vorsehung hätte sich dann diesen Luxus ersparen können.«
Sie freut sich nun also, den nordischen Puritanerhochmuth und die französischer Eitelkeit und Lächerlichkeitsfurcht durch die ungeschminkte Natürlichkeit zu beschämen, welche das italiänische Volk selbst in seiner Erniedrigung bewahrt hat. »Wie«, fragt Oswald Corinna, als er von England spricht, »wie haben Sie jenes Heiligthum der Keuschheit und Sittlichkeit verlassen und dies gesunkene Land zu Ihrem Adoptivvaterlande machen können?« Corinna antwortet: »In diesem Lande sind wir bescheiden, weder stolz auf uns selbst wie die Engländer, noch selbstvergnügt wie die Franzosen.« Sie zeichnet mit feinen und wahren Zügen die rührende Naivetät, mit welcher das Gefühl sich in Italien kund giebt: keine steife Zurückhaltung wie in England, keine Koketterie wie in Frankreich. Das Weib will hier nur Dem, welchen sie liebt, gefallen und macht sich Nichts daraus, ob die ganze Welt es erfährt. Einer ihrer Freunde kehrt nach längerer Abwesenheit nach Rom zurück und läßt sich bei einer vornehmen Dame melden. Der Diener kommt heraus mit der Erwiderung: »Die Fürstin kann Sie jetzt nicht empfangen, sie ist bei schlechter Laune, sie ist inamorata«, zu Deutsch: »sie ist verliebt.« Sie zeigt, |214| wie schonend, wie edel das Weib in Italien beurtheilt wird, und wie es selbst in der Galanterie eine gewisse Unschuld bewahrt. Ein armes Mädchen diktirt auf öffentlicher Straße einen Brief an ihren Geliebten, und der Schreiber schreibt ihn mit größtem Ernste, jedoch nie ohne aus eigenem Antrieb all’ jene officiellen Floskeln hinzuzufügen, deren Kenntnis sein Beruf mit sich bringt. Der arme Soldat oder Arbeiter empfängt solchermaßen einen Brief, in welchem viele zärtliche Liebesbetheuerungen von Ausdrücken wie »Hochgeehrter Zeitgenosse!« und »Achtungsvoll Ihre ehrerbietige« etc. umrahmt sind. Corinna’s Schilderung ist hier vollkommen wahr. Ich habe zufällig selbst derartige Briefe gesehen. Und auf der anderen Seite ist Gelehrsamkeit bei den italiänischen Frauen nichts Ungewöhnliches. Ein Franzose, der eine kenntnisreiche Frau eine Pedantin nennt, erhält in dem Buche die Antwort: »Was ist Böses dabei, daß eine Frau Griechisch versteht?«
Es fehlt denn auch Corinna nicht der Blick dafür, daß das officielle Hervorheben von Pflicht und Moral im Norden hinsichtlich aller Fälle, wo das Gesellschaftsgesetz einmal durchbrochen ist, auf der größten Rohheit basirt. Sie weist nach, wie der Mann in England kein Versprechen und kein Verhältnis achtet, das nicht als staatsrechtlich zu Protokoll genommen ist, und wie in dem sittenstrengen England mit der Heiligkeit der Ehe, mit dem untadelhaften Leben in der Häuslichkeit die schamloseste und viehischste Prostitution Hand in Hand geht, gleichwie der persönliche Teufel dem persönlichen Gotte entspricht. Im Gegensätze hiezu bemerkt sie mit weiblicher Behutsamkeit und Schamhaftigkeit: »Die häuslichen Tugenden machen in England den Ruhm und das Glück der Frauen aus; aber wenn es Länder giebt, in welchen man Liebe außerhalb der heiligen Bande der Ehe antrifft, so gehört zu diesen Ländern das, wo man am meisten Rücksicht auf das Glück des Weibes nimmt: Italien. Die Männer haben sich dort eine Art Moral für die Verhältnisse gebildet, welche eigentlich außerhalb der Moral fallen, ein Tribunal des Herzens.« Es ist dies Tribunal, welches durch die Liebeshöfe des Mittelalters Rechtskraft erhielt, es ist dies, welches Byron so sehr frappirt, als er in Italien ein dem englischen durchaus entgegengesetztes, im Uebrigen aber vollständig ausgebildetes Moralsystem findet. Und, wie immer, sucht sie auch hier diese milderen Sitten aus die milden klimatischen Verhältnisse des Landes zurück zu führen. Sie wagt zu sagen: »Die Verirrungen des Herzens flößen hier mehr, als anderswo, ein nachsichtiges Mitgefühl ein. Sprach Jesus nicht zu Magdalene: »Ihr wird viel vergeben werden, denn sie hat viel geliebt«? Diese Worte wurden einst unter einem eben so schönen Himmel wie dem unsern gesprochen, demselben Himmel, der uns, wie damals, das göttliche Erbarmen verheißt!«
