Die Emigrantenliteratur (1872)

|234| 17.

Corinna, die kunstliebende Dichterin, nimmt daher dem protestantischen Oswald gegenüber beständig Partei für den Katholicismus. Dieser schleicht sich aus vielerlei Wegen in die Herzen hinein. Er ist so schlau, daß er Niemanden fortstößt, sondern Jedem gerade diejenige Seite seines Wesens entgegen kehrt, welche ihn ansprechen kann. Es war seine Schönheitsseite, sein nahes und warmes Verhältnis zum Phantasieleben und zur Kunst, was ihm zu Anfang dieses Jahrhunderts nach der Verstandesprosa der Aufklärungsperiode einen unerwarteten Aufschwung gab. Darum preist Corinna, wie wir gesehen haben, den italiänischen Katholicismus auch vorzugsweise um der Kunst und Phantasie willen. Indeß gefällt ihr ja zugleich, wie die Citate aus ihrem Roman uns gezeigt haben, ganz außerordentlich die moralische Nachsicht und Liberalität dieser Religion, und ihre ganze Stellung zu derselben ist versöhnlich, ja mehr als versöhnlich, sie gebraucht, wenn sie dieselbe vertheidigt, Ausdrücke, welche Anerkennung und Bewunderung verrathen. Man begreift, welche Opposition hierin versteckt liegt gegen das Frankreich des ganzen achtzehnten Jahrhunderts, das, mit Voltaire an der Spitze, den Katholicismus |235| verfolgt und verhöhnt hatte, und das ohne sonderliche Liebe für die protestantische Orthodoxie, doch stets eine merkliche Vorliebe für den Protestantismus mit seiner Unabhängigkeit von der Papstgewalt, seinen verheiratheten Predigern und seiner Abneigung wider die Askese des Mönchslebens geäußert hatte.

Dies Wohlwollen gegen die Religion war in Frankreich etwas Neues. Es schrieb sich gleichfalls von Deutschland her. Die protestantischen Länder hatten keine Ursache zu der übertriebenen Heftigkeit gehabt, mit welcher man in Frankreich Religion und Kirche angriff. Vergl. Gervinus, Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Man räumte dem Glauben und dem Aberglauben mindestens eine poetische Gültigkeit ein. Selbst Friedrich der Große, welcher sich zu Voltaire’s Apostel in Deutschland macht, schreckt vor Holbach’s Lehre zurück. In England erhob die schottische Philosophie sich wider den französischen Sensualismus, der ursprünglich von England nach Frankreich gekommen war, und in Deutschland stellt Kant seine Pflichtenlehre dem Epikuräismus gegenüber und erweckt Fichte und Schiller.

Der amerikanische Freiheitskrieg und die erste Phase der Revolution üben sichtlich überall ihren Einfluß. In Italien besingt Alfieri die amerikanische Freiheit und den Fall der Bastille, in England werden Coleridge und Southey dadurch begeistert, in Schottland Burns, |236| Campbell, Montgommery, in Deutschland endlich die ganze Schaar der Anhänger Klopstock’s und Fichte, der sich selbst als Rousseau’s Schüler bezeichnet. Ja, im Jahre 1795 gehen zwei junge Leute, deren Namen später weltberühmt werden sollten, auf ein einsames Feld hinaus und pflanzen in naiver Begeisterung für die Revolution einen Freiheitsbaum. Sie hießen Schelling und Hegel.

Aber als nun in Frankreich die religiösen und politischen Uebertreibungen eintraten, die man nach der theoretischen Ueberspannung der Literatur bei den Encyklopädisten erwarten durfte, fiel zuerst in Italien Alfieri ab; er wird Franzosenhasser und gebraucht Voltaires altes Schimpfwort gegen die Franzosen: »der Tigerasse«.