Selbst Protestantin, lehrt sie also ihre Glaubens|216|genossen den italiänischen Katholicismus verstehen: »Da der Katholicismus hier keine andere Religion zu bekämpfen hatte, hat er einen Charakter der Sanftmuth und Nachsicht wie nirgendwo anders erhalten, während dagegen der Protestantismus in England, um den Katholicismus dort zu vernichten, sich mit der größten Strenge in Grundsätzen und Moral hat wappnen müssen. Unsere Religion vermag, gleich der antiken, die Künstler zu beseelen, die Dichter zu inspiriren, und bildet, so zu sagen, einen Theil all’ unserer Lebensgenüsse, während die eurige, indem sie sich einem Lande einordnete, wo der Verstand eine viel größere Rolle als die Einbüdungskraft spielt, einen Charakter moralischer Strenge angenommen hat, den sie stets behalten wird. Die unsre spricht im Namen der Liebe, die eure im Namen der Pflicht. Obschon unsere Dogmen absolut sind, sind unsere Grundsätze liberal, und unsere absoluten Dogmen passen sich den Umständen des Lebens an, während eure religiöse Freiheit ohne irgend eine Ausnahme ihren Gesetzen Achtung erzwingt.« Sie zeigt, wie man daher in den protestantischen Ländern eine beständige Furcht vor dem Genie, vor der Ueberlegenheit des Geistes hegt. »Man thut Das mit Unrecht,« bemerkt sie, »denn diese Ueberlegenheit ist ihrem Wesen nach äußerst sittlich. Alles zu verstehen, macht sehr nachsichtsvoll, und ans tiefer Empfindungskraft geht große Güte hervor.«
»Weshalb ist das Genie ein Unglück? Weshalb hat |217| es mich verhindert, geliebt zu werden? Wird Oswald bei einer Andern mehr Geist, mehr Verständnis, mehr Zärtlichkeit finden, als bei mir? Nein, er wird weniger finden und zufrieden sein, denn er wird sich in Uebereinstimmung mit der Gesellschaft wissen. Welche lügnerische Freuden, welche eingebildete Leiden sie uns giebt! Im Angesichte der Sonne und des Sternenhimmels empfindet man nur den Drang, zu lieben und sich einander werth zu fühlen. Aber die Gesellschaft, die Gesellschaft! Wie sie das Herz verhärtet und den Geist leichtfertig macht! Wie sie nur auf Das hinleben läßt, was man uns nachreden könnte! Wie rein und leicht könnten wir athmen, wenn die Menschen sich eines Tages begegneten, Jeder von dem Drucke befreit, den Alle auf den Einzelnen üben! Wie viel’ neue Gedanken, wie viel’ wahre Gefühle würden ihnen dann erfrischend zuströmen!« — »Empfange denn meinen letzten Gruß, o mein Vaterland!« ruft Corinna in ihrem Schwanengesange zu Roms Ehren aus, und man fühlt die Bitterkeit und das Selbstgefühl der Verbannten Napoleon gegenüber in folgenden Worten: »Du freigebiges Volk, das mir den Ruhm vergönnte, aus dessen Tempeln Du die Frauen nicht verbannst, das die unsterbliche Begabung nicht einer vorübergehenden Eifersucht opfert, das dem Aufschwunge des Genius stets seinen Beifall schenkt, des Genius, der ein Sieger ist ohne Ueberwundene, ein Eroberer ohne Beute, der aus der Ewigkeit schöpft, um das Zeitliche zu bereichern!«
|218| Auf der Basis dieses Grundrisses von Gegensätzen zwischen dem katholischen und dem protestantischen Gefühlsleben erhebt sich der Gegensatz zwischen einer zwiefachen Kunstanschauung. Und auf diesem Punkte ist die Bedeutung des Buches die, einen energischen Streich wider den ganzen protestantischen Hochmuth und den künstlerischen Unverstand zu führen, welche Oswald repräsentirt, bei dem jeder Blutstropfen von englischer Nationalbornirtheit durchdrungen ist.
Inmitten dieses plastischen und musikalischen Volkes, das so gutmüthig, so kindlich so unbekümmert um seine Würde und so unmoralisch im englischen Sinne des Wortes ist, fühlt er, der so gewohnt ist, die Bedeutung des Lebens in die Erfüllung eines gewissen Inselbegriffes von Pflichten und Schicklichkeitsregeln zu setzen, sich völlig deplacirt. Ihm fehlt jeder artistische Sinn; er legt bald einen literarischen, bald einen sittlichen, bald einen religiösen Maßstab an die Kunst, fühlt sich überall abgestoßen, und kann Nichts verstehen. Er bemerkt einige Basreliefs auf den Thüren der Peterskirche. Was gleicht seiner Verwunderung, als er sieht, daß sie Scenen aus Ovid’s Metamorphosen darstellen! Das ist ja das reine Heidenthum. Corinna führt ihn in das Kolosseum, und sein einziger Eindruck ist, wie der Oehlenschläger’s, das Gefühl, auf einer ungeheuren Richtstätte zu stehen, und die sittliche Entrüstung über die Unthaten, welche hier gegen die Christen verübt wurden. Er tritt in die |219| sixtinische Kapelle, und, durchaus unerfahren in der Geschichte der Kunst, ist er im höchsten Grade empört, zu sehen daß Michel Angelo sich erdreistet hat, Gott Vater in eigner Person mit einem bestimmt begrenzten menschlichen Körper zu malen, als wäre es ein Jupiter oder ein Zeus. Er nimmt gleichfalls Aergeruis daran, daß er in Michel Angelos Propheten und Sibyllen Nichts von dem demüthigen christlichen Geiste findet, den er in einer christlichen Kapelle zu finden erwartet.
Jeder dieser verschiedenen Züge ist dem Leben abgelauscht. Italien ist, wie die südlichen Länder Europas überhaupt, eine Stätte, welche eine artistische oder, wie man bei uns zu sagen pflegt, eine ästhetische Disposition bei dem Besucher voraussetzt. Man pflegt das menschliche Leben in drei verschiedene Sphären einzutheilen, in die praktische, die theoretische und die ästhetische. Die praktische Betrachtung des Waldes ist die, ob die Gegend gesund sei, oder die forstmäßige, welche den Werth an Brennholz taxirt; die theoretische ist die des Botanikers, welche den Charakter der Vegetation wissenschaftlich studirt; die ästhetische oder artistische endlich ist die, welche nur ein Auge dafür hat, wie der Wald sich aufnimmt. Dieser letzte Sinn geht stald gänzlich ab. Er hat keine Augen, sein Verstand und seine Moral haben seine Sinne aller Frische beraubt. Deshalb vermag er nicht den Inhalt über der Form zu vergessen, deshalb erweckt die Arena des Kolosseums ihm keinen |220| andern Gedanken, als die praktisch-moralische Erinnerung an all das Blut, das hier unrechtmäßig vergossen ward. In Corinna’s Hervorheben der entgegengesetzten Betrachtungsart spüren wir den Einfluß Deutschlands, die Einwirkung ihrer Umgangsfreunde, der Brüder Schlegel, den ersten Hauch des erwachenden romantischen Geistes in Deutschland. Denn was die Romantik, wie verschiedenartig sie auch in den verschiedenen Ländern aufgefaßt wurde, beständig betont, ist der Satz, daß das Schöne nur sich selbst zum Ziele habe oder, wie man in Deutschland sagte, »Selbstzweck« sei, ein Gedanke, den man aus Kant’s »Kritik der Urtheilskraft« entnimmt, eine Bestimmung der Schönheit, welche jetzt als Aufgabe der Kunst erfaßt wird. Im Französischen wird Dies durch die Formel »1’art pour Part« ausgedrückt, und im Dänischen sehen wir diese Anschauung zum ersten Mal in Oehlenschläger’s Gedichten hervortreten, z. B. in »Die Poesie vertheidigt sich« oder in dem Gedichte »Morgenwanderung« in der »Reise auf Langeland«.