In England und Schottland steht bald der ausgeprägt konservative Walter Scott im Mittelpunkte und an der Spitze der Literatur. In Deutschland ziehen Klopstock und Schiller sich von Abscheu vor den Gräneln des Schreckensregimentes zurück. Goethe giebt seine Thätigkeit als Staatsmann auf, und während Frankreich jetzt sein literarisches Zeitalter mit einem politischen vertauscht, hat Deutschland nur Sinn für seine literarischen Interessen.

Die ganze Literaturgruppe, deren Entfaltung und Ausbildung wir verfolgt haben, entwickelt sich, obschon sie französisch ist, außerhalb Frankreichs. Zu ihrem Verständnisse ist es nöthig, sich stets den kurzen und |237| gewaltsam durchschütterten Zeitraum vor Augen zu halten, in welchem die alte Staatsordnung aufgelöst, die Legitimität in die Luft gesprengt, die herrschenden Stände zu Boden geschlagen und die positive Religion von Männern bei Seite geräumt wurde, die öfter durch eine polemische Philosophie als durch eine rein wissenschaftliche Bildung sich von ihrem Joche befreit und deshalb durch einen nicht immer ehrlichen Angriffskrieg alle Diejenigen gereizt hatten, welche klarer oder dunkler eine Ungerechtigkeit in all’ den Anschuldigungen empfanden, die wider den alten Zustand erhoben wurden, und deren geistiges und sittliches Bedürfnis, deren ganzes Gefühlsleben keine Befriedigung in dem neuen Zustande fand. Je abstrakter und unpraktischer die Humanitäts- und Fortschrittsidee sich gezeigt hatte, desto näher mußte ein Umschlag der Sympathien und Stimmungen liegen. Der Umschlag kam, die Reaktion begann. Ich habe geschildert, wie die Reaktion in ihrer ersten Gestalt nur eine bedingte war, wie revolutionäre Ideen unaufhörlich mit den Gedanken gemischt sind, die sich reagirend gegen Voltaire wenden. Der erste Zug ist nur der, daß man Rousseau’s Waffen ergreift und sie wider seinen Gegner richtet. Von Anfang an enthält die Literatur, in welcher die Reaktion zu Worte kommt, sowohl gesunde wie ungesunde Tendenzen. Ich habe mich in meiner Schilderung bestrebt, so viel, wie möglich, die gesunden Elemente der Emigrantenliteratur oder doch mindestens die Werke |238| hervorzuheben, in welchen die Reaktion noch nicht eine blinde Unterwerfung unter Autoritäten, sondern das natürliche und berechtigte Sichgeltendmachen von Gefühl, Seele, Leidenschaft und Poesie im Gegensätze zu Verstandeskälte, exakter Berechnung und einer von Regeln und todten Ueberlieferungen umschnürten Literatur ist, wie diejenige war, die unter dem Kaiserthume ihr mattes und blutloses Leben auf Frankreichs eigenem Boden führte. Chateaubriand durchbricht den Formalismus dieser stagnirenden Literatur mit der bewegten Leidenschaftlichkeit und den kräftigen, farbenreichen Naturmalereien seiner Episoden, Sénancour schreibt ein Werk, in welchem die Romantiker der späteren Zeit die Gefühle, welche sie beseelen, gleichsam vorbildlich ausgesprochen finden, Constant giebt in seiner einzigen poetischen Leistung seinem Zeitalter ein Muster psychologischer Schilderung und einen Wink, wie viele tüchtige Gefühle und Kräfte auf dem Altare der modernen Gesellschaft geopfert werden. So recht aber wird die französische Emigrantenliteratur sich ihrer Bestrebungen und ihres tüchtigen Geistes doch erst durch Frau von Staël bewußt. Die Gestalt dieser Frau beherrscht die ganze Gruppe. In ihren Schriften ist Alles gesammelt, was in der Produktion der Emigranten berechtigt und edel war: die reaktionären und revolutionären Tendenzen, welche bei den übrigen Mitgliedern der Gruppe die verschiedenartige Thätigkeit und die schriftstellerischen Lei|239|stungen derselben zersplittern, vereinigen sich bei ihr zu einem Bestreben, das weder reaktionär noch revolutionär, sondern reformatorisch ist.