Aber nicht die Kunst allein, sondern auch die Bevölkerung und das Leben in Italien muß man, um sie zu verstehen und nach ihrem richtigen Werthe zu schätzen, mit artistischem Auge betrachten. Nichts ist gewöhnlicher, als im Süden Engländer, Deutsche oder Franzosen zu treffen, welche von ihrem nationalen Gesichtspunkte aus Alles tadeln. Die Deutschen finden, daß den Frauen die schamhafte Schüchternheit, das Jungfräuliche fehle, |221| das sie gewohnt sind, als Schönheitsideal zu betrachten. Die Engländer fühlen sich durch den Mangel an Reinlichkeit und Ordnung zurückgestoßen, die Franzosen durch die Dürftigkeit der Konversation und durch die Schlechtigkeit der Prosa.
Corinna weist daran hin, daß die weibliche Schönheit, welche in Italien nicht von einer moralischen, sondern von einer plastischen und malerischen Art ist, ein Auge erfordere, das für Farbe und Form empfänglich und nicht durch Bücherlektüre geschwächt sei. Sie stellt die italiänische Improvisation in Gegensatz zu der französischen Konversation und findet in derselben ein Aequivalent.
Ein verständiges Volk, wie die Engländer, kultivirt das Geschäftsleben und das praktische Leben, eine gefühlvolle Nation, wie die deutsche, pflegt die Musik, ein geistvoller Volksstamm, wie der französische, konversirt, d. h. bekommt seine Einfälle durch Unterhaltung und geselliges Leben mit Andern, ein phantasievolles Volk, wie die Italiäner endlich, improvisirt, d. h. steigert naturgemäß die gewöhnlichen Gefühle zur Poesie Corinna sagt: »Ich fühle mich als Dichterin, so bald mein Geist sich erhebt, so bald er in noch höherem Grade, als sonst, Eigenliebe und Niedrigkeit verachtet, kurz, so bald ich empfinde, daß eine schöne Handlung mir jetzt leicht sein würde; dann gerathen meine Verse am besten. Ich bin Dichterin, wenn ich bewundere, wenn ich verachte, wenn ich hasse, |222| nicht aus persönlichen Ursachen, sondern um der ganzen Menschheit willen.« Und sie begnügt sich nicht damit, den leichten Nachtigallengesang in Schutz zu nehmen, welcher Das ausmacht, was die Italiäner unter lyrischer Dichtung verstehen. Sie erklärt das übertriebene Gewicht, welches die italiänische Prosa auf die Form und auf den ganzen rhetorischen Prunk legt. Einmal liebe man Überhaupt die Form im Süden, sodann sei es natürlich, da man unter einem geistlichen Regiment schreibe, welches jede ernste Behandlung irgend eines Stoffes verbiete, da man also gewiß sei, durch seine Schriften keinen Einfluss auf den Gang der Dinge üben zu können, daß man schreibe, um seine Gewandtheit als Schriftsteller an den Tag zu legen, um mit seinen schönen Perioden zu glänzen, und daß der Weg das Ziel werde.
Der zweite Umstand, durch welchen sich Oswald verletzt fühlte, war Michel Angelo’s Darstellung der Gottheit und der Propheten in der sixtinischen Kapelle.
Er findet nicht in Jehovah’s kraftvoller Mannesgestalt die unsichtbare, rein geistige Macht, zu welcher der nordische Protestantismus den leidenschaftlichen Nationalgott der alten Asiaten umgewandelt hat; und wo findet man wohl in all’ diesen stolzen Männer- und Frauengestalten, mit denen Michel Angelo in seiner prometheischen Lust, »Menschen zu formen«, die Decke bevölkert hat, wo findet man in diesen trotzigen, begeisterten, verzweifelten und kämpfenden Gestalten die |223| Demuth, die Sanftmuth, welche er anzutreffen erwartete! Corinna ertheilt hier ihren Landsleuten eine Lektion, die nach so vielen Jahren auch außerhalb Frankreichs, ganz besonders außerhalb Frankreichs noth thun kann, zumal in Ländern wie dem unsrigen, wo so viel kindisches Geschwätz über christliche Kunst und christliche Aesthetik zu Markte gebracht worden ist.
Der leidenschaftliche und gewaltsame Angriff, den Sören Kierkegaard in seiner letzten Periode wider die sogenannte christliche Kunst richtete, war für einen Mann, dem, wie Kierkegaard, jede künstlerische Bildung abging, natürlich; er schiebt beständig den Malern der Renaissancezeit seine protestantische, ja seine individuelle Religionsauffassung unter, und nimmt dann Anstoß daran, daß sie, mit dieser Auffassung im Hintergrunde ihres Bewußtseins, so malen können, wie sie es thun. Er weiß, wie Oswald, nicht, daß die Maler der Renaissancezeit in einem andern Verhältnis zu ihren Stoffen stehen, als das heutige ist, daß, während der Maler unserer Zeit in seinen Gegenstand einzudringen und ihn als Archäolog, als Psychong oder als Ethnograph zu studiren sucht, der Maler der Renaissancezeit seinen Stoff hinnahm, wie er ihm vorlag, und daraus machte, was er Lust hatte, daraus zu machen, d. h. was mit seiner selbständigen und originellen Individualität überein stimmte. Hierin liegt die Erklärung Dessen, was bei den alten Meistern den nordischen Beschauer so stark |224| verwundert und verletzt. Denn gerade wie eine geringe Zahl von Stoffen, die aus der Ilias und der Odyssee entnommen waren, die ganze griechische Bildhauerkunst, Malerei und dramatische Kunst mit Vorwürfen versah (es ist immer dieselbe Geschichte von Helena und Paris, von Atreus und Thyestes oder von Iphigenia und Orest), so setzte auch ein Dutzend von Sujets aus dem alten und dem neuen Testamente (der Sündensall, Loth und seine Töchter, Christi Geburt, die Flucht nach Aegypten, die Passionsgeschichte) dreihundert Jahre hindurch alle Meißel und Pinsel Italiens in Bewegung. Nur diese Gegenstände werden bestellt, nur in ihnen ist in der eigentlich strengen Zeit das Studium des Nackten gestattet. Und während nun die Entwicklung fortschreitet, bleiben die Stoffe die selben. Der fromme und naive Glaube der alten Zeit wird von dem begeisterten Humanismus und dem freudig aufblühenden Heidenthume der Renaissancezeit abgelöst; aber noch immer malt man Madonnen und Magdalenen, nur mit dem Unterschiede, daß die steife Himmelskönigin des byzantinischen Zeitalters in ein idealisirtes Bauernkind von Albano, oder daß Andrea del Verrocchio’s schreckhaft abgezehrte, lumpenbehangene, schluchzende und spindeldürre Magdalena in Correggio’s üppiges und gesundes, lächelndes und verführerisches Mädchen verwandelt wird, dessen vorgebliche Reue noch als Koketterie erscheint, oder endlich, daß all’ jene gekreuzigten und gesteinigten Märtyrer und |225| Apostel, die aussehen, als seien sie lebendig begraben gewesen oder in Oel gekocht worden, sich in Figuren wie San Sebastian bei Giorgione oder Tizian verwandeln, in den schönen, von Gesundheit und Schönheit strahlenden Pagen oder Cicisbeo, dessen blendende Hautfarbe noch mehr durch ein Paar Blutstropfen hervorgehoben wird, die von einer, zierlich zwischen den Rippen angebrachten Pfeilspitze herabtriefen.