Die Literatur, an welche sie sich lehnt und zu deren Schilderung ich jetzt übergehe, ist, wie ich angedeutet habe, die romantische Literatur in Deutschland. Aber die ganze Gruppe von Schriften, welcher ich die gemeinsame Benennung »Emigrantenliteratur« gab, kann als eine Art Romantik vor der Romantik bezeichnet werden, d. h. vor der romantischen Schule in Frankreich, welche sie ankündigt. Sie steht in naher Berührung mit dem germanischen Geiste, und daher kommt es, daß Frau von Staël in ihrem Buche »Ueber Deutschland« Rousseau, Bernardin de Saint-Pierre und Chateaubriand »Deutsche, ohne es zu wissen« nennt.

Aber wie seltsam mischen sich im Anfang unseres Jahrhunderts die Völker! Während diese romantischen Persönlichkeiten mit einem gewissen Rechte als Deutsche bezeichnet werden, steht die ganze Literatur, die sich mittlerweile in Deutschland entwickelt hat, in so schroffem Gegensatze zu Allem, was bisher als specifisches Kennzeichen des germanischen Geisteslebens galt, daß man sie mit Fug romantisch nennt, und »romantisch« bedeutet in Wirklichkeit »romanisch«. Die Poesie des germanischen Stammes war bei Shakspeare, bei Milton und Schiller einem Berufe gefolgt, die Welt zu richten und zu bessern. Jetzt dagegen schlug sie in Deutschland unter |240| den verzweislungsvollen und erniedrigenden politischen Verhältnissen einen Weg ein, der von der Gegenwart, von dem öffentlichen und Volksleben ablenkte.

Ueberall, wo ein praktisches Verhältnis zur chast unvermeidlich war: in der Geschichtsforschung, der Staatslehre, der Religion, griff man mit Vorliebe zu den Stoffen und Formen der Vergangenheit, besonders des Mittelalters, kehrte zu den Mystikern des vierzehnten Jahrhunderts, zur Ritterzeit und zum Katholicismus zurück. Alles nahm in der romantisch-romanischen Schule katholische und romanische Formen an. Man machte in Deutschland, nach dem Muster des spanischen Dramas, namentlich Calderon’s, Schnörkel und Formen nach, welche denen ganz gleichartig waren, die man unlängst bei dem französischen Drama verspottet und verworfen hatte. Man bekämpfte, was bei den neueren Franzosen an das alte Rom erinnerte, aber nur um das phantastische Mittelalter der romanischen Volksstämme an die Stelle ihres Alterthums zu setzen. Daher kommt es, daß die Tendenzen dieser Schule so leicht in den romanischen Ländern Eingang finden. Im Uebrigen versteht es sich von selbst, daß bald mehr und mehr das specifisch Deutsche, die Innigkeit und Schwärmerei, Alles, was seinen Quell in den Tiefen des Gemüthes hat, im Verein mit dem Unheimlichen und der Gespensterfurcht, sich einmischte und das seinem Ursprunge nach Romanische beseelte.

|241| Deutschlands große Geister theilten sich jetzt in zwei Schulen. Die eine, die fortschreitende, schloß sich an Fichte und Schiller; die andere, welche nach den großen politischen Revolutionen sich nach Frieden sehnte, die rein artistische, die nicht einräumen wollte, daß die Kunst einen Zweck außerhalb ihrer selbst habe, die mittelalterlich gesinnte und darum halb katholische, schaarte sich um Schelling und die Brüder Schlegel und huldigte Goethe, dessen Poesie mit ihrem Hasse gegen die politische Wirklichkeit, mit ihrer Natursymbolik, mit ihrer Vorliebe für die bildende Kunst und mit ihrer schließlichen Apotheose der orientalisch müßigen Träumereien des »westöstlichen Divans«, als ihr natürlicher Vorgänger und Wegweiser erschien.

Du kan slå ord fra Brandes' tekst op i ordbogen. Aktivér "ordbog" i toppen af siden for at komme i gang.