Oswald muß also von Corinna lernen, daß jener ganze Chor junger Heroen, die Michel Angelo’s große Deckengemälde umgeben — (Einer, welcher dem griechischen Achilles mit über dem Knie gefalteten Händen gleicht, Einer, der sich bückt, wie um einem Schlag zu entgehen, Einer, der seinen Arm wie zur Abwehr eines Streiches erhebt, Einer, der mit Macht an der durch den Bronceschild geführten Schärpe zerrt, Mehrere, die mit Anstrengung all’ ihrer Kräfte Hände und Füße wider ihren Rahmen stemmen, sich winden und gegen die Architektur der Decke strampeln), — er muß lernen, daß all’ diese Figuren, welche, schön wie die homerischen Helden, mit der Schönheit eine wildere Energie und einen noch mannhafteren Willen vereinen, gleichsam Michel Angelo’s menschgewordene Gedanken sind. Denn Michel Angelo dekorirt nicht mit Ornamenten oder mit Blumen, sondern mit Menschenleibern, und jeder seiner Gedanken nimmt die Gestalt eines leidenden Heros an, wie die Gedanken der antiken Künstler die Gestalt eines |226| glücklichen Gottes. Ein leidender Heros gilt wohl eben so Viel wie ein seliger Gott. Oswald muß jene Liberalität des italiänischen Katholicismus bewundern lernen, welche unter der Renaissance jedem Künstlergeiste gestattete, sich mit vollster Freiheit, mit ungehemmtester Originalität zu entfalten, selbst wenn der Künstler in seinen Werken ein ganz individuelles Menschenideal darstellte oder die christlichen und jüdischen Sujets als Formen, als Vorwände gebrauchte, um seine eigene, seine rein persönliche Religion darzustellen. Für die Künstler jener Zeit war die Kunst Religion, und Linien und Farben waren die Formen, unter denen sie anbeteten.
Und so gelangen wir denn zu dem dritten Umstande, welcher Oswald ein Aergernis gab, als er Ovid’s Metamorphosen auf den Thüren der Peterskirche abgebildet sah, das Aergernis der Vermischung von Christlichem und Heidnischem in der katholischen Kirche. Dieser Zug findet sich überall wieder; überall wurde das heidnische Material benutzt und beibehalten. All die alten Basiliken und Kirchen sind aus lauter antiken Tempelsäulen erbaut, ein einfaches Kreuz wandelt oberflächlich die Obelisken, das Kolosseum und das Pantheon zu christlichen Bauwerken um. Einer alten, schlechten Statue des Jupiter Stator giebt man ein Paar Schlüssel in die Hand, tauft sie zu Sankt Peter um und küßt ihr die Zehen ab; die aufgefundenen Statuen des Me|227|nander und Posidippos werden das ganze Mittelalter hindurch als Heilige angebetet. Diesem bisweilen naiven, aber stets liberalen Verhalten zum Heidnischen und zum Humanen verdankt der Katholicismus den künstlerischen Glanz, mit welchem er ewig in der Weltgeschichte strahlen wird, ein Glanz, den die künstlerischen Leistungen des Protestantismus nicht verdunkeln werden.
Man kann Neapel als Italiens Natur, Rom als Italiens alte Zeit, und Toskana als Italiens Renaissance betrachten. In Toskana wurde der Mensch nach seinem Sündenfalle, der Naturverleugnung, wiedergeboren. Hier bildeten sich die ersten italiänischen Republiken. Hier erstarkte der Mensch aufs Neue zur Willenskraft, und die Häuser schoben sich zusammen und bildeten einen kleinen, stolzen, unbezwinglich freisinnigen Staat, eine Stadt und deren Umgegend. Dann stiegen die Thürme und Thurmspitzen empor, schlank wie die Haltung eines freien Mannes, die Palläste wurden begonnen und befestigt, die Kirchen wurden vollendet, und die Kirche war ein Nationalschatz, ein Zeuge von Reichthum, Ausdauer und Kunstsinn, eine enorme Werthsache in dem Wettkampfe um den Vorzug zwischen Staat und Staat, zwischen der Stadt Siena und der Stadt Florenz, weit mehr noch als eine Wohnstätte für »unsere allerheiligste Frau«. Man that unendlich viel Mehr zur Ehre Siena’s, als zur Ehre des lieben Gottes.
Eine Kirche in Toskana ist mit ihren Mosaiken |228| aus Goldgrund, wie die zu Orvieto, oder mit ihrer Facade von weißem, durchbrochenem Marmor, welche dem Spitzengewande einer jungen Schönheit gleicht, wie die Kirche zu Siena, mit ihrer attischen und eleganten, zierlichen und zarten Form und ihrem Reichthum von Kunstschätzen im Innern, noch weit mehr ein Juwelenschrein, als eine Kirche. Erst spät lernt ein Nordländer, wie Oswald, eine Kirche als ein Kunstwerk genießen, erst spät vermag er ihre Schönheit durch alle Poren einzusaugen und, wenn die Priester die Weihrauchfässer schwingen, oder wenn die eine oder andere Opernmelodie üppig zu den Gewölben empor schallt, sich daran zu, erfreuen wie eine junge Italiänerin, die sich nirgends so amüsirt oder erfreut wie in der Kirche.
Aber dann versteht er auch, woher es kam, daß Italien während der Renaissancezeit seine große Kunst hervorbrachte. Das Italien jener Zeit nimmt das Christenthum, entkleidet es seiner Askese, seiner Schrecken, seines ganzen jüdisch-asiatischen Wesens, und schafft es um zu einer blumengeschmückten, myrrhenduftenden Mythologie, und wie Rom einst den griechischen Eros in das Kind Amor verwandelte, so verwandelt Italien jetzt zum anderen Male den erwachsenen orientalischen Gott in ein Kind; es giebt der rein geistigen Religion einen sinnlichen Körper, spannt ihn vor die Kunst und läßt ihn alle bildenden Künste im Triumphzuge durch die Welt ziehen. Der Protestantismus dagegen, |229| welcher bei nördlichen Stämmen entsteht, deren Verstand scharf ist und deren Sinne stumpfer sind, welcher sich daher auch unter keinem romanischen oder südgermanischen Volke hat ausbreiten können — denn die romanischen Völker machen ohne Uebergang den Sprung vom Katholicismus zum Humanismus, — der Protestantismus segt all’ die schönen Albanerinnen, welche ein lächelndes Kind an die Brust drückten, von seinen Altären herab unter dem Vorwande, daß es Madonnen seien, überkalkt all’ die bunten Bilder, und feiert den Triumph der kalkbestrichenen Wände. Er erweist sich machtlos, eine originale religiöse Architektur zu erzeugen, denn all’ die großen Kirchen stammen selbst in den protestantischen Ländern noch aus der katholischen Zeit. Wenn daher, wie es heut zu Tage in den romanischen Ländern geschieht, der katholische Glaube aus der katholischen Kirche entschwindet, wenn Inquisition und Fanatismus zur Sage werden, wenn das häßliche Thier im Schneckenhause stirbt, so bleibt noch die Schale, schön gewunden, zurück. Es bleiben doch prachtvolle Kirchen, Statuen, Gemälde zu Hunderttausenden übrig; es bleiben doch immer Michel Angelo’s Kapelle und Rafael’s sixtinische Madonna und Kirchen wie die Peterskirche oder wie die Dome in Mailand und Pisa. Aber wenn wir — bei aller Achtung vor Dem, was der Protestantismus als Uebergangsglied in der Geschichte des Menschengeistes für das ganze innere und sittliche Leben |230| geleistet hat, und mit Ehrfurcht vor vielen seiner Monumente, die nicht für das äußere Auge sind — wenn wir, sei es auch nur per impossibile, die Möglichkeit setzten, daß dem Protestantismus einst dasselbe Schicksal widerführe, das jetzt dem Katholicismus in Italien zu Theil wird, welche dekorative oder architektonische Sehenswürdigkeiten bleiben dann übrig? Die merkwürdigste wird ein Dintenfleck auf der Wartburg sein, die abschreckendste Sehenswürdigkeit Kirchen, so häßlich wie die Johanniskirche an der Norderbrücke zu Kopenhagen, welche dann vielleicht durch das ehrwürdige Moos des Alters verschönert sein wird.
Um dies liberale Verhältnis des Katholicismus zur Kunst näher zu erklären, welches einer der Hauptpunkte ist, zu denen Corinna bei ihren Gesprächen mit Oswald beständig zurückkehrt, führe ich ein bestimmtes Beispiel an. Ich verweile etwas bei diesem Thema, weil wir hier bei dem zweiten Hauptpunkte stehen, in welchem die Einwirkung ihres deutschen Umgangskreises auf Frau von Staël sich geltend macht, und wo wir abermals, aber diesmal stärker, das Wehen des herannahenden romantischen Geistes, mit seinem Widerwillen gegen den Protestantismus als phantasielos und kunstlos, als kalt und nüchtern, und mit seiner stets zunehmenden Vorliebe für den Katholicismus verspüren, dessen vertrauliches Verhältnis zur Kunst und Phantasie so ganz nach seinem Herzen ist.
|231| Ich nehme also als Beispiel und Beweis für meine Behauptung ein einzelnes katholisches Kunstwerk, die Markuskirche in Venedig. Wenn man sie zum ersten Mal erblickt, so stutzt man draußen einen Augenblick über ihre orientalische Facade, ihre blinkenden Kuppeln, ihre wunderlichen Bogen, die auf kurzen, über einander aufgethürmten Säulenbündeln von rothem und grünem Marmor ruhen, man wirft von der Piazza aus einen Blick auf die Außenwände mit den buntfarbigen Mosaiken auf Goldgrund, und tritt dann ein. Der erste Eindruck ist: »Was in aller Welt ist doch das? Das ist ja lauter Gold, Goldkuppeln und goldene Wände!« Die feinen Goldmosaikstifte, aus welchen der Hintergrund aller Bilder besteht, bilden eine einzige Goldfläche. Fällt ein Sonnenstrahl herab, so erzeugt er helle, schimmernde Goldflecke auf dem dunkleren Goldgrunde, und die ganze Kirche funkelt und flammt. Der vom Alter wellenförmig gewordene Strich ist aus Mosaik von rothem, grünem, weißem und schwarzem Marmor zusammengefügt. Die röthlichen Marmorsäulen haben Kapitäler von vergoldeter Bronce. Die kleinen Bogenfenster haben weißes, nicht buntfarbiges Glas; denn buntes Glas würde zu dieser Pracht nicht stimmen; es ist gut für ärmliche Kirchen. Die Säulen werden durch ungeheure, viereckige, wohl sechs Ellen dicke Pfeiler von grünlichem Marmor unterbrochen, welche vergoldete Halbbogen tragen, und jede Kuppel ruht aus vier solchen goldenen Halbbogen. Die |232| kleineren Säulen, welche die Altäre, Chöre u. s. w. tragen, sind von grünem und rothgeflecktem Marmor, zuweilen von Alabaster, und dann durchsichtig. Aller niedriger liegende Marmor ist größtentheils hochroth, z. B. alle Sitze oder Hänke, die rund um die Pfeiler und an den Seiten entlang gehen. Die ganze Kirche hat, was natürlich in dieser Stadt ist, deren Malerschule die Form so ganz der Farbe unterwirft, einen rein malerischen, keinen architektonischen Charakter. Wie sie dasteht mit ihren vergoldeten Ornamenten, ihren zierlich eingelegten Stühlen, ihren vollendet schönen Broncen, ihren goldenen Statuetten, Kandelabern und Kapitälern, gleicht San Marco einer anmuthigen, auf ihr Lager hingestreckten Haremsschönheit, schwer beladen mit Gold, Perlen und blitzenden Diamanten und mit dem reichsten Brokat, der ihr maurisches Ruhebett überdeckt.
Aber ist meinem Berichte zu trauen? Bin nicht ich es, der profane Beschauer, welcher Alles mit profanen Augen anblickt? Ist die Kunst hier nicht trotzdem nur Mittel? Ein Kritiker stellt sich selbst diese Fragen, und ich sah mich nach einer verläßlichen Antwort um, als ich gerade über dem Haupteingang der Kirche eine Inschrift, die einzige, welche vorhanden ist, entdeckte. Ich las sie mit Spannung; sie ist in lateinischer Svrache, und lautet, wie folgt: »Ubi di1igenter inspexeris artemque ac laborem Francisci et Valerii Zucati venetorum fratrum agnoveris, tum tandem |233| judicato«. Zu Deutsch: »Wenn Du all’ die Kunst und Arbeit, die wir zwei venetianischen Brüder, Franciskus und Valerius Zucatus, hier ausgeführt, aufmerksam betrachtet und geprüft hast, dann erst beurtheile uns.«
Was besagt Das? Es ist eine Warnung der Mosaikarbeiter vor übereilter Kritik. Man denke sich einen Augenblick diese Inschrift über einer protestantischen Kirche, und ziehe dann den Vergleich. So ganz, so vollständig ist eine Kirche hier als Kunstwerk aufgefaßt, daß die Inschrift über ihrem Hauptportale, statt eine Aufforderung an den Betenden, ein Gruß an den Gläubigen, ein Segensspruch oder eine Bibelstelle zu sein, eine Bitte an den Beschauer ist, mit würdigen, mit geweihten Blicken die heilige, von der Religion geheiligte Kunst zu betrachten.
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